Es geht uns gut

Funkelnde Diskurse

Mit dem Familienepos «Es geht uns gut» hat der österreichische Schriftsteller Arno Geiger 2005 den Deutschen Buchpreis gewonnen, «… ein Roman, der ebenso genau wie leicht vom Gewicht des Lebens spricht», wie die Jury ihre Wahl begründet hat. Aber auch die Rezensionen im Feuilleton waren überwiegend positiv. Der ironische Titel dieser drei Generationen umfassenden Geschichte deutet bereits darauf hin, dass hier mit einiger Distanz erzählt wird. Historischer Hintergrund ist die Geschichte Österreichs von 1938 bis 2001, überwiegender Handlungsort die stattliche Villa der Familie in Wien. In 21 tagebuchartigen Kapiteln wird aus jeweils einer Perspektive in klug gesetzten zeitlichen Voraus/Zurück-Sprüngen das wechselvolle Leben einer großbürgerlichen Familie gezeichnet, deren Patriarch es immerhin zum hochangesehenen Minister gebracht hat, während dessen schriftstellernder Enkel schlussendlich sich eher als lebensuntüchtiger Versager und lethargischer Träumer erweist, ein an die Buddenbrooks erinnernder, familiärer Abstieg.

Als Rahmen der Erzählung dient die Entrümpelungsaktion des erfolglosen Dichters Philipp, der von seiner Großmutter Alma die schon etwas heruntergekommene Wiener Familienvilla geerbt hat. Er hat ein Verhältnis mit der verheirateten Meteorologin Johanna, gelegentlich aber kommt es auch schon mal zu einem Quickie mit der Postbotin. Sein Großvater Richard, Sohn aus einer reichen, erzkonservativen Familie, macht als Jurist Karriere, bleibt auf Distanz zu den Nazis und wird nach dem Krieg Minister, der maßgeblichen Anteil hat an den Verhandlungen zum Staatsvertrag mit der Sowjetunion. Seine Frau Alma, die ihm zuliebe das Medizinstudium aufgegeben hat, widmet sich fortan dem Haushalt und den zwei Kindern Otto und Ingrid, sie liest gern und betreibt die Imkerei als Steckenpferd, im Garten der Villa steht ihr eigenes kleines Bienenhaus. Zwischen dem Paar kommt es zu intellektuell geradezu funkelnden ehelichen Diskursen, die aber nie eskalieren, weil Alma sich als die Klügere vorher meist zurücknimmt. Sohn Otto kommt bei Kämpfen kurz vor Kriegsende ums Leben, die Tochter Ingrid studiert Medizin und ist gegen den erbitterten Willen der Eltern mit dem erfolglosen Kleinunternehmer Peter liiert, das Verhältnis zu ihren Eltern nimmt dadurch irreparable Schäden. Trotzig heiratet sie ihn, als sie schwanger wird, und er geht denn auch prompt in Konkurs, findet später Arbeit als Verkehrsplaner und zieht nach Ingrids tragischem Unfalltod die beiden Kinder Sissi und Philipp alleine groß. Während Sissi später als Journalistin in New York lebt und kaum noch von sich hören lässt, versucht sich Philipp erfolglos als Schriftsteller. Er ist mit der ererbten Villa heillos überfordert, am Ende sitzt er hoch oben auf dem Dach: «Gleich wird Philipp auf dem Giebel seines Großelternhauses in die Welt hinausreiten», heißt es träumerisch.

Das Besondere an diesem Roman, dessen Thematik so neu ja nicht ist, sind die geistreichen und bissigen Diskussionen, die da schlagfertig ausgefochten werden. Besonders zwischen Ingrid und ihrem stockkonservativem Vater fliegen die Fetzen, sie ist trotz der finanziellen Abhängigkeit während des Studiums zu keinen Zugeständnissen bereit und kontert seine Vorhaltungen souverän. Gleiches gilt für Alma, die ihrem Mann auch keine Antwort schuldig bleibt, sich aber konzilianter verhält. Ihr grandioser innerer Monolog am Sterbebett ihres dementen Mannes ist eine geistreiche Aufarbeitung jahrzehntelanger Rücksichtnahme und Unterdrückung, – ein gelungenes Fazit des gesamten Romans.

