Der Richter und sein Henker

duerrenmatt-1Böses mit Bösem bekämpfen

Als frühes Werk des Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt ist «Der Richter und sein Henker» 1950 zunächst als Fortsetzungsroman in einer Wochenzeitschrift veröffentlich worden, er wurde später mehrfach verfilmt. Der Reiz dieses Krimis liegt hauptsächlich darin, dass hier ein Dramatiker am Werke war, der äußerst knapp und konzentriert so erzählt, wie es bei einer Bühnenfassung erforderlich wäre, verständlich also und einfach nachvollziehbar. Es wird wenig ausgeschmückt, der Text bleibt beim Wesentlichen, und es geht Schlag auf Schlag, nicht atemlos, aber zielstrebig. So ist denn auch nach gerade mal hundert Seiten der Fall gelöst und lässt einen verblüfften Leser zurück.

In zwanzig Kapiteln entwickelt Dürrenmatt seine Geschichte vom Kampf zweier Männer, die im Suff vierzig Jahre vorher in Istanbul eine makabre Wette geschlossen hatten: der Berufsverbrecher Gastmann hatte damals gewettet, vor den Augen seines Widerparts, des Kriminalkommissars Bärlach, einen Mord zu begehen, den dieser ihm nicht nachweisen könne. Und Gastmann hat diese Wette gewonnen, – seither hat Bärlach nur noch einen Wunsch, seinen Kontrahenten von damals zur Strecke zu bringen. Als sie nun bei den Ermittlungen des inzwischen in Bern tätigen «Kommissärs» im Mordfall an einem seiner Mitarbeiter erneut aufeinandertreffen, weil Gastmann verdächtigt wird, erklärt der lapidar, auf die Wette anspielend: «Ich rate dir, das Spiel aufzugeben. Es wäre Zeit, deine Niederlage einzusehen.» Es sieht auch ganz so aus, als würde Gastmann, durch höchste politische und wirtschaftliche Kreise gedeckt, sich den Ermittlungen auch diesmal wieder entziehen können, und das, obwohl er für den vehement gegen ihn ermittelnden Kriminalassistenten Tschanz dringend tatverdächtig ist. Der alte Bärlach gibt sich nicht geschlagen: «Es ist mir nicht gelungen, dich der Verbrechen zu überführen, die du begangen hast, nun werde ich dich eben dessen überführen, das du nicht begangen hast.» Als Gastmann ihm den Tod androht in diesem letzten Gespräch vor dem Showdown, entgegnet der Kommissar: «Du irrst dich. … Du wirst mich nicht töten. … Ich habe dich gerichtet, Gastmann, ich habe dich zum Tode verurteilt. Du wirst den heutigen Tag nicht mehr überleben. Der Henker, den ich ausersehen habe, wird heute zu dir kommen.»

Dieser Roman ist ein Krimi im klassischen Sinne mit einem Verbrechen und dem zugehörigen Detektiv, allerdings verschiebt sich hier die logische Abfolge, denn der Täter ist dem Kommissar längst bekannt, er ermittelt bewusst falsch, um eine Situation heraufzubeschwören, die seinem egoistischem Ziel der Selbstjustiz dient. Sich über alle moralischen Bedenken hinwegsetzend spielt Bärlach sich zum Richter auf und sorgt zudem dafür, dass sein Todesurteil auch sofort vollstreckt wird. Er löst damit gleichzeitig den aktuellen Fall, denn indem er den Mörder auf seinen ewigen Widersacher hetzt, treibt er letztendlich beide in den Tod, – Böses mit Bösem zu bekämpfen gerät hier also zur Katharsis.

In lakonisch knapper Sprache, mit kurzen, einfachen Sätzen, ironisch und zuweilen amüsant, schildert der Autor das turbulente Geschehen, lässt seine kühl und distanziert beschriebenen Protagonisten agieren. Der Plot weist logische Fehler auf, die mich sehr gestört haben: Kein Dorfpolizist, auch keiner aus der Schweiz, würde einen soeben aufgefundenen Ermordeten in dessen Wagen vom Tatort weg zur Wache fahren! Wer lässt sich schon von einer scharfen Dogge anfallen, damit der Kollege sie erschießt und er so zu einer Kugel aus dessen Dienstwaffe kommt? Welcher Kriminalpolizist schießt, selbst angeschossen, mit nur drei Schüssen gleich drei gefährliche Gangster tot? Wilhelm Tell lässt grüßen! Es gibt Dergleichen mehr zu beanstanden, -Fiktion hin, Fiktion her, etwas Realitätsnähe hätte der philosophisch ja interessanten Thematik gut getan. Was also soll der Hype um diesen Roman? Er ist weder ein überzeugender Krimi noch gar ein literarisch hochstehendes Werk!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Die Korrekturen

franzen-1Vom Scheitern der Familie

Mit seinem dritten Roman ist dem amerikanischen Gegenwartsautor seinerzeit der Durchbruch gelungen. Auch hier steht das scheinbar unaufhaltsame Auseinanderfallen der klassischen Familie im Mittelpunkt, wobei Jonathan Franzen geradezu sezierend deren einzelne Mitglieder als auch das soziale Gesamtgefüge bloßlegt, sie gekonnt vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen in ihre Grundelemente zerlegt.

Wir haben es mit fünf Protagonisten zu tun, die jeder für sich als Prototypen verschiedener Charaktere und konträrer Lebensentwürfe angesehen werden können. Enid, frömmelnde und einer überholten, geradezu kitschigen Vorstellung von Familie nachhängende Mutter, träumt vom letztmaligen gemeinschaftlichen Weihnachtsfest der gesamten Familie. Bei Alfred, ihrem herrschsüchtigen und altersstarrsinnigen Ehemann, sind erste Anzeichen von Demenz zu erkennen, und inkontinent ist er auch noch. Sohn Gary, scheinbar erfolgreicher Banker, entspricht am ehesten den Idealen seiner Eltern, ist aber depressiv und hat erhebliche Ehe- und Alkoholprobleme. Chip, honoriger Literaturprofessor, verliert wegen einer Affäre mit seiner Studentin die Stellung, scheitert als Autor und wird in äußerst dubiose Geschäfte in Litauen verwickelt. Denise schließlich, hochbegabte Gourmet-Köchin, verliert ihren Job, weil sie eine leidenschaftliche Affäre mit der Frau des Chefs hat und irgendwann dann auch noch mit dem Chef selbst im Bett landet.

Eindringlich und detailreich schildert Franzen in breit angelegten Rückblenden die Biografien seiner Figuren, durchleuchtet deren kompliziertes Beziehungsgeflecht. Wir erfahren von Ehekriegen, Krankheiten, Altersqualen, Depressionen, lesbischen Beziehungen, Trennungen, Niederlagen und Triumphen, von allen familiären Irrungen und Wirrungen einer Familie aus dem Mittleren Westen der USA. Vor dem interessierten Leser wird in einem simplen Plot, dessen Höhepunkt das missglückte Weihnachtsfest ist, pessimistisch der Niedergang der herkömmlichen Familie vorgeführt, dargestellt am Beispiel der verkorksten Vita sämtlicher Figuren.

All das ist so üppig angelegt und emotional überfrachtet, dass man unwillkürlich an alte Hollywoodfilme erinnert wird, bei denen man auch nicht viel nachdenken musste, weil einem alles so mundgerecht serviert wurde. Dieser monumentale, amerikanische Erzählstil erinnert an John Updike, Philip Roth oder John Irving, ohne allerdings deren literarische Qualität wirklich zu erreichen. Das Buch mit seinen 780 Seiten liest sich sehr flüssig, und es findet sich auch einiges Amüsante dabei, die Senioren-Kreuzfahrt gegen Ende der Story ist ein gutes Beispiel dafür. Wer sich unangestrengt und extensiv unterhalten lassen will als Leser ist hier bestens aufgehoben.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Wohin der Wind uns weht

