Das siebte Wien

SPRACHE UND EXIL
Der österreichische Lyriker Fritz/Frederick Brainin
Peter Paul Wiplinger

,,Nach Jahren kam, verstört, ich wieder her;
der alten Gassen manche sind nicht mehr,
der Ringturm kantig sich zum Himmel stemmt:
erst in der Heimat bin ich ewig fremd.”
Theodor Kramer – Wien, 28.11.1957
Wiedersehen mit der Heimat, GA III/590

Mit diesen Zeilen beschreibt der große österreichische Exildichter Theodor Kramer, dessen Andenken der Jugendfreund und Exilgenosse Fritz/Frederick Brainin sein literarisches Werk, den Gedichtband ,,Das siebte Wien”, widmet, die Zeichen seiner Heimkehr.

Es ist nicht ein momentanes Gefühl der Verzweiflung, das sich im letzten Satz dieser Verse manifestiert, keine psychische Überreaktion, hervorgerufen und gesteigert durch den psychischen Streß eines lang erwarteten und herbeigesehnten Wiedersehens mit der Heimat, nein, das ist zwar die poetisch-literarische, aber doch zugleich nüchterne Formulierung einer Selbstdiagnose betreffend die nicht mehr gegebene Integrationsfähigkeit augrund des Leidens an der Krankheit mit dem Namen „Exil“.

Wie jede Krankheit hat auch diese ihre Wurzeln, ihre Ursachen, ihre Bedingungen, ihren Ausbruchsort und ihre Ausbruchszeit, ihre Eigendynamik, ihre Schübe, ihre krisenhaften Höhepunkte, ihren chronischen Status, ihre Langzeitwirkung. Wie jede Krankheit hat auch diese ihre symptomatischen Begleiterscheinungen, die der Deformation im physischen und psychischen Bereich; für einen Dichter auch in dem der Sprache. Fritz/Frederick Brainin ist dafür ein Beispiel.

Was Kramer im letzten Satz seines Gedichtes oben ausspricht, zwei Monate nach seiner Rückkehr aus dem Exil und nur fünf Monate vor seinem Tod, das ist die allgemein gültige Formel, die für viele gilt, für viele österreichische Dichter, die, wenn schon nicht am Exil zugrunde gegangen, so doch letztendlich an ihm physisch, psychisch und oft auch literarisch zerbrochen sind. Neben Kramer und Brainin nenne ich hier noch die Namen zweier anderer österreichischer Exildichter: Friedrich Bergammer (Glückselig), ein Freund Brainins, gestorben 1981 im New Yorker Exil; und Alfred Gong, ebenfalls im New Yorker Exil gestorben, 1982. Und natürlich denkt man in diesem Zusammenhang vor allem auch an Joseph Roth.

Im Herbst 1988 kommt Fritz/Frederick Brainin nach 50 Jahren Exil in den USA (New York) zu einem längeren Besuch in sein Heimatland Österreich, in seine Geburtsstadt Wien. Aber kann und darf man hier wirklich das Wort ,,Heimatland” gebrauchen, kann und darf man dieses Wien mit seiner Geschichte seit 1934 wirklich noch als die ,,Vaterstadt” des Exilanten bezeichnen? Würde er dies selber tun, dies von anderen zulassen? Ist nicht dieses ,,Heimatland“, das seine Heimatlosigkeit durch Vertreibung und Exil um den Preis des Am-Leben-Bleibens verschuldet hat, nicht längst zur Fremde geworden; und er ein Fremder in ihr? Kann man eine Vaterstadt so nennen, die einen ausgestoßen, ausgewiesen, verbannt und auch nie zurückgeholt hat; die für diese und die anderen Vertreibungen, für die Ermordungen von Tausenden ihrer Mitbürger, ihrer Kinder, nie Sühne geleistet, nie den Versuch einer wenigstens symbolhaften, an jenen, bei denen es noch möglich gewesen wäre, „Wiedergutmachung“ unternommen hat, die sich nie der eigenen Wahrheit gestellt hat.? Muß man diese so schönen Worte der Bezeichnung für Herkunft nicht auf die emotionslose Angabe ,,Geburtsort“ bzw. „Geburtsland” reduzieren? Gerechterweise, für die Betroffenen und für die Verursacher, für die Täter und für die Opfer?

Wer aber ist nun dieser Fritz/Frederick Brainin? Was war sein Leben, was ist seine Literatur? Er ist ein Vertriebener, ein Verschollener, ein Heimatloser, der in einem anderen Land, auf einem anderen Kontinent für fünfzig Jahre seinen Aufenthalt gefunden hat. Er ist einer, der die Heimat verloren, weil man sie ihm weggenommen hat. Auch die ursprüngliche Heimat hat damit etwas verloren, auch sein Wien. Und seine Literatur, seine Gedichte legen davon Zeugnis ab. Zeugnis von diesem Fremdsein in der Fremde, in der Welt, und nicht zuletzt im eigenen Leben. Ausgestoßen, weil ein Ausgestoßener. Vertrieben, weil ein Vertriebener. Unberührbar, weil ein Unberührbarer. Unsicher, weil ein Verunsicherter. Ein Verstörter, weil man sein Leben in einem Maße gestört hat, daß es an Zerstörung grenzte. Ein unglücklicher, weil Unrecht unglücklich macht. Ein Entwurzelter, weil man ihn aus seinem Boden ausgerissen, von seinen Wurzeln getrennt hat. Ein Liebender, dem man seine Liebe mit Bedrohung, Vertreibung, mit Vergessen beantwortet hat. Ein Dichter, dem man die Sprache, seine Muttersprache, seine Dichtersprache genommen hat.

Dieser Dichter kommt nach Wien zurück und arbeitet hier 1988 an der Zusammenstellung seines Manuskriptes ,,Das siebte Wien”. Gibt seinem Buch den Titel mit dem Namen seiner – längst verlorenen Heimatstadt. Er legt ein literarisches Lebenswerk wie ein Vermächtnis vor, als Zeugnis für seine Verbundenheit mit dieser seiner ,,Heimatstadt” ,aber auch als Zeugnis für sein Getrenntsein, für seine Trennung von ihr, für die daraus entstandene Verwundung und Deformation. Und publiziert diesen Gedichtband mit diesem Titel sechzig Jahre später in jener Stadt, wo 1929 sein erster Gedichtband ,,Alltag“ erschienen war, mit den Gedichten, die er als Sechzehnjähriger in seiner damals wirklichen Heimatstadt Wien geschrieben hatte. Und widerlegt, vielleicht nur scheinbar, jene Erkenntnis, die er resumeehaft in der ,,Ballade von den Bronx Fiestas“, einem Gedicht aus den Jahren 1960 bis 1970, folgendermaßen formuliert:
,,Ein siebentes Wien, von dessen erstem verbleibt keine Spur!”

Was hier literarisch ausgedrückt wird, stimmt jedoch existentiell nicht, jedenfalls nicht ganz. Im Gegenteil: Ein Leben lang begleiten Fritz/Frederick Brainin diese Spuren vom ersten Wien, vom Wien seiner Kindheit und Jugend, vom Wien mit seiner Familie, seinen Freunden, seinen politisch-weltanschaulichen Bindungen, von seinen ersten literarischen Versuchen und Erfolgen. Diese Spuren durchziehen sein ganzes Leben, sein ganzes literarisches Schaffen, sein ganzes dichterisches Werk. Diese Spuren sind es, die ihn immer wieder auf dem Weg der Erinnerung zurückführen in das Einst, wie in ein vergangenes Leben. Diese Spuren – sie werden zu tiefen Furchen, die sein Leben durchziehen es prägen ihm jenes Gesicht gelebten Lebens geben. Und am Ende des Weges führen sie ihn wieder zurück. Gelebte Bitterkeit weicht in der Erinnerung und manchmal dann auch im Gedicht einer wieder aufdämmernden Wärme und Zärtlichkeit, die ihn umfängt, wenn er an dieses erste Wien denkt. Die Wehmut aus dem Wissen um den bevorstehenden Abschied mischt sich ein, mildert die Trauer, die Enttäuschung, die Verbitterung; verringert die Distanz zum Schuldpotential der Verursacherstadt, verringert seine Resignation, verkürzt die einst unüberwindbar scheinenden Abstände und Gräben zu seiner Jugendstadt. Das erste Wien, das Wien seiner Kindheit rückt in diesem Alter wieder näher mit dem zusammen, das er jetzt erlebt. Geburt und Tod, frühe Kindheit und spätes Alter, liegen nahe beisammen.

Aus einem späten Gedicht Brainins aus den Achtzigerjahren, betitelt ,,Österreich – Ein kürzliches Selbstbildnis” ist dies vielleicht zu entnehmen: ,,Seit neunundvierzig Jahren hier in New York City,/ auf meiner amerikanischen Kriegsinvalidenpension, /hab ich noch immer mitten in der Nacht den Traum,/ wo unter vielen Rot und Braun-Wandschrift-Graffiti/ ich noch immer in der Lessinggassen wohn/ (noch unrasiert den Ober-Bundesrealschülerflaum!)”

In diesen sechs Zeilen sind ganz wichtige. Schlüsselwörter enthalten, mit denen uns der Autor Fritz/Frederick Brainin den Zugang auf der Ebene der Textinterpretation zu seinem Leben und zu seinem dichterischen Werk ermöglicht. Die Wortzusammensetzung „Wandschrift-Graffiti” ist eine für Brainin typische Wortverbindung aus Deutschsprachigem und Fremdsprachigem, wobei jedes der beiden Wörter eigentlich das Gleiche bedeutet, sodaß die Zusammensetzung beider Wörter nichts anderes als eine Tautologie ergibt. Hier werden also die beiden Sprachebenen, das Deutsche und das Fremdsprachige, meist Anglo-Amerikanische, auf denen die dichterische Exilsprache beruht, die so etwas ist wie eine individuelle, künstliche Kunstsprache, die mit vielen Alltagsfloskeln aus beiden Sprachen durchsetzt ist, sichtbar. Beide Sprachebenen sind im Werk Fritz/Frederick Brainins immer wieder ineinander geschoben, durchdringen und durchsetzen das literarische Werk. Die Bewußtseinsebenen, aus denen das Gedicht entsteht, diese wiederum liegen wie die verschiedenen Schichten von mehreren Graffiti übereinander. Immer wieder wird die Schicht eines soeben fertiggestellten Graffitos durch die eines neuen ersetzt, überdeckt, wobei das Bild des vorhergehenden Graffiti jeweils verändert, übermalt, zerkratzt, perforiert und zum Teil auch zerstört wird. Den verschiedenen Zeit-, Erinnerungs- und Bewußseinsebenen – unter Einbeziehung des Unterbewußten in den künstlerischen und dialektischen Prozeß -entsprechen die verschiedenen tektonischen Schichten der übereinander gelegten Graffiti, die sich am Ende als bruchstückhaftes Gesamtbild, als ein vielschichtiges Netzwerk, aufgebaut aus einer Aktionseinheit von schöpferischer Konstruktion und Destruktion, präsentieren.

Die Worte Rot und Braun haben natürlich einen realen Sprachbezeichnungscharakter als Bezeichnung für eine Farbe, darüber hinaus aber sind sie symbolhafte Metaphern für Blut, Gewalt und Tod,, aber auch für „das Rote Wien“, für die Arbeiterbewegung und die Sozialdemokratie, der Fritz Brainin als Mitglied der Roten Falken nahestand. Und Braun steht selbstverständlich für die Nazis, für die Braunhemden, für die SA.Farben, als Metaphern für politische Richtungen und Organisationen, als Symbole für Uniformen und Fahnen, für Gedankengut und politische Einstellung.

Und dann ist da noch das Wort „Traum“. Ein solcher Traum, von dem Brainin hier spricht, ein solcher Traum, den es ,,noch immer mitten in der Nacht…seit neunundvierzig Jahren…in New York…“ gibt, in dem eine über ein halbes Jahrhundert sich erstreckende Erinnerung gespeichert ist, die im Traum deutlich sichtbar und erlebbar wird, ein solcher Traum hat auch etwas mit dem Wort des gleichen Wortstammes zu tun, nämlich mit dem Wort „Trauma“. Laut Duden ein Begriff für Verletzung, Verwundung, Wunde,, seelischer Schock, starke psychische Erschütterung, Verletzung durch äußere Gewalteinwirkung.

Ein Traumbild also, in dem unter vielen Schreckensbildern, die wie Graffiti in verschiedenen tektonischen Schichten, aber nicht deckungsgleich, übereinander lagern, das Bild der Kindheit und Jugend in Wien in der Lessinggasse bruchstückhaft hervorleuchtet, als Spur vom ersten Wien. Ein Traumbild als Widerspiegelung des Bewußtseins: Das eigene, ursprüngliche, jetzt verletzte und zum Teil zerstörte Selbstbildnis, wie es im Titel des Gedichtes heißt.

Was war das für ein Wien, an das sich Brainin im Traum erinnert? Wie war dieses Wien, wie war die Leopoldstadt damals, dieses Viertel, das ,,Mazzesinsel” genannt wurde? War es ein Ort inmitten der ,,Insel der Seeligen”, um diese verlogene Österreichbezeichnung, diesen Inbegriff selbstgefälligen Selbstbetruges anzuführen, dessen Wurzeln in der Verdrängung und Verfälschung der Wirklichkeit liegen, gerade auch in der heutigen Gesellschaft und Zeit?

Am 22. August 1913 wird Fritz Brainin in ein Wien der zu Ende gehenden Österreichisch-Ungarischen Donaumonarchie hineingeboren. Sein Vater, aus Litauen stammend, Schüler des Bildhauers Anton Hanak, nimmt am Ersten Weltkrieg teil, wird verwundet, kehrt 1919 aus der italienischen Kriegsgefangenschaft endlich heim, wird ein kleiner Beamter im Heeresministerium. Also schon von Anfang an war die Kindheit überschattet durch unruhige Verhältnisse in der Familie, durch Krieg, durch den großen politischen und gesellschaftlichen Umbruch nach dem ersten Weltkrieg. Brainin verbringt die Jahre 1914-1919 mit seinem älteren Bruder Max und seiner Mutter bei den Großeltern. in Leipnik in Mähren. Fritz absolviert seine Schulpflicht in Wien, besucht die Realschule in der Vereinsgasse, gleich um die Ecke von der Lessinggasse. Sein Bruder und sein Freund und dichterischer Mentor, Theodor Kramer, sind einige Klassen vor ihm. Später erinnert er sich noch immer an die ,,bösartige Traumatik” (Gedicht: Ein kürzliches Selbstbildnis), die ihn mit diesem pädagogischen Institut verband. 193l legt er dort die Matura ab und beginnt anschließend ein Studium der Philosophie an der Universität Wien, das er jedoch 1932 wieder abbricht. Schon in der Realschule ist er Mitglied bei den Roten Falken, hat Kontakt zur Jugendberatungsstelle Viktor Frankls, der nicht weit entfernt, jenseits der Praterstraße in der Czerningasse wohnt, und zur ,,Gruppe der Jungen”, der auch Hermann Hakel, Fritz Hochwälder und Richard Thieberger angehören. Aus dieser Zeit stammt auch seine Freundschaft mit dem anderen österreichischen Exildichter Friedrich Bergammer, der mit seinem Familiennamen eigentlich Glückselig heißt. Unter dem Einfluß von Frankl und dessen Freund, dem Verleger Erwin von Barth-Wehrenalb, beginnt Brainin schon früh zu schreiben, erreicht schon früh eine erstaunliche Fertigkeit und eine große Reife in seinen Gedichten, die natürlich noch an großen Vorbildern (Brecht, Tucholsky, Kästner) und den herrschenden literarischen Strömungen (Spätexpressionismus, Balladenform des genrehaften Arbeitergedichtes) orientiert waren. Und doch erreicht er schon früh, mit sechzehn Jahren schon, eine starke persönliche Aussagekraft und eine literarische Gestaltungsform, wie dies das wunderschöne Liebesgedicht ,,Hauptallee”, eines der schönsten Liebesgedichte der deutschen Literatur, beweist, das er als etwa Zwanzigjähriger schrieb. Hier dieses Gedicht.