Eheschlamassel, Alltagssorgen, die mühsame Emanzipation der eigentlichen Heldinnen Alma und Ingrid, geschickt verzahnt mit dem historischen Hintergrund, ist das wirklich Tragende bei diesem Roman. Die sympathischen Figuren und ein polyperspektivisch in Montagetechnik geradezu beiläufig erzählter, stimmiger Plot mit einer Fülle von Motiven machen diese Chronik zu einem äußerst bereichernden Lesevergnügen.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Unter der Drachenwand

Zwischen Hoffnung und Horror

In seinem jüngst erschienenen Roman «Unter der Drachenwand» hat der österreichische Schriftsteller Arno Geiger, wie schon in früheren Romanen, wieder einen Antihelden in den Mittelpunkt gestellt, einen sympathischen Drückeberger diesmal, ein in Russland im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs mittelschwer verwundeter Soldat auf Heimaturlaub. Der Autor hat im Interview erklärt, dass er den Stoff für seine Geschichte einem lange zurückliegenden Zufallsfund verdankt, der umfangreichen Korrespondenz des Lagers «Schwarzindien» am Mondsee, eine Einrichtung der NS-Kinderlandverschickung. Ausgelöst durch diesen literarischen Impuls sei aus der Trouvaille nach zehnjähriger Vorbereitungszeit dann der vorliegende Roman entstanden.

Veit Kolbe ist nach Abitur und Wehrdienst lückenlos in den Zweiten Weltkrieg hineingeschlittert, er wird 1944, im letzten Kriegsjahr, nach seinem Lazarettaufenthalt, wehruntauglich geschrieben. Weil er in Wien die stupiden Naziparolen seines Vaters nicht mehr ertragen kann, flüchtet er zu seinem Onkel, der in dem kleinen Dorf Mondsee als Gendarm eingesetzt ist. Während der Krieg seinem damals schon deutlich absehbaren Ende zusteuert, genießt er, allmählich genesend, das überschaubare, ländliche Leben in seinem idyllischen Zufluchtsort am See unter der Drachenwand. Dort entwickelt sich zwischen dem sexuell noch völlig Unerfahrenen ein Liebesverhältnis mit der im gleichen Haus wohnenden «Darmstädterin». Die verheiratete Margot ist mit ihrem Baby aus der Großstadt hierher evakuierten worden, sie hatte bei Kriegsausbruch ihren Mann überstürzt geheiratet, weil der als verheirateter Soldat mit Kind dann deutlich mehr Anspruch auf Heimaturlaub hat. Trickreich, notfalls auch durch Urkundenfälschungen, gelingt es dem immer noch an seinen Verwundungen leidenden Veit mehrfach, Atteste über seine Wehruntauglichkeit zu bekommen, er will sich den Krieg so lange vom Leibe halten wie möglich. Als überzeugter Zivilist ist der 24Jährige nach fünf Jahren als Soldat nicht nur kriegsmüde, er sieht auch keinerlei Sinn mehr in den verlustreichen Kämpfen während der Endphase des aussichtslos gewordenen Krieges.

Dieser tagebuchartige Gesellschaftsroman über die Auswirkungen eines verbrecherischen Weltkriegs aus Sicht der so genannten «kleinen Leute» wird von verschiedenen Protagonisten multiperspektivisch im Ich-Modus erzählt, teilweise in abstrahierter Briefform. Außer der Hauptfigur Veit sind dies die Mutter von Margot, die glaubhaft naiv von den verheerenden Bombenangriffen auf Darmstadt berichtet, der siebzehnjährige Kurt, der aus seiner Heimatstadt Wien über seine Gefühle und die turbulenten Ereignisse an seine nach «Schwarzindien» evakuierte Freundin Nanni schreibt, ferner ein Wiener Zahnarzt, der von seinen verzweifelten Versuchen berichtet, als Jude in Österreich und später dann in Ungarn dem Zugriff der Nazi-Schergen zu entgehen.

Die titelgebende Drachenwand am Mondsee und die beinahe täglich darüber hinweg fliegenden Bomberstaffeln der Alliierten erzeugen eine beklemmende Atmosphäre, wobei die Schilderung des Alltagslebens der verschiedenen, stimmig beschriebenen Figuren des Romans sehr realistisch wirkt, ja geradezu authentisch erscheint. Abgesehen von den wenig überzeugenden typografischen Mätzchen mit Schrägstrichen als weiterem Gliederungselement des Textes und den abrupten Erzählerwechseln, bei denen der Leser zunächst mal rätseln muss, wer denn da spricht, ist der angenehm lesbare Roman sprachlich sehr stimmig seiner Erzählzeit angepasst. Zwischen Hoffnung und Horror pendelnd endet er mit der so lange befürchteten Einberufung von Veit und seinem Weg zurück zu seiner Einheit. Es schließt sich trickreich eine, gekonnt historische Authentizität vorgaukelnde, kurze Nachbemerkung an, in der Geiger mit Autorenstimme das weitere Schicksal seiner Figuren skizziert, ein versöhnender Schluss mithin, der eigenen Spekulationen des Lesers wohltuend den Nährboden entzieht.