Kein Klassipedro-1ker in spe

Der im portugiesischen Original 2012 erschienene Debütroman von  erhielt in der deutschen Übersetzung den deskriptiven Titel «Wohin der Wind uns weht». In einem kleinen Epos wird die Geschichte der Familie Mendes erzählt, drei Generationen umfassend bis in die Gegenwart und gespiegelt an den politischen Geschehnissen dieser Zeit. Der Autor, als Ingenieur arbeitslos geworden, hat dazu erklärt: «Ich war kein guter Ingenieur. Denn ich dachte die ganze Zeit an Literatur. Darum wurde ich wahrscheinlich auch entlassen. Aber das bot mir die Gelegenheit zu schreiben.» Die Rezeption seines Erstlings war allenthalben positiv, euphorisch wurde ihm von der portugiesischen Wochenzeitung Expresso gar ein Platz unter den Klassikern der Weltliteratur prognostiziert. Ein Wunder also, oder übertriebene Lobhudelei?

Zeitlich effektvoll startet die Geschichte am 25. April 1974, dem Beginn der Nelkenrevolution, mit der sich die Portugiesen von einer mehr als vierzigjährigen Rechtsdiktatur befreit haben. An diesem Tage «schnallte sich Celestino weit vor sieben Uhr den Patronengürtel um, schulterte die Browning, prüfte, ob er noch Tabak und Blättchen hatte, vergaß die Uhr an dem Nagel, wo außerdem ein Kalender hing, und verließ das Haus.» Vierzig Jahre zuvor hatte Großvater Augusto Mendes, auf der Suche nach dem einfachen Leben, seinem Freund Policarpio dessen verfallenes Haus in einem abgelegenen Gebirgsdorf Zentralportugals abgekauft und sich dort als Arzt niedergelassen. Er hatte damals dem Freiheitskämpfer Celestino bei sich Unterschlupf gewährt, ihm mit einem Glasauge neuen Lebensmut gegeben, aber jetzt hat ihn das Schicksal doch noch erreicht, er wird ermordet aufgefunden. Es gehört zu den Eigenarten dieses fragmentarisch erzählten Romans, dass auch diese nur unvollständig skizzierte Episode gleich zu Beginn erst ganz am Ende noch mal kurz erwähnt wird, Näheres erfährt man auch dort nicht. Von Policarpio wiederum bekommt Augusto jedes Jahr einen Brief, lückenlos vierzig Jahre lang, er schreibt aus aller Herren Länder, von allen Kontinenten, und führt offensichtlich ein abenteuerliches Leben.

Diese Briefe bilden eine lose Klammer im Plot und spielen auch am Ende eine Rolle, tragen ein wenig bei zu Klärung offener Fragen, von denen es viele gibt in diesem Roman. Zentrale Figur darin ist Duarte, Enkel von Augusto Mendes, ein lebensuntüchtiger Außenseiter, gleichzeitig aber auch musikalisches Wunderkind. Sehr bald aber wendet er sich von Mozart ab, mag irgendwann dann auch Beethoven nicht mehr, zuletzt sogar Bach. Er hasst plötzlich die Musik, hasst sein pianistisches Talent, kann dem dadurch entstandenen Erwartungsdruck nicht standhalten und beendet abrupt seine Karriere. «Nicht ich habe angefangen, Klavier zu spielen. Das waren meine Hände» erklärt er lapidar seinen Sinneswandel. Sein Vater Antonio wiederum kehrt als psychisches Wrack aus dem Kolonialkrieg in Afrika zurück und ist erstaunt, dass seine Frau ihn mit dem kleinen Duarte am Kai erwartet.

