Das Archiv der Gefühle

Nach der vorausgehenden Lektüre von Orhan Pamuk, Richard Powers und Jonathan Franzen kann man den Schweizer Autor Peter Stamm mit Fug und Recht als echtes Kontrastprogramm bezeichnen. Nach Büchern mit einer blumigen bis schwülstigen Sprache, bunten und detaillierten Bildern, feinsinnig gerankten bis langatmigen Familiengeschichten und teilweise aufwühlenden Emotionen ist die Umstellung zu „Das Archiv der Gefühle“, als hänge man Pieter Bruegel den Älteren neben Mondrian.

Aber – im einen wie im anderen Fall – absolut wohltuend und bereichernd.

Stamms straffer und zielorientierter (manche sagen „spröder“) Schreibstil ist dabei absolut passend zur Thematik.

Ein wortkarger, introvertierter Einzelgänger zieht sich nicht nur aus seinem Beruf, sondern auch aus seinem gesamten sozialen Leben zurück. Nein, nicht ganz, er nimmt seinen Job als Archivar einer großen Zeitung mit nach Hause, lässt den gesamten, in den modernen digitalen Zeiten nicht mehr benötigten Aktenbestand im Keller seines Elternhauses installieren, in dem er seit dem Tod der Mutter alleine lebt. Hier fährt er fort, alles zu kategorisieren, zu protokollieren und zu katalogisieren. Nur für sich und weil er in der Struktur dieser Arbeitstage und dieser Abläufe seinen rein funktionalen Lebenssinn findet. Zeitungsausschnitt für Zeitungsausschnitt, Akte für Akte, Stunde für Stunde, Tag für Tag.

Nur eines reißt ihn bisweilen aus der Monotonie und Lethargie – die Erinnerung an seine Jugendfreundin Franziska, die er als die große Liebe seines Lebens empfindet und zu der sich im Laufe des Buches wieder vorsichtige und zarte Bande aufzubauen scheinen.

Stamms Buch ist viel komplexer als es dieser kurze Abriss und die manchmal minimalistische Schlichtheit seiner Sprache erahnen lässt. Mit wenigen Adjektiven und Attributen gelingt es Stamm, Stimmungen zu gestalten, eine differenzierte Persönlichkeit zu entwickeln, zu fesseln, zu verunsichern.

So fragt man sich früher oder später: Ist das alles noch Realität oder ist man dem Protagonisten vielleicht bereits in die paranoide Welt einer Psychose gefolgt und sitzt mit ihm gemeinsam schizoiden Visionen auf?

So ganz nebenbei zwingt Peter Stamm einen auch, sich lebensphilosophischen Grundsatzthemen zu stellen:

Ist es besser einen Traum zu konservieren, weil der Traum immer schöner ist als jede Realisierung oder kann aus einem Traum eine neue Realität erwachsen?

Zu welchen Wandlungen ist ein Mensch im Leben fähig? Kann auch aus einer Kellerassel eine sich öffnende, ins Leben zurückkehrende Kreatur werden und vice versa?

Und natürlich die Menschheitsfrage: Was ist die Definition von Liebe? Ist diese Emotion nicht im Grunde ein ganz subjektives Ich-Gefühl und völlig (oder fast) unabhängig und losgelöst vom Objekt? Ist man bisweilen vor allem in das Gefühl verliebt?

Ein schönes, anregendes, abwechslungsreiches, ruhiges, nachdenkliches, überraschendes, besonderes Buch.


Genre: Belletristik, Erzählung, Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert