Auf Zimmer drei liegt die Sehnsucht

„Du bist aus fremden Dörfern gekommen,/hast die Sprache vergraben./ Heute liegen dort noch/Knochen toter Wörter.“ Sigune Schnabel hat Talent. Unverkennbar. „Am Wegrand sitzt dann immer/dieses fremde Kind/und wirft/mit seinen Träumen.“ Ich würde soweit gehen, zu sagen, sie ist eine begnadete Poetin.

„Fährmann, setz mich/über. Seit letztem Winter/ist meine Stimme verwitwet.“ Das Problem, das ich jetzt nicht wieder verschweigen will, liegt im Zeitgeist, der die starken Bilder der Dichterin nur als Beschwörung der dunklen, kalten Seite der Welt, des Seins goutiert. Vielleicht sogar damit manipuliert. Denn das Leben ist schön. Zumindest – auch.

Aber die Verkopften und Verstopften in den Uni-Hörsälen, den Verlagshäusern, den Redaktionsstuben wollen uns weismachen, dass das Leben schlecht sei und böse. Damit sie mit ihren akribischen Formeln, der innovativsten Technik und ihrem famosen Intellekt alles besser zu machen versprechen – um endgültig über der Welt zu stehen und die „schwülstige“ Natur restlos zu beherrschen.

„Im Regen wird mein Wort/so weich, dass ich es biegen kann.“ Ich bin traurig darüber, dass Schnabels poetische Kraft nicht auch fürs Positive, für die Schönheit gebeugt wird. Ich kenne die strahlende Seite, die frische Frühjahrskraft, die von ihrem Werk ausströmt, wenn sie vom Mai berichtet, von der pelzigen Liebe, von grüner Herrlichkeit. Doch die ist im neuen Gedichtband wieder nicht erlaubt. Ist verwelkt, verduftet. Nur die Schattierungen von Dunkelgrau bis Schwarzschwarz sind gesammelt im Buch.

In den Pappelblättern dann leuchtet eine andere Seite auf. „Jeden Tag reiche ich Tieren meine Hand/und halte nicht den Blicken stand,/halte nicht/still am Rand vor ihrem trägen Treiben.“ Schnabels Sprache klingt zeitlos, tönt erdig und himmlisch: doch die Verlage der Gegenwart lieben nur das Finstere, Schlechte, gar Abgründige. Die Moderne tötet die Poesie. „Es gibt keinen Trost,/nicht in der Höhle aus Tüchern,/nicht im Märchen,/nicht im Sand,/der sich am Rand der Zeit verfängt.“

Ich weiß nicht: ich sitze am Ufer der Tage, gelehnt an eine Blume, und sehe die gefällten Wörter vorbei treiben. Und weiß, dahinter, hinter dem Seelen-Schlamm, den Menschen-Ästen, den Fischkadavern wird sanft und blau der Strom einst schwellen, und selig in die See einmünden.

Manfred Stangl

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Auf Zimmer drei liegt die Sehnsucht: Gedichte


Genre: Lyrik
Illustrated by Geest

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