Episodenhaft präsentiert Pedro uns ein wahres Labyrinth an Erinnerungsspuren in wunderbar poetischen Bildern, jedes Kapitel hat bei ihm seinen eigenen Stil. Ein schönes Beispiel dafür ist die berührende Episode der beinamputierten Malerin mit dem blauen Kopftuch, die sich in dem Ölgemälde «Der Kampf zwischen Karneval und Fasten» von Pieter Bruegel wiedererkennt. Eine spezifisch portugiesische Melancholie, erklärt der fabulierfreudige Autor, «die wir Saudade nennen und welche die Menschen prägt», kennzeichne seine Prosa. Zuweilen aber fällt sie auch dezent ironisch aus und ist dann amüsant zu lesen, auch wenn sie mir sprachlich nicht immer wirklich gelungen erscheint. Durch eine extrem fragmentarische Erzählweise, kryptische Anspielungen und komplizierte Verschachtelungen des Plots entstehen störende Verständnislücken, die auch mit viel Phantasie und Intuition kaum zu füllen sind. Zum Klassiker dürfte dieses eigenwillige Werk wohl kaum taugen!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Frühstück bei Tiffany

 

capote-1Satire auf New Yorks Schickeria

Im Werk des in New Orleans geborenen Schriftstellers Truman Capote markiert der 1958 erschienene Kurzroman «Frühstück bei Tiffany» einen Höhepunkt seines vielseitigen Schaffens, das durch seine Tätigkeiten als Drehbuchautor und Schauspieler dem Film stets eng verbunden war. Ein Jahr nach der amerikanischen Erstausgabe erschien der Roman bereits in deutscher Übersetzung, 1961 folgte dann die berühmte Verfilmung des Stoffes mit Audrey Hepburn und machte die Geschichte von Holly Golightly einem weltweiten Publikum bekannt. Wie so oft kann aber auch hier der Film nicht wirklich überzeugen, wenn man ihn mit dem Buch vergleicht, also heißt es selber lesen, will man die berühmte Erzählung unverfälscht und ungeschmälert in allen ihren Facetten goutieren.

Im Mittelpunkt der Geschichte, die zeitlich im Zweiten Weltkrieg angesiedelt ist, steht die unkonventionelle 19jährige Holly Golightly, deren in etwa mit «Leichtfuß» übersetzbarer Nachname schon ihren Lebenswandel andeutet, sie schlägt sich frech und unbekümmert als Partygirl durchs New Yorker Nachtleben. Ihre diversen Verehrer nimmt sie erfindungsreich und gnadenlos aus, ohne ihnen entgegen zu kommen, als attraktive Frau auch nur ein wenig von dem zu bieten, wonach sie alle lechzen. Namenlos bleibender Ich-Erzähler ist ihr mutmaßlich schwuler Nachbar, der sich schon bald als einziger echter Freund erweist in einer ansonsten platonischen Beziehung. Denn nicht immer ist Hollys Leben lustig und unbeschwert, und wenn sie den Koller bekommt, das «rote Grausen», wie sie es nennt, dann ist wieder ein Besuch bei Tiffany fällig, dem Juwelier in der Fifth Avenue, – nicht als Kundin, nur der besonderen Atmosphäre wegen, die sie dann immer rasch wieder aufrichtet. Ihr Charme, ihre Cleverness und Unverfrorenheit helfen ihr zuverlässig über alle Klippen. Schlussendlich will sie José heiraten, einen brasilianischen Diplomaten, von dem sie ist schwanger ist und mit dem sie nach Rio de Janeiro ziehen will.