Hauptallee, an Thea S.

Kühl wirds auf der Bank. Rück nah. Dein Kleid ist dünn.-
Liebst du so wie ich den Herbst in dieser Stadt?-
Leichter gibt sich seiner Traurigkeit hier hin,-
wenn die Nacht wächst und die Tage kürzer glühn,-
einer, der wie ich jetzt keine Arbeit hat, Geliebte.

Lass dein Haar an meiner Wange ruhn, es riecht
so herb wie eine Wiese im Oktoberdunst.
Die Autos hupen fern; uns trifft kein Bogenlicht.
Mit meinen Lippen nur begreif ich dein Gesicht –
und das Sein trotzalledem als eine Gunst,
Geliebte.

Dieses Gedicht atmet noch ,,trotzalledem“ eine ergreifende, unbeschreibliche Geborgenheit aus, die noch nicht erschüttert ist von den umliegenden und später noch kommenden Ereignissen, die dann das Weltbild Brainins erschüttern, destabilisieren und das Ich- und Seinsgefühl traumatisieren und brüchig werden lassen. Gerade in der Hinwendung zu einem geliebten Du, in einer noch so jugendlichen, aber doch schon reifen Liebesbeziehung, mag der Autor eines solchen Gedichtes noch die tragfähige Brücke über die schon sich auftuenden Gräben, über den wenig später aufbrechenden Abgrund, gesehen und erlebt haben. Dieses Gedicht ist noch getragen und gezeichnet von einem Gefühl der Hoffnung und Zuversicht; als ob die Liebe etwas sei, sie allein, die den Abgrund überspannen und überwinden könnte. Aber die Gewalt spricht eine andere Sprache. Und die Gewalt ist es, die zerstört, die alles zerstören wird. auch das Urvertrauen in die Unverletztbarkeit der eigenen, ja überhaupt der menschlichen Existenz. Von dieser Zerstörung werden die anderen Gedichte Brainins, die aus den nächsten fünfzig Jahren, dann sprechen; exemplarisch und als Paradigma anhand seiner physischen, psychischen. intellektuellen und literarischen Existenz. Das ist das Zeichen seiner Exilliteratur, in der Sprache des Exils: Das literarische Zeugnis vom Zerbrechen einer ursprünglich vorhandenen und gegebenen Einheit und Unverletztheit seines Persönlichkeits- und seines Weltbildes.

Noch einmal ein Blick zurück auf das Wien der Zwanziger- und Dreißigerjahre. Es ist die Zeit des großen Umbruchs nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, in der alle bisherigen Ordnungen sich aufgelöst hatten und keine tragfähigen Neuordnungen gefunden und aufgebaut werden konnten. Es ist ein Wien voller Flüchtlinge aus dem Osten, ein Wien voller Armut und Not, aber auch ein Wien, in dem neue solzialpolitische Ideen große Hoffnungen wecken, auch zu berechtigen. 1919 flüchten über 350.000 Menschen aus den ehemaligen Ost- und Südostgebieten nach Westen, darunter viele Juden. 25.000 Ostjuden, alle die Ärmsten der Armen, siedeln sich in Wien, in der Leopoldstadt, in der Mazzesinsel an; womit die Zahl der Juden in der Leopoldstadt auf über 60.000 ansteigt: Jeder zweite Leopoldstädter ist ein Jude. Insgesamt gibt es in Wien an die 120.000 Juden, jüdische Mitbürger, wie es seit dem Toleranzpatent Kaiser Joseph II. sprachamtlich heißt. Über 120 jüdische Vereine regeln das Alltagsleben der Juden in Wien. Das Ansteigen der jüdischen Bevölkerung steigert auch – provoziert durch die Hetzpropaganda der Deutschnationalen und der Christlichsozialen und durch gezielte antijüdische Aktionen wie die vom ,,Deutschösterreichischen Schutzverein Antisemitenbund”, der Progromaufrufe in der Leopoldstadt verteilt, den Antisemitismus unter der nicht-jüdischen Bevölkerung, sowohl in der Leopoldstadt als auch im gesamten Wien, sowie überhaupt in Österreich. Keine politische Partei, auch nicht die Sozialdemokraten, keine kirchlichen oder sonstige Organisationen treten offen und geschlossen gegen den aufflammenden Antisemitismus auf. Seit 1925 agieren Nazis und andere Völkische gemeinsam gegen die Juden. 1929 wird von ihnen das Café Produktenbörse überfallen, die Einrichtung wird zertrümmert, die Juden werden mit Gewalt bedroht. 1932 stürmen sie am jüdischen Neujahrsfest das provisorische jüdische Bethaus im Café Sperl in der Großen Sperlgasse und schlagen auf die Betenden mit Stahlruten ein (Ruth Beckermann in „Die Mazzesinsel“, Seite 20). Und die Menge schaut zu. Den Tätern passiert nichts. Es ist wie eine Generalprobe zur Reichskristallnacht am 9. November 1938, in der alle Synagogen und jüdischen Geschäfte zerstört und die jüdischen Mitbürger mißhandelt wurden; voll Zynismus, voll Verachtung, voll Haß, mit Gewalt.

Eine Anmerkung zum sozialen Hintergrund dieser Zeit, die nichts entschuldigt, sondern nur veranschaulichen soll, auf welchem Boden und vor welchem Hintergrund sich diese Ereignisse abspielen. 1925 gewinnen die italienischen Faschisten die Wahl mit 65% Mehrheit. Mit dem ,,Schwarzen Freitag” an der New Yorker Börse beginnt 1929 die Weltwirtschaftskrise mit der Folge einer ungeheuren Inflation in ganz Europa und ca. 30% Arbeitslosen und Ausgesteuerten in Deutschland und in Österreich. Zwischen 1929 und 1937 begehen allein in Wien 27.000 Menschen Selbstmord, weil ihnen ihre Lage unerträglich und ausweglos erscheint. Hoffnung für viele und die breite Masse ist der Kommunismus, ist auch die Sozialdemokratie, ist die nationale Bewegung, die 1934 in Österreich zur Diktatur, zum Bürgerkrieg, zum Ständestaat führt. Und vor allem die erstarkende die Nationalsozialistische Partei, die 1932 in Deutschland stimmenstärkste Partei wird, 1933 an die Macht kommt und mit Zustimmung des Reichstages zum ,,Ermächtigungsgesetz” die Parteidiktatur der NSDAP mit ihren Organisationen einführt. 1938 kommt es zum Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich, unter dem frenetischen Jubel der Mehrheit der Österreicher. Darauf folgen sogleich die planmäßigen Verhaftungen und Deportationen in die Konzentrationslager, folgt die systematischen Judenverfolgung, folgt die Ermordungen der Juden sowie der Roma und Sinti und anderer Menschen im Holocaust. Insgesamt eine Ausrottung und Auslöschung von über sechs Millionen Menschenleben, was heute noch viele Zeitgenossen leugnen. Der Neonazismus erblüht zu neuem Leben. Und wird noch da und dort geschützt.

Zurück zu Brainin! Am 1. Juli 1938 verläßt Fritz Brainin, zum Exil gezwungen um den Preis, am Leben zu bleiben, seine Vaterstadt Wien, sein Heimatland Österreich, das aufgehört hatte, für ihn und für viele noch Heimat zu sein. Damit endete nicht nur ein Lebensabschnitt für ihn und seine so hoffnungsvoll begonnene literarische Karriere. Im Jahr 1929 war sein erster Gedichtband „Alltag“ erschienen, dem 1934 noch sein Gedichtband „Die eherne Lyra“ ,folgte, was seinen Namen nicht nur in literarischen Kreisen, sondern durch die Veröffentlichung seiner Gedichte in der Arbeiterzeitung auch einem breiteren Publikum bekannt machte, sodaß er 1936 seinen ersten und einzigen Literaturpreis, den „Julius-Reich-Preis“, zugesprochen erhielt. Die Emigration ins Exil war für ihn der Beginn eines zweiten Lebens, einer anderen Existenz, die – ein halbes Jahrhundert dauernd – mit seinem ersten Leben in Wien nichts mehr gemeinsam hatte, ihn von seinem eigenen Ursprung und auch von seiner ersten und eigentlichen Literatursprache für ein ganzes weiteres Leben trennte.

In dieser zwanghaften Vertreibung, in dieser erzwungenen Emigration, in diesem Begreifen des plötzlich Ausgesetzseins, des Vogelfreiseins, des Andersseins, des Nicht-mehr-Dazugehörens, des Mit-dem-Tode-Bedrohtseins, liegt der ganze gewaltige Schock, das Trauma seines Lebens, von dem er stigmatisiert wird und stigmatisiert bleibt, sein Leben lang. Sein weiteres literarisches Schaffen – in der ersten Zeit der Emigration schreibt er noch in seiner Muttersprache Deutsch, später, als aus der als vorübergehend gedachten Emigration längst ein lebenslanges Exil geworden war, schreibt er in Anglo-Amerikanisch – und die Sprache der Literatur erweisen sich nicht als die therapeutisch geeigneten Instrumente, diesem schweren Trauma beizukommen, es mit Hilfe der Literatur zu überwinden. Je länger die Emigration, das Exil dauert, insbesondere nach 1945, da vielleicht eine Rückkehr nach Österreich wieder möglich gewesen wäre, ihm aber nicht mehr möglich war oder möglich schien, ihm wie so vielen anderen Exilanten auch nicht möglich gemacht wurde, umso tiefer versinkt er in dieses Trauma, immer mehr wird er sein eigener Gefangener, immer mehr – und dies in ,,Schüben” – erfolgt eine Deformierung und Destabilisierung seiner psychischen Existenz, was sich auch in seinem literarischen Schaffen abzeichnet. Immer größer und bedrohlicher wird die Brüchigkeit seiner inneren Lebensgrundlage, immer deutlicher und schmerzhafter, auch für ihn spürbar, ablesbar wiederum am Stil und Sprachgestus seiner Gedichte. Der äußere Zwang erzeugt inneren Zwang, Beklemmung. Zwangsreime und Klammernsetzung sind Zeichen dafür, nicht für einen literarischen Manierismus. Aus Brainin und seinen Gedichten spricht das Gefühl in der Sprache des Vertriebenen, des Entwurzelten, des Ausgestoßenen, des Heimatlosen, des Verbannten; eben genau die Sprache des Exils. Sich selbst als physische Person vermochte er zu retten, seine ursprüngliche Sprache nicht.

Weitere Stationen seines Lebensweges: Von 1939 bis 1942 arbeitet er als Kabelbote bei verschiedenen deutsch-amerikanischen Zeitungen. 1943 wird er zum amerikanischen Militär eingezogen, bewacht österreichische Kriegsgefangene. Eine schwere Krankheit, welcher Art geht aus keinen Aufzeichnungen hervor, bringt eine neue Krise, einen neuen „Schub” an psychischer Destabilisation; bedingt sein Ausscheiden aus der Armee 1945. Die ersten Nachkriegsjahre verbringt er im Kiegsveteranen-Krankenhaus im New Yorker Stadtteil Bronx. 1949 heiratet er die gebürtige Russin Florence Priluk, 1959 kommt ihr Sohn Perry Isak zur Welt. Die Familie übersiedelt im gleichen Jahr in einen New Yorker Gemeindebau für Kriegsverletzte, Brainin arbeitet in den nächsten Jahrzehnten als Patentübersetzer im technischen Bereich und als Redakteur. Gleichzeitig schreibt er Gedichte und Prosa in englischer bzw. amerikanischer Sprache, übernimmt mit der neuen Sprache, die er als nunmehrige zweite Literatursprache für sich adaptiert, auch deren Sprachduktus und Sprachgestus, was sich später, als er wieder zum Deutschen als Literatursprache zurückkehrt, in einer Anhäufung von Amerikanismen und gängigen Kürzeln niederschlägt, ein literarisches Sprachgebilde erzeugt, das oft so sehr verklausuliert und mit Chiffren durchsetzt ist, daß der verschlüsselte Sinn und die Bedeutung oft nur mehr ,,Eingeweihten” zugänglich ist. Fast so etwas wie eine reine Ich-Sprache, eine geheime Tagebuchsprache entsteht: die Exilsprache Frederick Brainins. Eine neue literarische Gattung, eine neue ,spezifische Form innerhalb der Lyrik scheint entstanden zu sein, eine die mit anderen Kriterien der Ästhetik und Formalkritik behandelt werden muß, als man sonst gewohnt ist und dies tut, und die sonst üblich sind in der Wissenschaftsmethode der Germanistik. Um die Literatur Frederick Brainins verstehen, beurteilen und bewerten zu können, muß man sein Leben, seinen Lebensbruch, sein Bruchleben verstehen, es richtig einordnen, auch wertschätzen, wenn man es würdigen will.

Äußerlich scheint in diesen dreißig Jahren, von 1950 bis 1980, alles soweit in Ordnung zu sein, soweit man mit solchen Beurteilungsbegriffen überhaupt operieren kann und darf. Ein zweites Leben scheint über das erste drübergelegt zu sein, es zu überdecken, die Wunden zu Verschleißen. So etwas wie eine künstlich-technische Stabilisierung scheint dem Leben Brainins Halt zu geben, es zu umschließen, vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren.

Bis der nächste große, schwere Schock kommt: Durch einen tragischen persönlichen Schicksalsschlag. Am 3.6.1981 wird sein Sohn Perry Isak von einem ,,faschistisch angehauchten” (Thunecke) Puertorikaner, der Hitlers „Mein Kampf“ in einer Übersetzung ins Amerikanische gelesen hatte (Konstantin Kaiser), in seinem Studio in Brookly ermordet. Die Folge: Brainins Frau wird wahnsinnig, wird als unheilbar krank in eine Heilanstalt eingeliefert, verbleibt für immer dort. Das ist der dritte große Schock, nach dem ersten der Zwangsvertreibung aus Wien und dem zweiten nach seiner schweren Erkrankung, den er erleidet und der ihn wahrscheinlich an einer Rückkehr nach Österreich gehindert hat, sodaß er ein Exilant auf Lebenszeit geworden ist. Jetzt bricht auch die mühsam aufgebaute zweite Welt zusammen. Brainin ist wieder ein Zurückgebliebener, ein Ausgesetzter, zum zweiten Mal ein Heimatloser. So etwas wie ein inneres Exil beginnt für ihn. Er zieht sich zurück, in ein kleines Jungesellen-Apartment im 18. Stock eines modernen Hochhauses in New York (Thunecke). Er wird isoliert, isoliert sich selbst und vereinsamt.