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Hanser

Der alte König in seinem Exil

51rWF+gDfLLDie ersten Alzheimer-Symptome können durchaus noch alltäglich sein, vorübergehender Verlust von Gedächtnis und Orientierung, aufkeimende Schrulligkeiten. Es dauert seine Zeit, bis die sichere Diagnose vorliegt und man endlich aufhört, mit der Person zu schimpfen und eigentlich die Krankheit zu meinen. Über das was dann kommt hat der österreichische Schriftsteller Arno Geiger ein sehr persönliches Buch geschrieben. Es erzählt über die Alzheimer-Erkrankung seines Vaters, darüber, wie einem geliebten Menschen, für den er immer noch viel an kindlichem Aufblick übrig hat, das geistige Navigationssystem abhanden kommt. Das Buch beginnt mit Szenen aus dem ganz alltäglichen und doch nie wieder alltäglich werdenden Umgang der beiden miteinander. Es sind Momentaufnahmen einer wegziehenden Vernunft. „Früher hatte ich auch Katzen“ entfährt es dem Vater beim Anblick einer Katze „nicht gerade für mich alleine, aber als Teilhaber“. „ Es geschehen keine Wunder aber Zeichen. Ohne Probleme ist das Leben auch nicht leichter“, lautet die Antwort auf die Frage seines Sohnes, wie es ihm geht. Solche und andere, immerhin im mittleren Stadium getane Äußerungen geraten zu Kartengrüßen aus einer ganz neuen Welt. Es ist eine Welt in der die Grundgesetze der Sachlichkeit und Zielstrebigkeit nicht mehr gelten, in der es dem Vater aber dennoch gelingt, sich über längere Zeit mit bewundernswerter Leichtigkeit zu behaupten.
Den Momentaufnahmen folgt die Chronologie. Es ist eine Abfolge von ersten, frühen Irritationen und Verstörtheiten, des Diagnoseschocks, des sich Arrangierens und schließlich des Annehmens einer Krankheit samt eines neuen Menschen. Man erfährt viel über den Vater, über das Trauma der Kriegsgefangenschaft. Er beschließt, sein ganzes restliches Leben in seinem Heimatort zu bleiben, nicht einmal Urlaubsreisen unternimmt er, um solch ein Heimweh nicht noch einmal erleben zu müssen. Tragikomischerweise kann ihn das nicht vor dem Heimweh bewahren, das ihn heimsucht, als er im fortgeschrittenen Stadium seiner Krankheit schlicht und einfach nicht mehr versteht, dass er doch im von ihm selbst erbauten Haus zu Hause ist. Man erfährt viel über die Lust seines Sohnes auf Wiederannäherung. Dazu
trägt mitunter eben auch jener skurrile Charme einer ganz eigenen Privatlogik des Vaters bei, auf die sich der Autor mit einer gewissen Neugier auch einlässt. Es ist überhaupt das Verdienst Geigers, den Krankheitsverlauf nicht als ein stetig voranschreitendes geistiges Ausbluten, sondern als ein Wechsel von lichten und dunklen, von tragikomischen und tragischen Momenten darzustellen. So mutet der Vater nicht selten wie ein leckgeschlagenes U-Boot an, dem vor dem endgültigen Absacken immer wieder unerwartete Auftauchmanöver gelingen. „Was soll ich mit dem Brot auf dem Teller?“ „Das musst du nur abbeißen“. „Wenn ich nur wüsste, wie das geht. Ich bin doch ein armer Schlucker. Es ist bei mir nichts wichtiges mehr vorhanden. Ich kann es nicht beweisen, aber das Gefühl habe ich.“ Solche und viele andere Passagen schärfen den Blick dafür, dass die Würde eines Menschen auch aus scheinbar noch so vernunftsgetrübter Ferne immer noch ergreifend herüberwinken kann.
Man merkt dem Autor den Romancier an, das Buch ist sprachlich geformt. Es ist eine intime Gefühlswelt, voller Eigendramatik, sensibler Dialoge und anreichernder Bilder. Die Melancholie wird zunehmend persönlicher, rührt sie doch von der schmerzhaften Erkenntnis der Unumkehrbarkeit her. Man mag dem Buch vorwerfen, kein Ratgeber zu sein. Dennoch, ein Gespür dafür zu entwickeln, wann Wahrheit und Korrektheit aufgegeben werden müssen, weil sie keine argumentative Schwerkraft mehr haben, wann man mit unklaren Fragen weiter als mit klaren Antworten kommt, hat durchaus was Alltagstaugliches. Zum Schluss erweist sich die Heftigkeit der Umnachtungen doch als stärker als die Kräfte der Angehörigen und der Betreuer. Der Vater kommt ins Heim.


Genre: Erfahrungen
Illustrated by Hanser