Aber sie hatte vor einiger Zeit unbedarft einen Job angenommen, der ihr jeweils hundert Dollar einbringt, nämlich Sally Tomato wöchentlich im Zuchthaus Sing-Sing zu besuchen. Die harmlos scheinenden Botschaften, die er ihr dabei mündlich mitgibt, werden ihr zum Verhängnis, sie wird verhaftet unter dem Verdacht, für den Mafiaboss gearbeitet zu haben. José trennt sich daraufhin von ihr, um sein Ansehen besorgt. Holly erleidet eine Fehlgeburt, flieht aus dem Krankenhaus und nutzt kurz entschlossen ihr Flugticket nach Rio, danach hört der Erzähler nichts mehr von ihr. Bis eines Tages eine Postkarte eintrifft: «Brasilien war scheußlich, aber Buenos Aires ganz toll. Nicht Tiffany, aber fast. Bin hüftabwärts mit himmlischem Señor verbunden. Liebe? ich glaube nicht. Sehe mich jedenfalls nach was zum Wohnen um (Señor hat Frau und sieben Bälger) und lasse Sie Adresse wissen, sobald ich selber weiß. Mille tendresse.» Diese Adresse aber hat er nie bekommen.

Truman Capote schreibt hier in bester US-amerikanischer Erzähltradition, journalistisch knapp und zielgerichtet mit dem Augenmerk immer auf seiner Geschichte, die er chronologisch erzählt. Sein völlig unprätentiöser Sprachstil ist leichtfüßig wie Hollys Lebensweise, gekonnt angereichert mit Alltagssprache aus dem Milieu einer exzentrischen Lebedame, eine leicht zu lesende, amüsante Satire auf die Schickeria von New York. Denn immer wieder kommt man ins Schmunzeln bei den teils grotesken Situationen, in die Holly und ihr Nachbar unversehens hineinschlittern. Für Buchleser erhellend aber ist auch der Vergleich mit dem vermutlich allseits bekannten Spielfilm. Dort bleibt nämlich von der verruchten Atmosphäre um die lebensgierige Holly so gut wie nichts übrig, die Story wird dank Audrey Hepburn wie mit Zuckerguss serviert, und ein kitschiges Happy End verkehrt schließlich die Intention des Autors geradezu ins Gegenteil. Den Roman zu lesen lohnt sich deshalb allemal!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt Taschenbuch Reinbek

Die letzten warmen Tage

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In ihrem vierten Roman «Die letzten warmen Tage», pünktlich zum 25jährigen Jahrestag des Mauerfalls herausgekommen, thematisiert Ricarda Junge die jüngste deutsche Vergangenheit in der Form eines Familienromans. Dessen Protagonistin und Ich-Erzählerin Anna entspricht in unübersehbar vielen Details der Autorin selbst, ist wie diese Pfarrerstochter und vor allem Romanautorin und damit dem nicht selten ja durchaus begründeten Verdacht ausgesetzt, eine brotlose Kunst zu betreiben. Und so ist die 29jährige Heldin denn auch prompt gezwungen, als «Produktbeschreiberin» schnöde Werbetexte für ein Online-Versandhaus zu verfassen, in Scheinselbständigkeit natürlich und damit in prekärer Beschäftigung ohne jede soziale Absicherung, – gleichwohl aber glücklich damit, nebenher auch schriftstellerisch tätig sein, an ihrem Roman weiterschreiben zu können.

Ein in der Jetztzeit angesiedelter Handlungsstrang umschließt klammerartig Annas Geschichte. Sie lernt einen zwanzig Jahre älteren Mann kennen und landet auch gleich im Bett mit ihm, obwohl sie kaum etwas von ihm weiß. Constantin ist vielbeschäftigter Manager, immer auf Geschäftsreisen in aller Welt, er lebt auf großem Fuße. In einer zweiten, deutlich umfangreicheren Handlungsebene werden Annas Entwicklung als Schülerin in Wiesbaden, die erste Liebe und ihre ersten Schritte ins Erwachsenenleben geschildert. Rasch und sehr geschickt zwischen diesen beiden Zeitebenen hin und her pendelnd wird außerdem in zahlreichen Rückblenden die Vorgeschichte der Eltern und beider Großeltern-Paare erzählt, der Roman umfasst zeitlich also drei Generationen. Dabei sind in die ganz persönlichen Geschichten dieser Familien gekonnt die politischen Zustände und soziologischen Entwicklungen in den beiden deutschen Staaten mit eingewoben, zeitlich markiert durch die deutsche Teilung und die Wiedervereinigung mit allen ihren Problemen. Annas Großeltern waren 1961 kurz vor Errichtung der Berliner Mauer in den Westen geflüchtet, zwei Monate später verschwand der Großvater spurlos. Er wolle nur rasch Zigaretten holen, hatte er Annas Mutter noch zugerufen und war dann nie wieder aufgetaucht. Eine mysteriöse Familientragödie, deren Geheimnis Anna aber durch Zufall schließlich doch auf die Spur kommt. Und ähnlich dramatisch geht es auch in ihrer Liebesbeziehung weiter.