Seine Gedichte, die er nun wieder in Deutsch schreibt oder die er aus dem Amerikanischen rückübersetzt, weisen jetzt nicht nur zwei verschiedene Sprachebenen auf, sondern auch zwei divergente Mitteilungsebenen. Immer wieder geschieht es, daß er neben der im Gedicht publizierten „offiziellen Mitteilung“, nun in Klammern gesetzt und angefügt, noch ,,private” Anmerkungen dazugibt, ganz als wolle er irgendeinem Vertrauten, dem einzigen, den er noch hat, nämlich sich selber, oder einem unbekannten Leser, das geschilderte Geschehen auf einer ganz persönlicher Basis erläutern. Die Ich-Identität des Autors bricht auseinander in zwei verschiedene Worte-Verwender und Sprecher. Der Zweite interpretiert – und ironisierend, oft aus einem Gefühl der Bitterkeit heraus, ja der Verbitterung, und aus einer Haltung zwanghafter Vertraulichkeit die Aussage des literarischen Autors durch eine persönliche Aussage des privaten Ichs. Die künstliche, oft krampfhaft wirkende Distanz zum Geschehen und seiner Schilderung, die in den vorherigen Zeilen vom literarischen Ich des Autors aufgebaut werden, wird wie in einem verzweifelten und somit aussichtslosen Versuch des persönlichen Ichs des Autors zu einem letzten personalen Mitteilungsgespräch wieder aufgehoben und eliminiert. Die Brücke vom Ich zum Du, auch die im Gedicht, ist nicht mehr tragfähig, nicht mehr wirklich begehbar; das spürt auch Brainin.

,,Doch einmal im Herbstlicht (ihr Kinder werdet schon sehn!)
wann ihr stoppt für einen Alten wie mich,
da steh ich wartend (ihr drosselt und hupt zehn
Mal!) auf Godot wie ein dummes Viech,
das nichts von Geheimnis-Labors braucht zu verstehn:
Er stoppt, GANZ STOPP, bei der Verkehrskleeblatt-Kurv,
für mich allein, seinen Passagier….
Das Gridlock senkrecht hinauf durchbricht er für mich!
Er lächelt, und meint meinen Zeitmaschinen-Entwurf,
wir fliegen nach Viennas Hauptquartier.”

(VIENTIANE, LAOS; Vienna, Virginia, 2, S.110)

Im Herbst 1988 kommt Brainin wieder nach Wien, nur zu Besuch, um an der Zusammenstellung des Manuskriptes für sein nun vorliegendes Buch „Das siebte Wien“ zu arbeiten.

Was ist das für ein Wien, was ist das für ein Österreich, in das er, wenn auch nur für kurze Zeit, zurückkehrt? Welche Erfahrungen macht er hier, wie schlagen sie sich, wenn überhaupt, literarisch nieder? Wie wissen es nicht.

Im Herbst des gleichen Jahres, als er hier weilt, gibt es einen Vorfall, der keinen Aufschrei der breiten österreichischen Öffentlichkeit hervorruft, sondern nur zum Rücktritt des betreffenden, aber nicht betroffenen Parteifunktionärs als Parteisekretär der ehemals christlich-sozialen Partei führt. Dieser Politiker, ein Rechtsanwalt und Parlamentsabgeordneter zieht die Grenzen für politische und moralische Verantwortung im Zusammenhang mit dem Holocaust und dem damaligen Wehrmachtsoffizier und späteren Bundespräsidenten der Republik Österreich, Dr. Kurt Waldheim, etwa folgendermaßen: „Solange jemand nicht mit eigenen Händen sechs Juden erwürgt hat, kann man nicht von persönlicher Schuld sprechen.” Das also ist es! Das ist die Lehre, die aus der Geschichte, um es so wertfrei und distanziert zu formulieren, in Österreich gezogen wurde und wird. Das ist das Ergebnis der nicht geleisteten ,,Trauerarbeit“, von deren Verpflichtung und Notwendigkeit -von Sühne sei ohnedies nicht gesprochen – ein in Österreich sehr bekannter Starkolumnist einer in jeder Hinsicht kleinformatigen Zeitung als einem unzumutbaren ,,Aberwitz” und ,,Hirngespinst” spricht. Und von einem ,,sogenannten Bedenkjahr” im Jahre 1988 als einer – den erweiterten Bedeutungsradius im Wienerischen miteinbezogen – ,,absoluten Unnötigkeit”.

Ein weiterer Schock wird das für den amerikanischen Staatsbürger, den ehemaligen Wiener, den Wiener Juden, nicht mehr gewesen sein. Eine solche Haltung ist hier bereits wieder etwas Alltägliches, gehört zum politischen und gesellschaftlichen Alltag, wird protestlos akzeptiert.

Mit Erschütterung jedoch entnehme ich, daß in der vorliegenden Endfassung des druckreifen Manuskriptes bei den biographischen Angaben über Fritz/Frederick Brainin entgegen der vorherigen Fassung der Passus „geboren als Sohn jüdischer Eltern” – wahrscheinlich auf Anordnung des Autors – gestrichen ist. Womit der letzte Faden zum ersten Wien durchgeschnitten, die letzte Spur zum ureigensten Ich von diesem Ich selbst zerstört worden ist. Es ist der letzte Versuch dieses Menschen, sein zweites Leben anzunehmen, auch um den letzten Preis der Verleugnung seiner Herkunft, seiner Identität. Ein Verzweiflungsakt, eine Art psychischen Suizid. Es ist die letzte Äußerung, die letzte Handlung des Exilanten. Es ist das Opfer eines Opfers. Es ist die Sprache des Exils. Diese mündet – in einem Akt des Verschweigens – nun endgültig ins Schweigen.

PS: Während der Zeit, da ich an diesem Essay schreibe, fahre einmal ich in einer Nachdenkpause mit dem Fahrrad zum Geburtshaus Brainins in der Lessinggasse Nummer 8 in der Leopoldstadt (2. Wiener Bezirk). Ich trete vor das Haus, hinein kann ich nicht, das Haus ist verschlossen. Ich sehe an der linken Ecke des Hauses im Parterre ein vergilbtes, vielleicht mit einem Messer oder einer Rasierklinge in der Form eines Judensternes zerschnittenes Plakat, vermutlich vor langer Zeit, zur Zeit des Wahlkampfes, der mit der Wahl des früheren Deutschen Wehrmachtsoffiziers und späteren UNO-Generalsekretärs Dr. Kurt Waldheim zum Bundespräsidenten der Republik Österreich endete, von einer linken Organisation achiffiert. Die Headline des Plakates lautet: „Das hat Österreich nicht nötig!” Darunter angeführt sind die persönlichen Bekenntnisaussprüche des österreichischen Gerichtspsychiaters, des Arztes und ehemaligen Parlamentariers Dr. Scrinzi, des früheren SA-Sturmbannführers, den die NDP (Nationaldemokratische Partei) als Kandidaten für die Bundespräsidentenwahl unserer Republik Österreich aufgestellt hatte, unterstützt von vielen öste


Genre: Lyrik
Illustrated by Verlag für Gesellschaftskritik, 1989 (Antifaschistische Literatur und Exilliteratur) Wien

Gnadenfrist in einem fremden Land

GNADENFRIST von Alfred Gong

Als Vorwort zum Gedichtband „Gnadenfrist“ von Alfred Gong steht der Ausspruch eines lndianerhäuptlings: „Was ist schon ein Leben? / Ein winziger Schatten nur, der übers Gras huscht / und sich in den Sonnenuntergang verläuft.“

Von dieser poetischen Sentenz gelangt Alfred Gong in und mit seinen Gedichten zu einer konkreten, persönlichkeitsbezogenen Aussage schmerzlicher Gewißheit: ,,Ausgesetzt in einer fremden Zeit / … läuft die Gnadenfrist ab …,,, denn „der abruf ist unterwegs.“

Das gilt für jeden; aber in einem besonderen Maße und in einer bestimmteren Weise für einen aus dem auserwählten (!) Volk, einen Juden. Für einen, dessen Schicksal schon lange vor seiner Geburt bestimmt, dessen Weg längst vorgezeichnet ist. Was folgt, ist nur mehr der Ablauf. Bestimmend ist die Verheißung, das Schicksal, der Tod. Dazwischen die ,Gnadenfrist: ,,Ohne Uhr, ohne Ausweis / wies man uns ein ins Heim Vogelfrei. / Sie strichen uns aus im Register. / Wir trugen uns auf: Keine Worte! / Sie haben gelobt, nicht zu stören. / Man weiß: uns darf nur wecken / der Tod.“

Dies als Metapher für Leben, für Schicksal; für alle, und im besonderen doch für die Juden. Dies ist die Welt der Verheißung und ihrer Erfüllung. Der Einzelne sowie alle unentrinnbar ausgeliefert. Kein Exil, keine Gnadenfrist täuscht darüber hinweg. Aus dem Wunschbild einer gewollten Wirklichkeit, aus der Einbildung eines sich selbst beruhigenden Sicherheitsgefühls, unauffindbar, un(an)greifbar zu sein – ,,Ich habe mich abgesetzt / ohne Spur, ohne Marke …“ – treten hinter diesem Spiegelbild der eigenen Illusion von Gerettsein immer wieder als Befürchtung und schließlich als mahnende Gewi3heit die Erkenntnis und das Bewußtsein des Verlorenseins, der Unausweichlichkeit, Opfer zu sein und zu werden, hervor, einzig noch von Sehnsucht beseelt, die Zeitspanne zwischen Bestimmung und ihrer Erfüllung, die Gnadenfrist, zu nützen. – ,,Was bleibt uns übrig, als / einmal noch das das Salz und die Süße / des nächsten Leibes zu kosten, / bevor man uns stellt?“ Dies ist die Welt der Erkenntnis: Leben ist Geopfertwerden. Und dies schon wie schicksalhaft im voraus bestimmt.

Auch so schon beim Vater: ,,Gefreiter der k. und k. Infanterie, / mit zwei Schußwunden ausgezeichnet am lsonzo, / kehrte heim in seine an Rumänien verlorene Heimat… Arbeitete sechzehn Stunden im Tag… Als ‚Ausbeuter’ von den Sowjets im Viehwaggon / verladen, vier Wochen durch den Orlogsommer 41 /… verlor seine Brille im Eis / und starb am Nervenfieber, wimmernd im tauben Schnee / von Novosibirsk …“

Der Sohn: „,In die Welt ausgestoßen als Schrei“ (1920), in seinen Geburtsort Czernowitz, in einen Schmelztiegel verschiedenster Völker, Religionen, Sprachen und Kulturen; in die Stadt eines Gregor von Rezzori, aber auch in eine, in der man ,,Paul Celan mit Trakl unterm bei den Tulpen begegnen“ konnte. Dort ging er zur Schule und, bevor er noch lesen konnte, lehrte man ihn, „daß es süß sei fürs Vaterland zu sterben … später mehr nutzloses Zeug: / die Zehn Gebote zum Beispiel … / Dazu sechs Sprachen, darunter drei tote, / auch die Kunst des Sophismus, Dialektik, den Talmud – „ doch wußt er „später kein Sprüchlein / um die Mörder versöhnlich zu stimmen…“ Dann Flucht vor den Mördern, dann Wien, dann weiter in die USA; seit langem in New York, integriert in der Fremde.

Und noch immer auf der Suche nach Heimat. Sie wird zum Bild seiner Kindheit, zur Gewißheit seiner Verankerung im Dort und im Damals: „Die Steine gedenken meiner …“ , Erinnerung an eine Heimat, in der man auf die Frage „was Sterne sind“, den Kindern zur Antwort gab: „Sind die Seelen von Opa und Oma / und allen Lieben, die auf dem jüdischen / Friedhof von Czernowitz ruhn.“ Und wo ,,Rabbi Ezra blinzelte im Fenster / und wußte: Heut seid ihr Kinder – / morgen werdet ihr Juden sein.“

Und das Jetzt, und die Zukunft und das, was bleibt an Erwartung? – „Angepflockt, anbequemt, ansässig / … unbeteiligt, unbekümmert, ungerührt Sinnlos, ohne Berufung, ohne Aussicht auf ein Auferstehn.“ Die Resignation, die bereits auf ein unerträgliches Maß reduzierte Anteilnahme am Leben, die in der Frage an sich selbst zum Ausdruck kommt: „…. was hast du noch zu gewärtigen? / Wie schlägt man dann seine Zeit / bis zur Abberufung tot? … „ schlägt noch einmal ein Sichaufbäumen als Ausdruck und zum Zeichen der Selbstachtung um: ,,Zerschlag die Uhren, die Spiegel, den Trug“, um freilich darauf kraftlos in Wehmut zu versinken, gepeinigt von einer Sehnsucht weil mit dem Wissen um ihre Unerfüllbarkeit: ,,Einmal sagen dürfen: September – / und meinen alle September / von einst und dereinst …“

Jetzt ist der Punkt im Leben erreicht, wo ,,hinter schneeblinder Luke / legendenweiß / deine Kindheit …“, erscheint. Dann ist es Zeit, die die Hoffnung zu suchen, die Liebe. Und dazu zu mahnen: ,,Liebt, liebt endlos, ohn Erbarmen .. .“! Denn dann, wenn ein Mensch, ein Vertriebener, Getriebener sagt: ,,Alt bin ich und vergessen / und ohne Feinde geblieben …“, beginnt der ,,Schatten des Schneefalls!“ Und mit ihm vielleicht die Erlösung.

Alfred Gong: „Gnadenfrist in einem fremden Land“, Band 15 der Reihe „Lyrik aus Österreich“, herausgegeben von Alois Vogel und Alfred Gesswein. Verlag G. Grasl, Baden bei Wien, 1980.

Peter Paul Wiplinger
Wien 1980


Genre: Lyrik
Illustrated by Verlag G. Grasl Baden bei Wien

Wir leben im Verborgenen

Ceija Stojka – Zeitzeugin und Mahnerin

Als das Buch „Wir leben im Verborgenen – Erinnerung einer Rom-Zigeunerin“, 1988 von Karin Berger herausgegeben, im Picus Verlag erschien, 1989 gleich in einer zweiten Auflage, war Ceija Stojka die erste Romni, die ihre Erinnerungen an die Leidensgeschichte ihrer Familie stellvertretend für die vom Nationalsozialismus verfolgten und in den Konzentrationslagern gepeinigten und massenweise ermordeten Roma und Sinti schriftlich niederlegte. Das Buch erregte großes Aufsehen und rückte somit die bis dahin vergessene und verdrängte Leidensgeschichte, aber auch die aktuellen Fragen und Probleme der ins Abseits, ins Verborgene gedrängten Volksgruppe der Roma und Sinti ins Licht der Öffentlichkeit.

Ceija Stojka wurde mit diesem Buch über Nacht bekannt. 1992 folgte, gleichfalls im Picus-Verlag, „Reisende auf dieser Welt“. Ausstellungen ihrer aussagekräftigen Bilder, die das frühere „Zigeunerleben“ und dann die Schreckenszeit in den Konzentrationslagern zum Thema hatten, und musikalische Auftritte, in denen sie die alten, mündlich tradierten Roma-Lieder der Lovara sang, erweiterten ihren Wirkungskreis und rundeten gleichzeitig das Erscheinungsbild ab. Immer stärker trat dabei ein bekenntnishaftes, charismatisches Mitteilungsstreben zu Tage, mit dem sich Ceija Stojka von der Zeitzeugin des Holocaust zur Menschenrechtsaktivistin entwickelte, die sich engagiert für ein friedliches Miteinander aller Menschen einsetzt und zugleich die Rechte für die Volksgruppe der Roma und Sinti, aber auch aller anderen einmahnt.

Peter Paul Wiplinger

Wenn man heute, nach fünfzehn Jahren, das neu aufgelegte Buch wieder liest, so hat es nichts an Eindringlichkeit und unmittelbarer Aussagekraft verloren. Es berührt und erschüttert, indem es die Ereignisse aus einer ganz privaten Sicht und in einer sehr einfachen, fast kindlichen Erzählweise schildert. Gerade diese Einfachheit, mit der Ceija Stojka den Leidensweg ihrer Familie und den ihres Volkes und später das Leben im Verborgenen der wenigen Überlebenden erzählt, ist es, die das Buch zu etwas so Besonderem macht. Wie hier im Rückblick, Jahrzehnte später und mit einem anderen, neuen Leben dazwischen, noch immer über das Unbegreifbare dessen, was Menschen anderen Menschen antun können, ohne geschichtsträchtige Pathosgeste, sondern ganz einfach aus dem eigenen Betroffen- und Verwundetwordensein heraus gesprochen wird, das ist zutiefst bewegend.

Alles was geschehen ist und erzählt wird, haben ja die Augen eines jungen Mädchens, fast noch Kind, gesehen: Die mitleidlose Gewalt, das Elend, das Leid, das alltägliche Sterben, den Tod; die aufgeschichteten Leichen, darauf der kleine, an Bauchtyphus gestorbene Bruder Ossi, dem Ceija das eigene Unterkleidchen als Totenhemd darüberbreitet. Ein kleines Mädchen, das inmitten des Grauens eine solche Geste setzt, ein Zeichen zur Bewahrung der Menschenwürde.
Jahrzehnte später sieht die erwachsene Frau Ceija sich selbst wieder als dieses kleine Mädchen, auch in diesem Augenblick. Da gibt es nichts zu begreifen, wie so etwas überhaupt möglich sein konnte – und auf der Welt immer noch möglich ist. Da spürt man rückblickend bei solcher Erinnerung nur die Trauer, in manchen Stunden vielleicht auch die Verzweiflung über den Menschen. Und trotzdem diese Liebe, diese Kraft des Lebens, diese Wärme und Herzlichkeit, die bei Ceija Stojka durch alles hindurch zu spüren ist. Und der Glaube, daß es besser werden kann; das Wissen um die Notwendigkeit, daß es besser werden muß auf dieser Welt.

Ceija Stojka: „Wir leben im Verborgenen – Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin“.
Picus Verlag, Wien, 1988; vierte Auflage, Wien, 2003. 155 Seiten, gebunden, EUR 14,90-
Ceija Stojka – Zeitzeugin und Mahnerin

Neuauflage: 2003

Als das Buch „Wir leben im Verborgenen – Erinnerung einer Rom-Zigeunerin“, 1988 von Karin Berger herausgegeben, im Picus Verlag erschien, 1989 gleich in einer zweiten Auflage, war Ceija Stojka die erste Romni, die ihre Erinnerungen an die Leidensgeschichte ihrer Familie stellvertretend für die vom Nationalsozialismus verfolgten und in den Konzentrationslagern gepeinigten und massenweise ermordeten Roma und Sinti schriftlich niederlegte. Das Buch erregte großes Aufsehen und rückte somit die bis dahin vergessene und verdrängte Leidensgeschichte, aber auch die aktuellen Fragen und Probleme der ins Abseits, ins Verborgene gedrängten Volksgruppe der Roma und Sinti ins Licht der Öffentlichkeit.

Ceija Stojka wurde mit diesem Buch über Nacht bekannt. 1992 folgte, gleichfalls im Picus-Verlag, „Reisende auf dieser Welt“. Ausstellungen ihrer aussagekräftigen Bilder, die das frühere „Zigeunerleben“ und dann die Schreckenszeit in den Konzentrationslagern zum Thema hatten, und musikalische Auftritte, in denen sie die alten, mündlich tradierten Roma-Lieder der Lovara sang, erweiterten ihren Wirkungskreis und rundeten gleichzeitig das Erscheinungsbild ab. Immer stärker trat dabei ein bekenntnishaftes, charismatisches Mitteilungsstreben zu Tage, mit dem sich Ceija Stojka von der Zeitzeugin des Holocaust zur Menschenrechtsaktivistin entwickelte, die sich engagiert für ein friedliches Miteinander aller Menschen einsetzt und zugleich die Rechte für die Volksgruppe der Roma und Sinti, aber auch aller anderen einmahnt.

Wenn man heute, nach fünfzehn Jahren, das neu aufgelegte Buch wieder liest, so hat es nichts an Eindringlichkeit und unmittelbarer Aussagekraft verloren. Es berührt und erschüttert, indem es die Ereignisse aus einer ganz privaten Sicht und in einer sehr einfachen, fast kindlichen Erzählweise schildert. Gerade diese Einfachheit, mit der Ceija Stojka den Leidensweg ihrer Familie und den ihres Volkes und später das Leben im Verborgenen der wenigen Überlebenden erzählt, ist es, die das Buch zu etwas so Besonderem macht. Wie hier im Rückblick, Jahrzehnte später und mit einem anderen, neuen Leben dazwischen, noch immer über das Unbegreifbare dessen, was Menschen anderen Menschen antun können, ohne geschichtsträchtige Pathosgeste, sondern ganz einfach aus dem eigenen Betroffen- und Verwundetwordensein heraus gesprochen wird, das ist zutiefst bewegend.

Alles was geschehen ist und erzählt wird, haben ja die Augen eines jungen Mädchens, fast noch Kind, gesehen: Die mitleidlose Gewalt, das Elend, das Leid, das alltägliche Sterben, den Tod; die aufgeschichteten Leichen, darauf der kleine, an Bauchtyphus gestorbene Bruder Ossi, dem Ceija das eigene Unterkleidchen als Totenhemd darüberbreitet. Ein kleines Mädchen, das inmitten des Grauens eine solche Geste setzt, ein Zeichen zur Bewahrung der Menschenwürde.
Jahrzehnte später sieht die erwachsene Frau Ceija sich selbst wieder als dieses kleine Mädchen, auch in diesem Augenblick. Da gibt es nichts zu begreifen, wie so etwas überhaupt möglich sein konnte – und auf der Welt immer noch möglich ist. Da spürt man rückblickend bei solcher Erinnerung nur die Trauer, in manchen Stunden vielleicht auch die Verzweiflung über den Menschen. Und trotzdem diese Liebe, diese Kraft des Lebens, diese Wärme und Herzlichkeit, die bei Ceija Stojka durch alles hindurch zu spüren ist. Und der Glaube, daß es besser werden kann; das Wissen um die Notwendigkeit, daß es besser werden muß auf dieser Welt.

Ceija Stojka: „Wir leben im Verborgenen – Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin“.
Picus Verlag, Wien, 1988; vierte Auflage, Wien, 2003. 155 Seiten, gebunden, EUR 14,90-


Genre: Erinnerungen
Illustrated by Picus Verlag Wien

Die Roma von Oberwart

„Die Roma von Oberwart“ lautet der Titel eines in der edition lex liszt herausgegebenen Buches von Helmut Samer, das mit Unterstützung des Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus und der Kulturabteilung beim Amt der Burgenländischen Landesregierung erschienen ist und zur Geschichte und aktuellen Situation der Roma in Oberwart Stellung bezieht.

In einzelnen Kapiteln, die wiederum in thematische Gruppierungen unterteilt sind, wird sehr übersichtlich und anschaulich einerseits im Rückblick die Geschichte der burgenländischen Roma dargelegt, im anderen Teil, der sich mit der gegenwärtigen Situation – vorallem nach dem Attentat vom 4. Februar 1995 – beschäftigt, das aufgezeigt, was die burgenländischen Roma durch eigene Initiative und engagierte Tätigkeit für sich selbst erreicht haben; denn die nach dem Attentat von österreichischen Spitzenpolitikern versprochene Hilfe von außen war weder sehr groß, noch wirklich engagiert. Das war mehr ein Lippenbekenntnis und einmal mehr ein Akt der politischen PR-Selbstdarstellung denn eine Korrektur der eigenen Versäumnisse und Defizite. Anerkannt wurden die Roma in Österreich als Volksgruppe ja ohnedies erst 1993, also erst ein halbes Jahrhundert nach dem Holocaust, dem ein Großteil der Volksgruppe, ja des Roma-Volkes in Europa überhaupt zum Opfer fiel.

Die Geschichte der burgenländischen Roma wie auch der Roma und Sinti anderswo war und ist eine Geschichte der Unterdrückung, der Verfolgung, der Verweigerung und Verletzung von Menschenrechten. Ausgrenzung war das Mildeste, was den „Zigeunern“ passierte und noch immer passiert; hier und anderswo. Und sprach man von Integration, von „Assimilierung“, dann bedeutete dies – seit den Zeiten Kaiserin Maria Theresia’s – Zwangsmaßnahmen mit dem Ziel, die „Zigeuner“ zu disziplinieren, zu „zivilisieren“, d.h. ihnen die Kultur und Sprache des Mehrheitsvolkes aufzuzwingen und ihnen ihre eigene zu verbieten, zu nehmen, auszurotten.

Dabei handelte es sich bei den Roma um keine Immigranten im heutigen Sinn; denn sie waren bereits vor Jahrhunderten in ihre Siedlungsgebiete eingewandert und lebten schon lange Zeit mit – besser gesagt neben – dem Mehrheitsvolk und seiner Kultur; hatten sich auch weitgehend angepaßt, was die Umgangssprache in der Öffentlichkeit betraf, sprachen diese und auch andere Sprachen; denn sie reisten viel herum, über die Grenzen hinweg. Sie begriffen sich nicht als Staatsbürger, sondern als Zugehörige zu ihrem Volk und ihrer eigenen jahrhundertealten Tradition und Kultur. Vor langer Zeit waren sie aus Indien nach Europa gekommen, was man ihnen auch heute noch ansieht. Denn wenn man zum Beispiel einen burgenländischen Roma in Wien sieht, der den breitesten Dialekt spricht und vielleicht gar nicht mehr so gut sein Romanes, so schaut der vielleicht so aus, als wäre er gerade aus Kalkutta oder Bombay gekommen, so dunkel kann seine Hautfarbe sein. Vielleicht ist es allein das – dieses äußerliche Anderssein – daß er von vielen als Fremder, als Außenstehender angesehen und als solcher behandelt wird, weil er und seinesgleichen – „überhaupt solche Leute“, wie manche aus dem Mehrheitsvolk oft sagen – „mit uns eigentlich nichts zu tun haben“.

Schon ab dem 16. Jahrhundert sind die burgenländischen Roma aus Zentralungarn ins Gebiet des heutigen Burgenlandes eingewandert; genauso wie die Burgenlandkroaten vom kroatischen und dalmatinischen Küstenland, vom Norden Bosniens sowie vom Donaugebiet Slawoniens, die man ebenfalls gerne aufgenommen hat, weil viele Dörfer nach dem Dreißigjährigen Krieg und nach den Türkeneinfällen ausgestorben waren. Aber kaum hatten sich die Roma niedergelassen, auf ihre Weise mit ihren Pferdewagen, wurden sie auch schon wieder da und dort vertrieben. So ordnete zum Beispiel Kaiser Karl VI an, daß „die Zigeuner und jegliches liederliche Gesindel in Österreich“ ausgerottet werden sollten und daß aufgegriffene Roma mit Brandmalen auf dem Rücken zu kennzeichnen seien und sie geköpft werden sollten, wenn sie wieder zurückkämen. Wenig später (1726) steigerte er sich sogar noch, indem er eine Verordnung erließ, derzufolge alle männlichen Zigeuner hingerichtet sowie Frauen und Kindern ein Ohr abgeschnitten werden sollte, so man ihrer habhaft würde. Kaiserin Maria Theresia hingegen verfolgte eine andere , eine „humanere“ Politik. Sie wollte aus den Zigeunern „ordentliche“ und „nützliche“ Bürger machen; dies natürlich mit Zwangsmaßnahmen. So verfügte sie durch Verordnungen zwischen 1758 und 1773 eine „Zivilisierung“ und „Domicilierung“ der Zigeuner – sie sollten ihre alte Lebensweise aufgeben, sich (als „Neocoloni“/“Neubauern“) niederlassen und ein Handwerk lernen – was mittels eines repressiven Umerziehungsprogrammes erreicht werden sollte. In der Praxis bedeutete dies ein Verbot der eigenen Sprache und Kultur, Kindeswegnahme, Heiratsverbot unter Zigeunern, Zwangsansiedlung.

Nach der Regentschaft Josef II, der die zwanghafte Assimilierungspolitik seiner Mutter noch verschärft fortführte, gab es eine längere Periode der Beruhigung, während der sich die Roma innerhalb einer begrenzten Duldung erholen konnten, was zu einem Anwachsen ihrer Population, zur Seßhaftigkeit und zur Vergrößerung der „Zigeunerkolonien“ am Rande der Dörfer beitrug. Nachdem die erwachsenen männlichen Roma im Ersten Weltkrieg patriotisch ihr Leben für Gott, Kaiser und Vaterland eingesetzt und in vielen Fällen auch verloren hatten – „geopfert“ nannte man das – und sich in feindlichen Heeren auch gegenübergestanden waren, begann eine Phase neuer Repressalien durch behördliche Reglementierungen, welche die begrenzte Freiheit der Roma wiederum weiter einschränkte. Man sprach im Amtsdeutsch nun von „Zigeunerbanden“, derer man Herr werden müsse. Mit der Angliederung des Burgenlandes an Österreich kamen 1921 auch einige tausend Roma zu Österreich. Man versuchte nun, alle Roma personaldatenmäßig zu erfassen, sie mußten sich fotografieren und registrieren lassen. Seit 1928 führte das Bundespolizeikommissariat Eisenstadt eine „Zigeunerkartei“, in der rund achttausend Roma namentlich und mit Fingerabdrücken verzeichnet waren. Eine perfekte Vorarbeit war also damit geleistet für den Zugriff der späteren NS-Schergen und den rassistischen Massenmord an den Roma im Holocaust. Massive Propaganda und der aufblühende Nationalismus, die Begeisterung für das völkische Deutschtum taten das Ihre, um die Romafeindlichkeit weiter zu schüren und zu etablieren. Man sprach wiederum von der Asozialität der Roma, von ihnen als einer „Landplage“, einer „Kulturschande“.