Wer als Leser selbst die Zeiten miterlebt hat, von denen die Geschichte erzählt, wird einiges sehr Vertraute darin wiederfinden, sich an manches Vergessene zurückerinnern. Glaubhaft und nachvollziehbar werden viele Begebenheiten geschildert, Orte beschrieben, Zusammenhänge dargestellt, Gedanken und Meinungen wiedergegeben. Geschrieben ist das alles in einer leicht lesbaren, angenehm schnörkellosen Sprache, wobei mich besonders die realitätsnahen Dialoge überzeugt haben. Auch in vielen der Reflexionen, die sie zahlreich in ihren Text eingebaut hat, kann man den Gedankengängen der Autorin problemlos folgen, sie sind durchaus plausibel.

Obwohl die meisten Figuren der Geschichte lebensnah skizziert sind und überwiegend sympathisch rüberkommen, bleibt die Heldin Anna seltsam konturlos. Sie wird als Messie geschildert, als fast pathologisch schreibwütig, erscheint aber als weiblicher Teil der Liebesgeschichte ziemlich farblos, vermag kaum Empathie zu erzeugen beim Leser. Es ist keine heile Welt, die da aus der verengten Perspektive der Ich-Erzählerin geschildert wird, vielmehr sind hier das Private und das Politische geradezu schicksalhaft aneinander gekettet. Eine resignative Melancholie ist die vorherrschende Stimmung, die auf dem gesamten Geschehen lastet in diesem vielschichtigen Roman, der als Ganzes literarisch weniger überzeugend ist als in etlichen seiner Teilaspekte. Die ganz große Lesefreude vermochte sich deshalb bei mir nicht einzustellen, lesenswert ist der Roman aber allemal.

Fazit: lesenswert

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Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Der Fall Kurilow

nemirowsky-3Exekution eines Hampelmanns

Vier Jahre nach dem literarischen Durchbruch von Irène Némirowski erschien 1933 ihr Roman «Der Fall Kurilow». Die Handlung ihrer spannenden Geschichte ist im Russland des Jahres 1903 angesiedelt, in der Zeit kurz vor dem Beginn der revolutionären Umwälzungen, die mit dem «Blutsonntag» 1905 einen ersten Höhepunkt erreichten und mit der «Oktoberrevolution» 1917 endeten.

«Auf der menschenleeren Terrasse eine Cafés von Nizza hatten sich, angezogen durch die Glut eines roten Kohleöfchens, zwei Männer niedergelassen» lautet der erste Satz des Romans. Léon M. ist einer der Beiden, der Andere, ein ehemaliger Polizist, spricht ihn als Marcel Legrand an, den er als mutmaßlichen Revolutionär 1903 zeitweilig beschattet hatte, das Ganze ist dreißig Jahre her. Die in einer Art Geheimdienstjargon nur in Andeutungen geführte, kurze Unterhaltung dreht sich um die revolutionären Aktivitäten im zaristischen Russland, dem von beiden Seiten ohne Rücksicht auf Menschenleben geführten Kampf um die Beseitigung des zaristischen Regimes. Damals war der Polizist als Personenschützer für die Sicherheit eines allseits verhassten Ministers namens Kurilow verantwortlich, auf den der Revolutionär Léon M. ein Attentat verüben sollte. Dieser geschickt vorgeschalteten Szene folgt der «eigentliche» Roman, der rückblickend die damaligen Ereignisse aus der Sicht des Attentäters schildert. «Ich habe im Hinblick auf eine eventuelle Biografie mit der Niederschrift dieser Notizen begonnen» erläutert der Ich-Erzähler Leon den Anlass für seinen umfassenden Bericht.