Der spätere Gauleiter des Burgenlandes, Dr. Tobias Portschy, bediente sich bei der Formulierung seines Programmes zur Lösung der „Zigeunerfrage“ auch schon relativ früh des Begriffes „Ausmerzung“ und schlug als Mittel dafür Zwangsarbeit, Deportation, Sterilisation der Roma vor und forderte, dieses Problem einer „nationalsozialistischen Lösung“ zuzuführen; was später dann ja auch geschah, durch massenhafte systematische Ermordung im KZ. Nach dem Krieg und dem Ende der NS-Terrorherrschaft wurde dieser Mann etwa nicht als Propagandist und Wegbereiter für den Holocaust und die Ermordnung burgenländischer Roma-Mitbürger behandelt; nein, der Herr war dann sogar in einem Sparkassenvorstand und bewegte sich in der Nähe einer Regierungspartei, war ein geachteter Bürger. Gerade, daß man ihm nicht einen Orden für Verdienste um das Land Burgenland verliehen und umgehängt hat. Österreichische Vergangenheitsbewältigung! Alle hatten sowieso nur ihre Pflicht getan! Manche eben ein bißchen mehr. Aber alle waren nur Opfer vergleichbarer Gewalt. So das abstruse „persönliche Geschichtsbild“ eines österreichischen Volksanwaltes zur Zeit, das er über die Massenmedien kolportiert; ohne daß er konsequenterweise sofort abtreten müßte.

Gleich nach dem „Anschluß“ und der Errichtung der NS-Herrschaft setzten weitere Diskriminierungen und Repressionsmaßnahmen gegen die „Zigeuner“ ein. Den Roma-Kindern wurde der Schulbesuch verboten. Mischehen waren nicht erlaubt. Beziehungen fielen unter den Begriff „Rassenschande“ und unter die strengen Sanktionen dafür. Die Forderung, das Burgenland „zigeunerfrei“ zu machen, erfüllte man dadurch, daß man die Roma in Arbeitslager (Lackenbach) sperrte oder sie gleich in die KZ deportierte; so schon dreitausend Roma im Juni 1939 als „Asoziale“ und „kriminell Anfällige“. Die Bedingungen und Zustände im Anhalte- und Arbeitslager Lackenbach bei Oberpullendorf, wo heute ein bescheidenes Denkmal an die Leidenszeit der Roma erinnert und mahnt, waren unmenschlich und katastrophal. Mehr als zweitausend Personen waren dort auf engstem Raum zusammengepfercht. Die schlechten sanitären und hygienischen Verhältnisse begünstigten den Ausbruch von Krankheiten und Epidemien (Flecktyphus) und steigerten die Mortalität der geschundenen „Häftlinge“. Trotzdem erhöhte sich der Lagerbestand durch Neuzugänge. Um ihn zu verringern, wurden am 4. und 8. November 1941 tausend Personen in das Ghetto von Lodz (Litzmannstadt) gebracht und von dort später nach Chelmo (Kulmhof), wo sie der Vergasung zum Opfer fielen. Dann kam 1943 der „Auschwitz-Erlaß“; und mit ihm der Massenmord an den Roma und Sinti auf der Grundlage der NS-Rassenideologie und entsprechend den Maßnahmen zur „Endlösung“. Insgesamt kamen etwa zwanzigtausend Roma und Sinti in das dreißig Barackenlager umfassende „Zigeunerfamilienlager“ nach Auschwitz-Birkenau; ab Februar 1943 auch ca. 2760 österreichische Roma und Sinti. Im Sommer 1944 wurde dieses „Zigeunerfamilienlager“ aufgelöst. Nach der Selektierung der noch arbeitsfähigen Männer und Frauen und deren Abtransport in die KZ Buchenwald und Ravensbrück wurden die Verbliebenen in der Nacht vom 2. auf den 3. August durch Vergasung liquidiert. Es waren 2897 Menschen. Von den zwanzigtausend nach Auschwitz-Birkenau deportierten Roma überlebten nur 1408, von den ca. 8000 burgenländischen Roma nur etwa 500-600. Damit war das „Zigeunerproblem“ gelöst; durch rassistischen Völkermord.

Nach der Befreiung – dem „Zusammenbruch“, wie der Volksmund sagt, dem Wechsel unter eine andere Gewaltherrschaft, wie das ein hoher österreichischer FPÖ-Staatsspitzenfunktionär, ein „Volksanwalt“ der Republik Österreich, seinem „persönlichen Geschichtsbild“ entsprechend unbegreiflicherweise und unter Berufung auf die verfassungsgemäße „Meinungsfreiheit“ bezeichnet – also nach der Befreiung Österreichs und somit auch der noch lebenden KZ-Insassen, darunter die wenigen Roma und Sinti, kehrten die KZ-ler in ihre Heimatorte zurück. Sie fanden aber dort nichts mehr vor, was einst Heimat gewesen war. Die Roma-Siedlungen waren zerstört, dem Erdboden gleichgemacht worden. Die Heimatgemeinden stellten den ehemaligen Roma-KZ-Insassen – meist nur widerwillig und gezwungenerweise – irgendwelche Notunterkünfte zur Verfügung. So entstanden neue Roma-Siedlungen am Rande der Orte und der Gesellschaft. Da viele ehemalige Roma-KZ-“Häftlinge“ keine Personaldokumente mehr hatten, dachte sich die Behörde einen Ausweg aus: Man erklärte die ausweislosen Roma als staatenlos, womit sie diskriminiert und jeder Willkür ausgesetzt waren. Und bald gab es – wie es jetzt zwar nicht mehr rassenideologisch, sondern nur amtlich hieß – wieder ein „Zigeunerproblem“. Das Rad begann sich von neuem zu drehen. Nicht, daß man den Überlebenden nun Hilfe oder gar „Wiedergutmachung“ angedeihen hätte lassen, ihnen Respekt erwiesen, Mitgefühl entgegengebracht hätte, vielleicht auch in Reue und Sühne; nein, ganz im Gegenteil: Sie wurden wieder genauso schikaniert, gedemütigt und ausgegrenzt wie vor der NS-Verfolgung und so als ob es diese nicht gegeben hätte. Und den (ehemaligen) Tätern ging es wieder einmal besser als den Opfern. Der sogenannte „Zigeunererlaß“ aus dem Jahr 1948 an die österreichische Gendarmerie, der die Außerlandesschaffung von „staatenlosen“ Roma, anordnete, stammte dieses Mal nicht aus Berlin oder von der GESTAPO, sondern kam aus dem Innenministerium (SPÖ/Helmer) der Republik Österreich.

„Wir leben im Verborgenen“ (Ceija Stojka, Picus-Verlag, Wien 1988) könnte die Devise der zurückgekehrten KZ-Überlebenden-Roma nach 1945 gewesen sein, der auch die Realität einer Roma-Existenz entsprach. Die Lackenbach-“Häftlinge“ waren von jeder Opferfürsorge gänzlich ausgeschlossen. Erst im Jahr 1961 bekamen sie auf Drängen der Opferverbände als Entschädigung für ihre „Freiheitsbeschränkung“ 350 Schilling pro Haftmonat zuerkannt. Bei der sogenannten „Wiedergutmachung“ wurden die Roma massiv benachteiligt, wo es nur ging. Niemand kümmerte sich um sie. Wieder einmal war niemand in diesem Land für sie und überhaupt verantwortlich. Kein Wunder bei der weit verbreiteten und selbstverständlich gewordenen Haltung und Praxis, jede Verantwortung für das, was geschehen war und bei dem man nicht nur als Opfer, sondern auch als Täter und Mitläufer beteiligt gewesen war, von sich zu weisen. Die Öffentlichkeit und die Gesellschaft interessierten sich weder für die sozialen noch für die kulturellen Probleme dieser bedrohten österreichischen „Minderheit“, die erst nach langer Zeit und gegen den passiven Widerstand von Seiten der Politik und Behörde nur aufgrund des zielstrebigen Engagements ihrer Vertreter und einiger weniger Mitstreiter bei gleichzeitigem Erwachen eines neuen Selbstbewußtseins und nach der Gründung wichtiger Interessensvertretungen und Organisationen („Verein Roma“, Oberwart 1989/1993; „Kulturverein österreichischer Roma“, Wien 1991; „Romano Centro“, Wien 1991) als Volksgruppe anerkannt wurde (24.12.1993). Damit hörte dann „das Leben im Verborgenen“ endlich auf; die Diskriminierung im Alltag und die Gleichgültigkeit seitens der Öffentlichkeit den Roma-Problemen gegenüber allerdings nicht.

Am 4. Februar 1995 ereignete sich dann das rassistisch motivierte Attentat eines psychopathischen Kriminellen, dem vier Roma aus der Oberwarter Siedlung zum Opfer fielen. Die österreichische Öffentlichkeit schreckte auf. Medienberichte informierten, interpretierten, beleuchteten den rassistisch-nationalistischen Hintergrund dieses Attentats, spekulierten über die „Bajuwarische Befreiungsfront“ und deren mögliche Querverbindungen zur Neonaziszene in Österreich und im Ausland. Plötzlich waren die Roma im Gerede, wiederum gab es ein „Roma-Problem“; dazu aber auch Zeichen der Erschütterung, der Empörung, des Mitgefühls, der Trauer um die Opfer; begleitet von Solidaritätskundgebungen, Politikeransprachen, Beteuerungen, Versprechungen. Das Begräbnis der Toten als ein Staatsakt. Und dann das Vergessen. Man hatte seine Schuldigkeit getan. Die Republik hatte sich vor den Opfern verneigt, sie betrauert, gewürdigt. Nach den Hintergründen, nach dem geistigen Umfeld, in dem solche Wahnsinnstaten (Rohrbomben/Briefbomben) von politisch verblendeten Verbrechern und Psychopathen angesiedelt sind, fragte nach einiger Zeit niemand mehr. Einige Jahre später demonstrierten Alt- und Neonazis polizeigeschützt auf dem Wiener Heldenplatz und zogen später mit „Sieg Heil!“-Rufen und zum Hitlergruß erhobenen Armen unbehelligt durch die Wiener Innenstadt. Ein wenig Empörung, die da und dort aufflackerte, sonst nichts.

Im Rückblick gesehen erweist sich die Siedlungs- und Kulturgeschichte der Roma von Oberwart seit der Gründung der „Zigeunerkolonie“ (1857) bis heute als die einer höchstens nur am Rande geduldeten, in der NS-Zeit verfolgten und ermordeten Außenseitergruppe, die nie wirklich akzeptiert und ins kommunale Zusammenleben integriert worden ist. Von den über 300 Roma, die bis 1938 in Oberwart gelebt hatten, kamen nach der Nazidiktatur und dem Holocaust nur etwa 20 Roma nach Oberwart zurück. Die Gemeinde siedelte sie wieder als Außenseiter weit draußen am Ortsrand an. Die Roma verblieben in diesem Ghetto unter sich. Die Gemeinde, die Behörden, die Ämter, die Kirchen, die Mehrheitsbevölkerung verweigerten eine wirkliche Integration. Dementsprechend war dann auch der soziale und bildungsmäßige Status der Roma. Die „Zigeunerkinder“ gingen zwar in die hiesige Volksschule – ganz wenige schafften es sogar bis in die Hauptschule und noch weiter – aber in der Regel wurden sie zurückgestuft und in die Sonderschule abgeschoben. Viele mußten einige Klassen mehrmals wiederholen, blieben bildungs- und ausbildungsmäßig zurück; was bedeutete, daß sie dann später – wenn überhaupt – nur als HilfsarbeiterInnen unterkommen konnten. Zu diesem Defizit im Bildungs- und Sozialbereich kam angesichts der Aussichtslosigkeit auf gesellschaftliche Integration in das Mehrheitsvolk auch eine psychologische Identitätskrise, ein Identitätsverlust aufgrund einer Identitätsverweigerung. Einfach gesagt: Viele Roma schämten sich, „Zigeuner“ zu sein; wollten diese ihre Identität verschleiern, verstecken, ablegen, verleugnen, vergessen.

Zu Beginn der Achtzigerjahre aber war dann plötzlich eine Gegenbewegung da. Zunächst kam diese von außen. Wie so oft können Einzelereignisse wichtige Impulsgeber sein, die schon vorhandene, aber noch nicht wirksame Bereitschaftskonstellationen und Handlungsansätze bündeln, indem sie eine Entwicklungsdynamik erzeugen. Um einen solchen Fall könnte es sich bei der „Aktion Zigeunerdenkmal“ handeln. Eine Künstlergruppe hatte im Rahmen des Kulturfestivals „ausnahmsweise oberwart“ am 20. Juni 1980 vor dem Kriegerdenkmal in Oberwart ein anderes Denkmal – eigentlich nur eine Denkmalattrappe – aufgestellt, mit dem sie als einem Mahnmal an die in den NS-Konzentrationslagern ermordeten und umgekommenen Roma-Mitbürger aus Oberwart erinnerte und dieses Holocaust-Schicksal der Roma den Nichtroma-Mitbürgern dadurch wieder ins Gedächtnis rief. Die Reaktion von Behörde und Bevölkerung war typisch-österreichisch: Man fühlte sich gestört, man wollte an die eigene Tabuisierung und Verdrängung nicht erinnert werden. Der Bürgermeister forderte die Urheber des Denkmals auf, dieses zu entfernen. Nachts wurde das Denkmal beschmiert, das Andenken an die Toten geschändet. Eine Anzeige gab es, Täter wurden nicht gefunden, weil vielleicht auch gar nicht wirklich entschieden gesucht. Im Sommer 1983 wurde im Jugendhaus in Oberwart eine „Zigeunerausstellung“ gezeigt, in der zum ersten Mal konkret auf die Diskriminierungen der Roma in Oberwart hingewiesen und diese angeprangert wurden. Die Roma begannen sich zu wehren. Widerstand erwachte und wurde organisiert.

Am 13. März 1987 sprachen Roma-Repräsentanten beim Bundespräsidenten vor. In diesem Gespräch kam es zu einer Einmahnung des in der österreichischen Verfassung verankerten Gleichheitsgrundsatzes. Die Präsidentschaftskanzlei reagierte. Die Roma handelten nun nicht mehr unter der lähmenden Akzeptanz ihrer Opferrolle, sondern forderten konkret und zukunftsorientiert Gleichstellung und Gleichberechtigung; im Schulbereich, im Sozialbereich, im Arbeitsprozeß. Kulturelle Roma-Identität entwickelte sich. Vereine wurden gegründet, Interessensvertretungen; Aktivgruppen formierten sich. Zielvorgaben wurden formuliert, deklariert, propagiert. Konkrete Projekte zur Verbesserung der Lebenssituation der Roma wurden gestartet und durchgeführt. Zum ersten Mal solidarisierten sich Nicht-Roma mit ihren Roma-Mitbürgern. Eine „Roma-Nichtroma-Initiative“ wurde gestartet. Die Situation veränderte sich. Daraus resultierte Hoffnung, Selbstbewußtsein, Handlungsenergie; Schaffung von Organisationsstrukturen. Und das brachte Erfolg.

Heute kann man das Erreichte bilanzieren. Seit 15. Juli 1989 gibt es den „Verein Roma“ in Oberwart, der sich engagiert und effizient sowohl für die Roma selbst, als auch für das Zusammenleben zwischen Roma und Nicht-Roma einsetzt. Konkret geht es um die Verbesserung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Stellung der Roma; um die Stärkung des Selbstbewußtseins, um die Aufrechterhaltung und Wiederbelebung der Roma-Identität. Neue Strukturen und Organisationsformen wurden geschaffen, Netzwerke zu anderen österreichischen Volksgruppen aufgebaut, Kontakte zu Repräsentanten aus Politik und Gesellschaft geknüpft und vertieft. Heute gibt es in Oberwart eine Roma-Beratungsstelle, außerschulische Lernbetreuung für Roma-Kinder, eine Roma-Volkshochschule, Roman-Sprachkurse, Zeitschriften, Kulturveranstaltungen, Theatergruppen, Feste, Musik und anderes. Auch in Wien sowie im gesamten Bundesgebiet wirkte die positive Entwicklung der Gesamtsituation – vorallem die Anerkennung der Roma als österreichische Volksgruppe und die Errichtung des Volksgruppenbeirates – befreiend und befruchtend. Auch in Wien gibt es seit den Neunzigerjahren zwei Roma-Kulturvereine. Eine Wiederbelebung der traditionellen Roma-Kultur und ein vorher nicht da gewesenes Identitätsbewußtsein, mit dem auch ein neues Selbstbewußtsein einhergeht, ist feststellbar. Und über die Staatsgrenzen hinaus gibt es die Zusammenarbeit mit anderen Roma-Organisationen und Volksgruppen.

Trotzdem sind Ressentiments und teilweise auch offene Ablehnung in der Bevölkerung, im deutschsprachigen österreichischen Mehrheitsvolk geblieben; vorallem wenn es um zugewanderte „Zigeuner“ aus dem Balkan geht, um diese „Tschuschen“, wie viele noch oder schon wieder sagen. Das Anderssein, das Fremde scheint für viele ein unüberbrückbarer Gegensatz, eine unüberwindbare Barriere zu sein, wenn es um Gleichwertigkeit und um Gleichberechtigung, um soziale und kulturelle Anerkennung geht. Und es gibt in letzter Zeit schon wieder häufiger und lauter diese „Zurufe an das Volk“, aus dem Untergrund oder aus einer Ecke einer bestimmten Partei, deren Ideologen von „Überfremdung“ reden und von „Umvolkung“. Das läßt erschrecken. Das sollte alle zur Wachsamkeit aufrufen, zum Widerspruch, zum Widerstand. Denn das ist ein Gefahren- und Warnzeichen; vor einer Wegstrecke, wo es steil abwärts geht – mit der politischen Kultur eines Staates, mit seiner Demokratie.

Es ist ein wichtiges, ein notwendiges Buch, das hier vorliegt. Ein Buch, das das Leben der burgenländischen Roma und deren Schicksal durch Jahrhunderte hindurch aufzeigt und eindringlich beschreibt; eine Dokumentation, die auf präzisen Daten und Fakten aufgebaut ist und durch einen genauen Literatur- und Quellennachweis sowie durch anschauliche Statistiken und eine umfassende Chronologie der Ereignisse wissenschaftlichen Maßstäben gerecht wird. Es ist ein Buch, das sich auch mit den dunklen Seiten der österreichischen Geschichte befaßt; einer Geschichte, die lange Zeit entweder verdrängt oder zur eigenen Entschuldigung umgeschrieben worden ist. Der Autor hat hier Bilanz gezogen; auch darüber, was die österreichische Politik und Öffentlichkeit verleugnet, versäumt, verdrängt, verschwiegen hat; und was im Gegensatz dazu die burgenländischen, die österreichischen Roma und ihre Organisationen sowie engagierte Nicht-Roma-Mitstreiter zur Schaffung ihres jetzigen Status selber geleistet haben. Und dies ist beachtens- und bewundernswert.


Genre: Dokumentation
Illustrated by edition lex liszt 12

Das Kind, das ich war

Kinderschicksal – Kindheitstrauma
Der kärntner-slowenische Dichter Andrej Kokot auf den Spuren seiner Kindheit

Der 14. April 1942 ist ein bedeutender Tag im Leben des damals kleinen Buben und heutigen Schriftstellers Andrej Kokot. Denn da wird er mit seiner Familie, seinen Eltern und den zehn Geschwistern, so wie viele andere kärntner-slowenische Familien, vom elterlichen Hof in Oberdorf/Zgornja vas, in der Gemeinde Köstenberg/Kostanje, an der Südseite der Ossiacher Tauern gelegen, vertrieben. Grund: Sie sind Kärntner Slowenen; zu wenig deutsch, eigentlich gar nicht; sprechen eine andere Sprache, die zu sprechen verboten ist, für Volksgenossen, auf deutschem Reichsgebiet, das Österreich, das Kärnten jetzt ist.

Erst 1946 kehrt die Familie – nach langen und bitteren Jahren in der Fremde: in den Lagern Rehnitz, Rastatt und Gerlachsheim in Deutschland, nach Jahren der Freiheitsberaubung, der Erniedrigung, der ständigen Bedrohung, des Hungers und der Zwangsarbeit – wieder in das neuerstandene Österreich und nach Kärnten zurück; allerdings ohne den geliebten, ältesten Sohn und Bruder Josef/Jožek. Der war – wie die Familie erst sehr viel später erfährt – bereits am 24. September 1944 in KZ Mauthausen ermordet worden; durch Erhängen. Erst 1953, also neun Jahre später, erfährt dies die Familie durch einen per Boten des Gemeindeamtes Köstenberg überbrachten Brief, der die Sterbeurkunde von Josef Kokot enthält. „Jožek, unser Jožek ist tot“, stammelt die Mutter Magdalena Kokot. Dann bricht sie zusammen. Niemand von der Gemeinde kondoliert, spricht sein Beileid aus.

Im Gegenteil: Man gibt – so wie dem zurückgekehrten Buben Andrej Kokot in der Schule der Nachkriegszeit – den Rat „die Sache zu vergessen“. Schon längst hat im Nachkriegsösterreich die Tabuisierung der NS-Vergangenheit, die Verdrängung des eigenen Beteiligtseins, die große kollektive Verleugnung des getanen Unrechts, der eigenen Schuld und Verantwortung eingesetzt, hat alle Gesellschaftsbereiche erfaßt und durchzogen. Die Ausrede, die Verharmlosung, oder ganz einfach das Verleugnen sind die Instrumentarien der Verdrängung.

Mehr als fünfzig Jahre lang nach den Geschehnissen und der NS-Diktatur hört man in Kärnten, in Österreich kaum etwas von der Slowenenvertreibung; setzt man sich nicht mit diesem Kapitel der österreichischen Geschichte auseinander. Im Gegenteil: Die Kärntner-Slowenen werden nur als Problem begriffen, sowohl von der Politik, von verschiedenen Parteien und Organisationen (Kärntner Heimatdienst), als auch von der Gesellschaft überhaupt, der Bevölkerung; besonders der deutschsprachigen in Kärnten. Dies kommt am deutlichsten und beschämendsten beim sogenannten Ortstafelsturm 1972 in Kärnten zum Ausdruck; und darin, wie die Landes- und Bundespolitik damit umgeht, nämlich durch Beugung des Rechtsstaates, durch politischen Pragmatismus, durch letztendliche Kapitulation vor Raudis und Antidemokraten, den Slowenenhassern; durch Kapitulation vor der Gewalt.

Auch die Opfer unterliegen einer Verdrängung ihrer traumatischen Erfahrungen: Ihrer Erfahrung des Ausgesetztseins, der Bedrohung und der Gewalt, ihrer existenziellen Gefährdung, der Angst und Hilflosigkeit, ihrer Stigmatisierung durch das Anderssein – durch eine andere ethnische Zugehörigkeit; und somit auch der zu einer anderen Sprache. Dies ist und bleibt bedeutsam; vorallem für einen kleinen Buben, der sich plötzlich vertrieben in der Fremde wiederfindet, gewaltsam hinausgeworfen aus dem schützenden Nest und der Geborgenheit seiner Kindheit und Heimat. Dies gilt auch für den späteren kärntner-slowenischen Dichter und österreichischen Schriftsteller Andrej Kokot. Er verbleibt in seiner inneren Abkapselung, so wie viele seiner Volksgruppe, er bleibt in einem Ghetto, das er nur
mit seinem Schreiben und in seiner Sprache durchbricht.

Erst ein halbes Jahrhundert später begibt er sich auf die Suche nach seiner Kindheit, nach den Spuren in den Aussiedlungslagern Nazideutschlands. Er fährt mit seiner Frau und zwei seiner Schwestern an diese Orte der Vergangenheit und Verschwiegenheit. Viele Spuren sind getilgt; auch aus dem Bewußtsein der Menschen. Viele wollen sich nicht mehr erinnern, auch nicht an die eigene Geschichte; oder verleugnen sie; schreiben sie um; nennen NS-Konzentrationslager sogar Straflager (der jetzige Kärntner Landeshauptmann Dr. Jörg Haider). – Strafe wofür? – muß man ob der Ungeheuerlichkeit eines solchen Ausspruches (nicht Ausrutschers!) fragen; angesichts der Ermordung von Josef/Jožek Kokot durch Erhängen in Mauthausen.

Das Ergebnis der Spurensuche von Andrej Kokot ist dieses Buch „ Das Kind, das ich war“.

Ein berührendes, ein ernstes Buch, das nachdenklich macht und machen soll. Das Ergebnis einer Erinnerungsarbeit durch Wiedervergegenwärtigung traumatischer Kindheitserlebnisse, auch wenn diese damals nicht so sehr den Buben Andreas Kokot, sondern erst viel später den Erwachsenen Andrej Kokot geprägt haben. Darüber hinaus ist dieses Buch ein Stück österreichische Gegenwartsliteratur, die sich mit Vergangenheitsbewältigung befaßt; wenn es so etwas überhaupt gibt. Vorallem aber ist es eine Mahnung, ein Warnzeichen, das wir – auch aufgrund neuer Umstände in unserem Land, in unserem Staat – dringend brauchen.


Genre: Erinnerungen
Illustrated by Drava Verlag Klagenfurt/Celovec in Kärnten / Österreich

Für das Leben und gegen den Tod

Kärntner Partisan

„Für das Leben, gegen den Tod“ lautet der parolenhafte Bekenntnistitel eines Buches des kärntner-slowenischen Autors und ehemaligen Widerstandskämpfers Lipej Kolenik, in dem er seine sehr persönlichen Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus und seinen Kampf dagegen mit dem Ziel der Befreiung Österreichs vom Faschismus zusammengefaßt hat.

Lipej Kolenik wurde 1925 in St. Margarethen bei Bleiburg/Šmarjeta pri Pliberku geboren und wuchs dort am elterlichen Bauernhof auf. 1943 wird er zur deutschen Wehrmacht einberufen, aus der er desertiert und sich den Partisanen anschließt. Im März 1945 wird er schwer verwundet. Nach Kriegsende ist er lange Zeit arbeitslos, wird – so wie viele andere österreichische Partisanen – diffamiert, wiederholt verhaftet, eingesperrt, als Verräter angesehen. Er bleibt politisch aktiv, ist heute im Vorstand des Kärntner Partisanenverbandes.

In seinen tagebuchartigen Aufzeichnungen ist er ein Chronist der Ereignisse, darüber hinaus aber ordnet er diese auch – seinem Welt- und Geschichtsbild entsprechend – zu einem Gesamtbild, sodaß ein facettenreiches Kaleidoskop der damaligen Zeit vor Augen geführt wird. Kindheit in ärmlichen Verhältnissen als Angehöriger einer in „Deutsch-Kärnten“ nicht geliebten und diffamierten Minderheit. Repressalien der nationalsozialistischen Machthaber. Vertreibung vieler kärntner-slowenischer Familien von ihren Höfen, Aussiedlung in Internierungslager in Deutschland, dort Zwangsarbeit. Unvorsichtige, Widerspenstige und Widerständler kommen gleich ins Konzentrationslager, zum Beispiel nach Mauthausen. Die wehrfähigen Männer werden zur deutschen Wehrmacht eingezogen, müssen dort in einer ihnen fremden und feindlichen Armee gegen andere Fremde und Feinde kämpfen. Manche desertieren, wenn sie auf Heimaturlaub sind, gehen zu den Partisanen; so auch Lipej Kolenik mit erfrorenem Fuß.

Er und seine Familie wissen um das lebensgefährliche Risiko. Trotzdem das Wagnis, die Entscheidung, gegen Hitler und die nationalsozialistischen Unterdrücker. Zu diesen gehören auch die fanatischen Ortsnazis aus Bleiburg, Völkermarkt, Klagenfurt. Partisanengebiet ist „Bandengebiet“. Gendarmerie und militärische Sondereinheiten durchkämmen die Wälder; durchsuchen die Höfe. Übergriffe, Massaker. Trotzdem Solidarität vieler Kärntner-Slowenen mit den Ihren, den Partisanen; aber auch Ablehnung und Verrat. Dann endlich Befreiung, Sieg.

Nach 1945 die große Enttäuschung. Die Engländer als Besatzungsmacht drängen die Partisanen zurück, paktieren sogar mit ehemaligen Nazis. Diese sind bald wieder oben auf, gesellschaftlich voll integriert. Die Partisanen sind es, die – weil viele von ihnen im Nationalen Befreiungskampf für der Anschluß an „Tito-Jugoslawien“ plädiert und auch dafür gekämpft haben und nun der „Osvobodilna fronta“, der politischen Organisation der slowenischen Partisanenbewegung angehören, die auch der KPÖ nahesteht – nun als Verräter und Nicht-Patrioten diffamiert und angefeindet werden; auch vom offiziellen Österreich.

Auf diesem Terrain vollzog sich das kämpferische, sozial-politische Leben des Lipej Kolenik. Er ist ein patriotischer Slowene, ein engagierter Mensch, ein Kämpfer gegen jede Form des Faschismus; ein Kämpfer für Gerechtigkeit und Freiheit.

Lipej Kolenik: „Für das Leben und gegen den Tod. Mein Weg in den Widerstand“. Mit einem Vorwort von Janko Messner. Drava Verlag, Klagenfurt, 2001. 256 Seiten, EUR 19,50. Slowenische Erstausgabe im Drava Verlag, 1997.


Genre: Erinnerungen
Illustrated by Drava Verlag Klagenfurt/Celovec, Kärnten, Österreich

Im Moos

Jenisch wird nuvos mehr tibert
Jenisch wird nicht mehr gesprochen

„Im Moos“ – so auch der Titel des Romans – auf einem abgelegenen Flecken am Rande einer Kleinstadt im Süden Kärntens lebt eine Sippschaft der Jenischen. Angehörige des einst im Alltag da und dort noch sichtbaren Fahrenden Volkes der Hausierer und Händler, der Kesselflicker, der Scheren- und Messerschleifer, die sich von den Gatschi (den Nicht-Jenischen) abgrenzten, durch ihre Sprache, besser gesagt: durch den von ihnen verwendeten reichen Wortschatz, den keiner verstand und versteht außer sie selber, der jedoch nur untereinander verwendet wird und nicht im Gespräch nach außen, weil man sein Jenisch-Sein wie ein Geheimnis, für manche wie eine Schande hütet und verbirgt.