Es gelingt ihm, sich mit falscher Identität als Arzt bei Kurilow einzuschleichen, der lieber von einem ausländischen Hausarzt betreut werden will, weil er die russischen für unfähig hält. In dieser Position kommt Leon dem krebskranken Opfer sehr nahe, fast zu nahe, denn er beginnt den «Pottwal», wie der skrupellose Minister mit Spitznamen genannt wird, trotz seines hassenswerten Charakters und der verübten Missetaten als bemitleidenswerten, armseligen Menschen zu sehen, eine im Privaten geradezu lächerliche Figur. Denn ohne die Insignien der Macht, ohne sein Ministeramt ist er ein Nichts, wie sich zeigt, als er plötzlich sein Amt verliert und nun, völlig haltlos, mit sich selbst nichts mehr anzufangen weiß. Leon beginnt zu zweifeln, ob die von einem revolutionären Komitee geplante Exekution überhaupt noch sinnvoll ist. Als dem Nachfolger des Ministers ein schwerwiegender Fehler unterläuft, kommt der «Pottwal» doch wieder in Amt und Würden. Kurz darauf wird endlich auch Ort und Zeitpunkt des Attentates festgelegt, von den Terroristen ganz gezielt daraufhin geplant, eine größtmögliche öffentliche Wirkung zu erreichen, das verhasste Zarenregime also vor aller Augen möglichst effektiv bloßzustellen.

Die aus der Täterperspektive erzählte Geschichte entlarvt die Hauptakteure des zaristischen Regimes allesamt als «prächtig ausstaffierte Hampelmänner, von denen nichts geblieben ist». Der Roman gewährt dem Leser Einblick in ein ungerechtes und feudales Regime. Man ist als Leser geneigt, sich auf die Seite der Revolutionäre zu schlagen, Verständnis für ihre Ziele zu entwickeln, auch wenn sich später daraus, mit der UDSSR, ein ebenso schlimmes Unrechtsregime etabliert hat. Welches heute wiederum, mit dem «lupenreinen Demokraten» an der Spitze, als politisches System kaum weniger autoritär ist, und an die Stelle des Adels sind jetzt die Oligarchen getreten, es geht heute mitnichten gerechter zu als damals. Durch ihre einfache, geradlinige Erzählweise, mit einfühlsamer Charakterisierung ihrer beiden Hauptfiguren und einem gut durchdachten Plot erzeugt die Autorin einen erzählerischen Sog, der fast an einen Krimi erinnert und bewirkt, dass man den angenehm lesbaren, kurzen Roman nicht mehr aus der Hand legt, auch wenn man von Anfang an weiß, was passieren wird.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by btb Verlag

Auf Messers Schneide

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Mit ironischem Unterton

Seinen geheimnisvollen Titel verdankt dieser dem Spätwerk des berühmten Autors zuzurechnende Roman den Upanishaden, frühen philosophisch-theologischen Texten des indischen Brahmanismus also, wo es heißt: «Schwer ist es, auf des Messers Schneide zu wandeln». Das deutet in der Tat schon auf das äußerst anspruchsvolle Thema dieses Buches hin, die Sinnsuche des Menschen nämlich oder, wie William Somerset Maugham seinen Helden Larry sagen lässt, als er gefragt wird, was er suche: «Die Antworten auf meine Fragen». Gibt es Gott, gibt es das Böse, ist mit meinem Tod alles zu Ende oder habe ich eine unsterbliche Seele? Isabel, seine Verlobte, hält ihm lapidar entgegen: «Wenn man sie beantworten könnte, dann wären sie bestimmt schon beantwortet».