Sie sind nicht mehr verfolgt wie in den Zeiten des Nationalsozialismus, da sie als „Asoziale“ sogar in den KZ landeten. Ihre Kinder werden nicht mehr dem Familienverband entrissen und in Heimen weggesperrt. Aber sie sind nach wie vor Ausgegrenzte, auch aus der Geschichte der Verfolgung. Sie werden nie irgendwo erwähnt, nicht als Volksgruppe angeführt und anerkannt. „Jenisch wird nuvos mehr tibert“: Jenisch wird nicht mehr gesprochen, wie sie selbst sagen. Der Beruf des Hausierers ist in Zeiten der Selbstbedienungsmärkte auch auf dem Lande und der Versandkatalog-Einkäufe nicht mehr gefragt; ist unmöglich geworden, ein Anachronismus. Und so wie diese Berufe der Hausierer und Messerschleifer ausgestorben sind, so stirbt damit auch die Sprache und Kultur der Jenischen aus. Und es ist nur mehr eine Frage der Zeit und der Assimilation, wann das Jenische endgültig gepegert (gestorben) sein wird.

Eine junge Jenische hat die Geschichte ihrer Großfamilie aufgeschrieben, als Debutroman vorgelegt; und vorher mit dem Manuskript den ersten Preis bei dem schon sehr bekannten österreichischen Literaturwettbewerb (Amerlinghaus Wien) „Schreiben zwischen den Kulturen“ gemacht. In diesem Buch zeichnet sie sich selbst als Jenische und als Angehörige dieses großen Familienclans. Da ist zunächst der Patrus (der Vater), Janas Großvater, das Familienoberhaupt, früher ein Mordskerl, jetzt ein alter, kranker Mann. Dann seine Frau Josefine, die ewig mit dem Patrus Konratio in Streit ist, die mit der traditionellen Berufs- und Lebensform, ja mit dem Jenischen überhaupt nichts mehr zu tun haben will; die sich davon emanzipieren und ein „normales Leben“ leben möchte, von dem sie glaubt, daß dies auch für ihre Kinder und Kindeskinder besser wäre.

Es ist Weihnachten. Die Großfamilie hat sich versammelt. Alle sind da. Dreizehn Personen sitzen um den gedeckten Tisch; warten darauf, daß die Kerzen auf dem Christbaum angezündet werden. Alles in einem etwas chaotischen Durcheinander. So sind sie eben: alle ein wenig verrückt; aber jeder eine Persönlichkeit. Ein jeder hat seine Eigenheiten, auch seinen Dickkopf. Und jeder und jede hat ihre Geschichte. Und alle Geschichten zusammen ergeben die Familiengeschichte, die sich überschaubar über die letzten hundert Jahre erstreckt. Ein Familienstammbaum mit weit verzweigten Ästen und tiefen Wurzeln ist aufgezeichnet in diesem Buch. Man weiß nicht immer genau – vorallem am Anfang – wer nun wirklich wer ist. Die vielen Namen und Verwandtschaftsgrade sowie Zugehörigkeiten purzeln durcheinander, bis sie sich im Lauf der erzählten Geschichten klären. Hauptpersonen gibt es und Nebenakteure, auch Gatschi, die in die Familie eingeheiratet haben, wie der Mann von Jana, Pawel, der Kärntner-Slowene, der aber kein Slowenisch mehr kann, dafür aber ein Schriftsteller ist oder ein solcher werden will. Janas Bruder, Igor, wiederum ist musikalisch talentiert, er hat sogar die Musikschule abgeschlossen und gibt Unterricht. Er taugt aber – ebenso wie Jana – nicht zum Hausieren, hat nicht das Talent, an fremde Türen zu klopfen und fremden Leuten was aufzuschwätzen, ihnen die Ware anzudrehen. Jana selbst hat sich nach Reisen und Aufenthalten in anderen Ländern und einigem Herumprobieren – auch bei Männern – der Malerei zugewandt und in Pawel einen fixen Partner und mit dem gemeinsamen Kind Nana einen Ruhepunkt in ihrem unruhigen Leben gefunden. Die Unruhe ist es überhaupt, welche diese Personen treibt – in Abenteuer, in Liebschaften, ins Anderssein; so als würde diese Unruhe und dieses In-Bewegung-sein eben zum Jenischen gehören, als Wesensmerkmal und Charakterzug aufgrund einer jahrhundertelangen Prägung.

Alle haben sie aber nun doch in den einfachen, selbstgebauten Häusern, die nahe beisammen auf dem moosigen Grund stehen, den der Großvater von Josefine, also der Ur-Ur-Großvater von Jana mütterlicherseits, um 1900 beim Kartenspielen gewonnen hat, ein Zuhause, so etwas wie eine Heimat gefunden; eine Heimat unter sich. Die einen leben dort, Generationen übergreifend in der Familiengemeinschaft, die anderen, die auswärts arbeiten oder anderswohin gezogen sind, kehren immer wieder dorthin zurück, wo ihre Wurzeln liegen: im Moos. Alle haben sie eine enge Verbindung zueinander, auch wenn es oft turbulent und chaotisch zugeht, der eine schweigsam ist, die andere etwas hysterisch. Alle kennen einander und wissen, wie sie miteinander umzugehen haben. Denn das richtet sich nach so etwas wie einem Gesetz.

Ereignisse werden erzählt von dem und jenem, von der und einer anderen. Lebensgeschichten. Charaktere werden gezeichnet. Menschenbilder. So werden Zusammenhänge sichtbar und nachvollziehbar. Jana geht allem nach, spürt alles auf, hinterfragt das Geschehen und diese Menschen, ihre Leute, setzt sich damit auseinander, warum etwas so ist, wie es ist; und was dieses So-Sein begründet, begründet hat. Und sie tut das manchmal behutsam, dann wieder ungestüm, immer aber respektvoll und mit Liebe. Sie kommt diesen Menschen, sie kommt ihrer Familie – und damit auch sich selber – auf die Spur. Beziehungen und Bindungen über das bloß Familiäre und Persönlich-Emotionale hinaus entstehen, und damit ein anderes, tieferes Gefühl für das Leben; und ein Wissen und ein Verständnis.

Am Ende der erzählten Geschichte stirbt der Großvater. Man findet ihn, mit dem man kurz zuvor noch im Auto gefahren ist und geredet hat, vom Schlag getroffen im Vorhaus liegen. „Der Patrus ist gepegert“ (Der Vater ist gestorben) schreit seine Tochter ins Telefon. Und alle kommen. Halten Totenwache. Schwächen Gfunkten (trinken Schnaps). Beten. Verabschieden sich vom Toten mit Berührung, Kuß, Tränen, Worten, Schweigen. Dann wird der Tote aus dem Haus geschafft. Und plötzlich ist es so, als seien mit ihm als Familienoberhaupt, der alles ein Leben lang zusammengehalten hat, auch alle Familiengeschichten und mit ihnen zugleich die Substanz dieser Sippschaft gestorben. Jedenfalls gibt es wieder einen Jenischen weniger. Und alle wissen, was das bedeutet.

Es ist ein berührendes Buch; vielleicht gerade deshalb so sehr, weil hier ohne Pathos, sondern mit Humor, mit einem gewissen selbstironischen „Augenzwinkern“ erzählt wird. Alles in diesem Buch ist turbulent; und das bedeutet lebendig. Auch wenn hier von einer aussterbenden Kultur, von einem Volk, das im Verborgenem lebt (Ceija Stojka) erzählt wird. Dieser Debutroman ist keine Talentprobe einer Jungautorin, nein, das ist spannende und ausgezeichnet geschriebene österreichische Literatur.

„Im Moos“ von Simone Schönett. Roman. Publikation PN1/Bibliothek der Provinz.
Weitra, 2001. 123 Seiten. EUR 14,40,-


Genre: Erinnerungen
Illustrated by Verlag Bibliothek der Provinz Großwolfgers/Weitra in Niederösterreich

Bündel – Budzo

Heimatlosigkeit

In zerrissenen Kleidern und schmutzigen Hosen
ziehe ich schon tausend Jahre durch die Welt…

„Budžo/Bündel“ heißt der in Deutsch und Romanes erschienene Gedichtband des serbisch-österreichischen Roma-Dichters Ilija Jovanović. Dieser, 1950 in Rumska in der Nähe von Belgrad geboren, lebt seit dreißig Jahren in Wien; in der Fremde, wie aus seinen Gedichten hervorgeht. Denn die Heimatlosigkeit ist das Thema seiner Gedichte, sowohl die persönliche als auch die seines Volkes, das seit Jahrhunderten fern der angestammten Heimat Indien durch viele Länder Europas und der übrigen Welt zieht; wo sich die „Zigeuner“ zeitweilig auch niedergelassen haben, dann wieder verfolgt und vertrieben oder zwangsassimiliert wurden, und ein Großteil schließlich auch der NS-Rassenideologie zum Opfer gefallen ist. Mehr als eine halbe Million Roma und Sinti wurden ermordet, kamen in den Konzentrationslagern um.

Immer ist das Bündel gepackt als Zeichen der ständigen Bereitschaft zum Aufbruch; in der Gewißheit der gemachten Erfahrung, nirgendwo willkommen, höchstens für eine begrenzte Zeit geduldet zu sein; und dann auch nur als ein Außenseiter, manchmal auch als ein Ausgestoßener. Unauslöschlich die Sehnsucht nach „einem fernen Ort, wo Menschen einander lieben…sich im Anderen suchen und finden“, wie es im Gedicht mit dem bezeichnenden Titel „Suche nach Frieden“ heißt. „Wir sind stets an Händen und Füßen gebunden“ – das ist die dichterische Metapher für Gefangenschaft, für ein Leben ohne Entfaltung und Entwicklungsmöglichkeit in einem identitätslosen, kulturlosen Getto mitten in unserer konsumorientierten Zivilisationsgesellschaft, an der „Zigeuner“ stranden und oft auch zerbrechen. „Wie ein Getreidekorn bin ich zwischen Mühlsteine geraten“ bekennt Jovanović.

Gott und die Liebe sind fern; unerreichbar. Das Erleben des Ausgestoßenseins wird zum Grundgefühl der eigenen Existenz. Ausweglosigkeit. Hoffnungslosigkeit. Dazwischen das Leben; zerrieben zwischen diesen beiden Mühlsteinen. Todesgedanken flackern auf, Todessehnsucht wird spürbar; vorallem in der Zeit, da auch die Natur abstirbt. „Der Herbst läßt Trauerfahnen über uns wegen. Der Tod freut sich…Alles, was mir lieb und teuer, ist von der Farbe des Todes befallen.“ Das ist kein psychopathologischer Ich-Befund. Hier geht es um mehr. Das individuelle Schicksal ist stets untrennbar mit dem seines Volkes verbunden. Von dorther leitet sich das individuelle existenzielle Grundgefühl ab. Und er kommt zu folgendem Resümee: „Verstummt sind wir. Zerstört ist unsere Welt, wir sind am Ende…Wir wissen nicht mehr, wohin.“ Aus der Sicht der unauflösbaren Ich-Zugehörigkeit zu seinem Volk lokalisiert er seine Existenz mit folgenden Worten: „Ich habe keine Heimat. Jahrhunderte lang schon habe ich keine. Armut, Hunger und Gewalt treiben mich von Ort zu Ort. Ich habe nichts, außer dem Wind im Rücken und das Grab vor mir.“ Nur die Liebe könnte retten; aber sie zerbricht oder bleibt in der Ferne – unerreichbar, unerreicht.

Das sind Gedichte als Lebensäußerung eines in Österreich lebenden „Zigeuners“ – jenseits aller operettenhaften „Zigeunerbaron“-Schablone mit ihrer diskriminierender Verlogenheit. Denn so „lustig ist das Zigeunerleben“ weder hier noch dort. Davon zeugt dieser Aufschrei einer verwundeten Seele, eines gequälten Menschen, der auch Zeugnis gibt für sein Volk.

Ilija Jovanovic 1950-2010
Nachruf von Peter Paul Wiplinger

Magazintext | erschienen in Wienzeile 59

Ein bedeutender, aber weithin unbekannter Dichter ist tot: der serbisch-österreichische Roma-Dichter Ilija Jovanovic. Verfasser von zwei Gedichtbänden: „Budzo / das Bündel“ (EYE Literaturverlag, 2000) und „Dromese rigatar / Vom Wegrand“ (Drava Verlag, 2006).

Keines der beiden Bücher hat mehr als 100 Seiten zweisprachiger Lyrik. Und doch ist in den Gedichten dieser beiden Bücher das ganze Leben des Dichters Ilija Jovanovic erfaßt, festgehalten und ausgedrückt: Die unerfüllte Sehnsucht des heimatlosen Rom Ilija Jovanovic nach dem, was es für ihn nie gegeben hat: Heimat. Dokumentation des ausgesetzten Einzelnen als Paradigma für sein Volk; das Volk – ich sage es jetzt bewußt so – der Zigeuner. Das Heimatlossein im Ausgesetztsein, in einem Grenzland, nein mehr noch, in einem Land jenseits der sie oftmals umgebenden luxuriösen und umso brutaleren „Zivilisation“. Und die Beschimpfung als „dreckiger Zigeuner“, „Asozialer“, als „Gesindel. Man siedelt sie aus, an den Rand der Städte und Orte; man treibt sie wieder zurück in ihre Herkunftsländer. Die Juden wollte man als menschliche Lösung einmal nach Madagaskar oder Uganda aussiedelten, sie landeten aber dann im Gas von Auschwitz-Birkenau, Bergen-Belsen und anderswo; ebenso die Zigeuner. Aber „das ist längst vorbei“, sagen die Kultivierten, die Zivilisierten. So denken die Mächtigen, die Politiker; sagen: „Wir haben ein Roma-Problem!“. Und schicken die Menschen mit ihren Bündeln irgendwohin wieder zurück; in ihre „Heimat“, in ihr „Herkunftsland“; in ihr Elend, in ihre Chancenlosigkeit, in ihr Verstoßensein, in ihre Würdelosigkeit, in ihr „Zigeunersein“.

Das ist die Wahrheit und zugleich die Realität. Und das war in meinem Freund Ilija, das hat auch er erfahren, erlebt, durchlitten, aufgezeichnet, literarisch festgehalten. Das hat ihn in seiner Grundstimmung so traurig, so voller Wehmut und Melancholie gemacht, die ihn oft niederdrückte. Das hat ihm als lebenslange Begleiterscheinung neben seiner Krankheit so früh das Leben gekostet.

„Vom Landarbeiter zum Dichter“. So könnte man seinen Lebensweg betiteln. Geboren wurde Ilija Jovanovic am 25. Februar 1950 in Rumska nahe Belgrad in Serbien, als einziges Kind einer sehr armen Roma-Familie. Schon als Kind arbeitete er als Erntehelfer und dann überhaupt in der Landwirtschaft. Diese Kindheitsprägung findet sich Jahrzehnte später spurenhaft in seinen Gedichten wieder. Das reifende Korn, die schwarze Erde, der Gesang der Vögel u.a. sind immer wiederkehrende Metaphern in seinen Gedichten. Er besuchte in Rumska einige Klassen der Grund- und anschließend sogar die Hauptschule. Also war sein Bildungsstreben bereits damals vorhanden. Dann der Pflicht-Militärdienst in der Jugoslawischen Volksarmee. Tito-Patriotismuskult und Geschundensein; jahrelang, irgendwo. Vielleicht trieb ihn das schon damals in seine innere Emigration. Mit 20 Jahren hatte er bereits eine Familie mit drei Kindern. Einfach nur üblich bei einer Zigeunerfamilie; oder glaubte er, die Familie sei seine Rettung, ein Ort der Geborgenheit, den er nie und nirgendwo, auch nicht in seiner eigenen Familie, gefunden hat? 1971 erfolgte seine Übersiedlung nach Wien. Die Frau kommt später nach. Die Kinder bleiben bei den Großeltern. Er hofft, sich eine „anständige Existenz“ aufbauen und der Armut entrinnen zu können? Ilija arbeitet zuerst zwei Jahre lang in einer Metallfabrik und anschließend 25 Jahre als Apothekengehilfe in den Wiener Spitälern AKH und Rudolfstiftung. Das Medikamentendepot lag im Keller. Ich fragte ihn einmal, ob das nicht unerträglich sei, jahrzehntelang die meiste Zeit kein Tageslicht zu sehen und unter der Erde zu leben. Er antwortete darauf: „Nein, das ist für mich richtig, dort gehöre ich hin, dort bin ich ja: unter der Erde.“

Schon früh (1975) begann Ilija, der in Wien in einer Abendschule seinen Hauptschulabschluß gemacht hatte, sich mit Literatur zu beschäftigen; in drei Sprachen: in Romanes, Serbisch und Deutsch. Er las viel. Er liebte das Lesen, die Literatur. Dann begann er, selbst zu schreiben. Er wandte sich von Anfang an der Lyrik zu, machte eigene Gedichte, tat dies auch mit Erfolg. Bald schon kam es zu Publikationen, sogar zur Auszeichnung eines Gedichtes von ihm, später zu Buchpublikationen und Lesungen, zu Stipendien und Preisen (Theodor-Körner-Preis 2000, Exil-Lyrik-Preis 2010). Im Jahr 2008 erhielt er das Bundes-Ehrenzeichen für Verdienste um den interkulturellen Gedichte.
Und: „Wir gehen und gehen /
wissen nicht, /
wie lange und wohin“ in einem
anderen.
Bezeichnend und erschütternd zugleich die Aussage:
„Ich habe keine Heimat /
…ich habe nichts, /
außer den Wind im Rücken /
und das Grab / vor mir.“
Ilija war aber auch ein Glaubender und Hoffender, der sowohl an den ihn erlösenden Gott als auch an die Möglichkeit des Menschen zur Humanität glaubte. Beides gab ihm Halt und in beidem stellte er sich selbst doch zugleich immer wieder in Frage. Ilija war ein Suchender; manches fand er mit und in seinen Gedichten, in seinem Dichten. Er war aber vor allem ein Liebender, einer der liebte und gleichzeitig in diesem Lieben litt.

„Ich liebe die Liebe / weiß aber nicht, / was das ist…“
So sein Bekenntnis.

Wir haben ihn am 7. Dezember zu Grabe getragen, am Wiener Zentralfriedhof wurde er in die Erde gebettet; in die Erde, in der er ein Leben lang verwurzelt war. Kalt war es und weiß verschneit war alles rundum. Ilija hat das Grün geliebt, das Grün der Wiesen und Wälder; und das wogende Korn. Er hat seine Kindheit geliebt, die Erinnerung daran. Ein Kreis hat sich nun geschlossen mit und in seinem Tod. Hinterlassen hat er uns seine Gedichte; in denen wir ihn wiederfinden können, weil er in ihnen lebt.

Wien, 7.-10. Dezember 2010


Genre: Lyrik
Illustrated by EYE-Verlag Landeck in Tirol

Der private Abendtisch

Mari, eine Frau um die Vierzig, als Einzelkind aus einer ordentlichen, bürgerlichen Familie – Vater Lehrer, Mutter Hausfrau, stammend, eigensinnig, eigenwillig, eigenbestimmt, extravagant, außergewöhnlich, geht ihren eigenen Weg, ihren Lebensweg. Der wird an einem dramatischen Wendepunkt ausschnitthaft in einzelnen Sequenzen, schlaglichtartig beleuchtet, in achtunddreißig kurzen Kapiteln erzählt.

Mit siebzehn Jahren Schulabbruch. Sie reist ihrem ersten, älteren Geliebten, für den sie nur ein Stück Jugend ist, nach Rom nach. Dort lernt sie kochen, wie eine römische Mamma, das heißt: Einfaches köstlich und raffiniert. Das ist das Einzige, was sie wirklich gelernt hat und kann, das wird zu ihrer Lebensgrundlage. Sie betreibt mit ihrer Freundin Vera den „Privaten Abendtisch“, dreimal die Woche. Mari kocht, Vera kümmert sich um die Getränke. So hat sie es sich eingerichtet im Leben; nach jahrelangem Herumziehen mit ihrem Mann Björn, einem egomanischen Musiker. Man lebt getrennt. Sie mit ihren halberwachsenen Kindern, den beiden Zwillingen Max und Mimi im Haus von Björn. Der zieht weiter herum, mit seiner Band und seinen Weibergeschichten. Auch Mari hat (gerne) ihre wechselnden Liebhaber als Abwechslung im stets gleichen und doch so aufreibenden Alltag. Das Leben verläuft so dahin.

Bis plötzlich eines Tages die Würgeanfälle kommen, unerklärbar woher und warum; und mit ihnen die unerträgliche Angst davor. Und die Angst vor dem Ersticken dabei. Nein, sie gehen nicht einfach so vorbei, im Gegenteil, sie werden häufiger, intensiver, bringen das gewohnte Leben aus dem (scheinbaren) Gleichgewicht. Eine Psychoanalytikerin und Psychotherapeutin geht der Sache nach und ihr auf den Grund. Ergebnis: Kindesmißbrauch im frühesten Alter, im Babyalter, durch den eigenen Vater, für den Mari eine Totalversagerin ist. Unglaublich: ein solcher Inzest. Babyfick-Oralbefriedigung am eigenen Kind. Eine Ungeheuerlichkeit. Davon gibt es auch kein Kindheitserinnerungsbild; nein, noch zu früh geschah „das/es“. Aber der Körper hat sich eben aus irgend einem Grund plötzlich oder sich an den Abgrund annähernd, erinnert; und darauf reagiert: mit den unerträglichen Würgeanfällen. Nun ist alles aufgedeckt. Wie lebt man weiter? Die Kinder sind beim Großvater auf Urlaub. Kommen heim. Wie sagt man ihnen, was los ist; muß/soll man es ihnen sagen? Der eigene Vater! Ihr Großvater! Den man trotz seiner unerträglichen Überheblichkeit und Schulmeisterhaftigkeit doch irgendwie geliebt hat. Liebe schlägt in Haß um. Nein: Gleichgültigkeit. Dieser Vater ist jetzt für sie gestorben; die Mutter sowieso schon wirklich. Ich spucke auf ihr Grab, denkt Mari, tut es aber doch nicht. Frage am Grab: Hast du was davon bemerkt, etwa gar weggeschaut? Wer fickt noch alles seine Babys? Alles Babyficker, die da herumstehen, am Busbahnhof, in Kaufhäusern, sonstwo. Eine verfickte Babyfickerwelt Und da soll man denen noch ihr Essen kochen und servieren, damit man irgendwie Geld verdient und über die Runden kommt. Wie konfrontiert man den Vater damit, daß man es nun weiß, sein Geheimnis, das was einen fürs ganze Leben stigmatisiert hat, von dessen Stigmatisierung der Körper wußte und das man nun als erwachsene Frau mit Gewißheit weiß? Nein, Reden kommt nicht mehr infrage. Mari schreibt einen Brief, kurz, knapp: Ich weiß nun, was Du getan und mir angetan hast. Vom Vater keine Antwort. Weder Abstreiten noch Entschuldigung. Auf eine solche wartet Mari. Oder doch nicht wirklich. Denn sie kennt ihren Vater, den Herrn Lehrer. Nein, keine Konfrontation, keine Aussprache, Versöhnung ist sowieso nicht möglich. Nur: Überleben!

Aber auch das wäre nicht möglich, wenn es nicht Anton gäbe in ihrem Leben , jetzt, gerade zur richtigen Zeit. Anton, der kein Liebhaber ist, sondern ein liebevoller Freund, der zum Lebensgefährten wird, schon geworden ist. Anton, der sich wirklich um sie kümmert, sie nicht sexuell ausbeutet als Gelegenheitsfick. Nein, Anton ist endlich der Mann, der sie liebt. Und dann gibt es natürlich noch die beiden Kinder, die jetzt aber schon – sie haben sogar beide gerade maturiert – ihr eigenes Leben leben. Aber kaum daß man überlebt hat, geschieht eine weitere Katastrophe: Vera, die einzige wirkliche Freundin, mit der Mari jahrelang gearbeitet und die an ihrem Leben teilgenommen hat, bringt sich um, einfach so, unbegreiflicherweise. Immer war sie für Mari da, aufgeschlossen, in sich selber verschlossen; daß sie einen Sohn hatte, blieb ihr Geheimnis; von wem bleibt ungewiß. Und da stehen sie nun zur Verabschiedung vor dem Sarg, bevor der abfährt in den Verbrennungsofen. Alle stumm. Acht Menschen, die nichts zu sagen haben, nicht sagen können in einer solchen Abschiedssituation. Was sollte man einem toten Menschen, einem Leichnam denn auch sagen können, ohne daß es abgeschmackt klingt, Bruchstück einer nicht zelebrierter Zeremonie. Dann geht man zum Leichenschmaus. Niemand ißt was. Alle trinken nur, zu viel. Auf Vera! So endet dieser Lebensabschnitt in Maris Leben, in Trauer und Tod. Aber doch auch mit einem hoffnungsvollen Lichtblick: Anton und Mari brechen auf in ein neues Leben, in ihr Leben, lassen alles Bisherige hinter sich, beginnen ein neues Leben, irgendwie, aber jedenfalls zusammen, in einem kleinen Haus. „Für mich klingt das eher nach Bruchbude“, meint Mimi. „Keine Bruchbude“ erwidert Mari; und fügt hinzu: „ganz und gar nicht, die innere Architektur ist intakt“. „Und darin willst du leben?“ – fragt Mimi. Und Marie sagt lächelnd: „Ja“.

So endet der Text in diesem Buch, das Tabuisiertes aufzeigt, nichts verschweigt, das ergreift, berührt, provoziert, das unsentimental und unromantisch ist, die Dinge beim Namen nennt, das schonungslos ist, stellenweise erschüttert, gerade durch die lapidare aber präzise Darstellung des Abgründigen. Ein Buch, das von der Wirklichkeit spricht, in der die Wahrheit, die Wirklichkeit stets hinterfragend und sie sezierend, gesucht und in ihr gefunden wird. Ein Buch, das als ein wichtiges und hervorragend geschriebenes in die österreichische Literaturlandschaft gehört; so wie die eigenwillige jenische Autorin Simone Schönett.


Genre: Frauenliteratur
Illustrated by Verlag Johannes Heyn Klagenfurt / Österreich

Atsinganos (Die Unberührbaren)

Ein wichtiges Buch, ein berührendes Buch, ein großartiges Buch, ein gut geschriebenes Buch. Gerade durch seine Einfachheit und Schlichtheit; ohne jedes Pathos, obwohl es vom Leiden handelt, von der Stigmatisierung einer Menschengruppe, von Menschen, die vom nationalsozialistischen Rassenwahn zu „Untermenschen“, ja zu „Ungeziefer“ erklärt wurden, von burgenländischen Österreichern, von seit Jahrhunderten im Burgenland ansässigen Roma.

Ein Buch, in dem die schrecklichen Leidenstragödien bei den wenigen Überlebenden des auch an den Roma und Sinti verübten nationalsozialistischen Völkermordes, streiflichtartig erhellt, für kurze Zeit aufleuchten. Sie werden anhand von Einzelschicksalen der Überlebenden (von ca. 360 Personen nur ein Dutzend) aus der ehemaligen Oberwarter Roma-Siedlung geschildert, deren Familien systematisch ermordet worden waren. Dennoch sind diese Überlebenden in ihre Heimat zurückgekehrt, wo sie dann wiederum jahrzehntelang so wie vorher „ausgegrenzt“, d.h. gedemütigt, verachtet, entwertet, unerwünscht abgeschoben wurden, an den Stadtrand. Neben der rauchenden und stinkenden Mülldeponie, in miserablen Unterkünften mußten sie hausen, im sozialen Ghetto, im Elendsquartier, im Niemandsland; in einem neuerlichen harten und demütigenden Überlebenskampf. Das ist die Schuld des Mehrheitsvolkes, der Bevölkerung, der Stadt Oberwart, des Burgenlandes, der Regierung, überhaupt jene der Republik Österreich.

Ein Erinnerungsbuch, ein Gedenkbuch; in liebevollem Verbundensein mit dem eigenen Volk geschrieben. Das Buch eines zutiefst Betroffenen, auch durch den gewaltsamen Tod seines Sohnes infolge des Bombenattentats vom 4. Februar 1995. Die Großeltern samt ihren Geschwistern, Verwandten, Freunden waren in den Konzentrationslagern ermordet worden, der Vater hatte sechs Jahre in verschiedenen KZ überlebt. Alle Zurückgekehrten waren lebenslang Opfer der rassistischen Unmenschlichkeit und der erlittenen Leiden. Sie waren von schwersten Traumata aus ihrer KZ-Zeit stigmatisiert. Und das bestimmte ihr weiteres Leben. Da ist das, was mit dem Wort „Wiedergutmachung“ alles an Verlogenheit abdeckt wird, eine einzige Verhöhnung. Und jene, die einst beim Abtransport der etwa 360 Roma aus der Oberwarter Roma-Siedlung unter fanatischen „Heil-Hitler!-Rufen“ geklatscht und die Roma angespuckt hatten, die saßen „nachher“ noch immer genauso wohlbestallt und unbehelligt in ihren Häusern, in ihren Ämtern, an ihren Schreibtischen, an ihrem Arbeitsplatz; sie alle waren hochangesehene Bürger dieser Stadt. So wie das überall war. Der Krieg war zwar verloren, Millionen waren in den KZ umgebracht worden, aber das Nazi-Gedankengut und der Rassismus hatten überlebt und verbreiteten sich weiterhin wieder. Nein, ein neues Österreich wurde nicht aufgebaut, ein neues Österreich ist nicht entstanden, das gibt es bis heute nicht.

Das sind jetzt meine Gedanken, das ist mein Urteil. Der Buchautor spricht nicht direkt davon, er klagt nicht an, nein, er läßt diese Bitterkeit nur zwischen den Zeilen durchschimmern, sie kommt aber hoch, sie ist da in ihm, auch als Verstörung. Aber er rechnet nicht ab und keine Schuld auf. Er zeigt jedoch an den Einzelschicksalen und deshalb umso eindringlicher und berührender auf, wie dieses Ineinanderverwobensein von NS-Ideologie und gewöhnlichem Alltagsrassismus – im konkreten Fall gegen “die dreckigen Zigeuner, die der Hitler vergessen hat zu vergasen“ (so eine Stimme aus der Nachkriegszeit) – weiter bestand; und den Nährboden aufbereitete, auf dem dann die Briefbombenattentate eines Franz Fuchs geschehen konnten. Und doch erstarrt der Autor nicht in Verbitterung, sondern schreibt dieses Buch und ruft darin auf zur Versöhnung, weil er selbst ein bewundernswerter Versöhnungsmensch ist.


Genre: Erinnerungen