Maugham ist ein begnadeter Erzähler, der sehr erfindungsreich Geschichten konstruieren kann, die den Leser zu fesseln vermögen. So auch hier, man folgt der Handlung fasziniert bis zur letzten Seite, auf der, einem Nachwort ähnlich, Fazit gezogen wird vom Autor, welcher hier übrigens leibhaftig als Ich-Erzähler fungiert, oft als geduldiger Gesprächspartner seiner verschiedenen Protagonisten auftretend. Es handelt sich dabei um recht illustre, geradezu prototypische Figuren, wobei Larry den Vogel abschießt, um es mal etwas flapsig auszudrücken, denn er widersetzt sich allen gesellschaftlichen Erwartungen an einen jungen Mann und begibt sich unbeirrbar auf einen alternativen Weg, der schnöde Mammon reizt ihn nicht im Geringsten. Grotesker Gegenentwurf dazu ist Elliott, reicher Onkel seiner Verlobten und exaltierter Snob, eine Inkarnation geradezu jenes Menschenschlages, man kann ihn sich typischer kaum vorstellen. Elliots Tod aber deckt dann schließlich auf, wie armselig im Grunde sein pompös zelebriertes Leben in der High Society war, wie schnell er dort vergessen ist. Maugham führt uns viele sehr liebevoll, fast greifbar geschilderte Figuren vor, deren Lebenswege sich immer wieder kreuzen, die kunstvoll ineinander verwoben sind. Alle suchen ihren Weg, straucheln zuweilen, erleiden Rückschläge, finden manchmal ihr Glück – oder das, was sie dafür halten, sie bewegen sich also auf Messers Schneide.

Der Autor erwähnt im Vorwort sein Problem, sich in die amerikanische Mentalität hinein zu versetzen, fast alle Protagonisten stammen aus den USA. Aber wie hätte er glaubwürdiger die Geldgier, den nimmersatten Materialismus seiner Figuren, dem Börsenmakler, der Dollarprinzessin, dem eitlen Snob, verdeutlichen können? Nach geistreich und schwungvoll erzählter Geschichte, öfter angereichert durch eine nicht unbeträchtliche Prise britischen Humors, macht Maugham seine Leser am Anfang des vorletzten Kapitels darauf aufmerksam, man könne dieses Kapitel sehr wohl überschlagen, ohne den Faden der Geschichte zu verlieren, ein Scherz natürlich. Denn hier nun erfährt der Leser in einem Gespräch, was dem Helden auf seinem Weg zur Erkenntnis, an Hesses «Siddhartha» erinnernd, widerfahren ist, welche Weisheiten er in Indien erlangt hat. Dort nämlich kam ihm nach langen Jahren der Meditation die Erleuchtung und hat ihm die Richtung gewiesen für sein weiteres Leben. Larrys Erzählung und Maughams skeptische Anmerkungen und entlarvende Fragen bei diesem finalen Gespräch sind tiefgehende philosophische Betrachtungen, die ohne Pathos und wissenschaftlich verbrämte Arroganz vorgebracht werden, angenehm zu lesen deshalb, für nachdenkliche Leute interessant obendrein, durchaus geeignet nämlich, die eigenen Gewissheiten listig zu hinterfragen, dabei sogar zum Nachjustieren derselben anzuregen.

Die Lektüre bewirkte bei mir zuweilen eine gewisse Ermüdung, sind doch (gefühlt) mehr als fünfzig Besuche in Restaurants, Cafés, Einladungen zum Tee oder Dinner minutiös geschildert in diesem Roman, ständig wird da irgendwo gegessen und getrunken. Abgesehen von solchen Längen ist die Geschichte beschwingt erzählt mit einem ironischen Unterton, der dem Ganzen eine gewisse Würze gibt.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Der Abituriententag

werfel-2Die können es einfach

Wie Kafka in Prag geboren und mit ihm befreundet, hat Franz Werfel ein breitgefächertes Œuvre bedeutender Werke aufzuweisen. Dazu gehört neben dem berühmten Lourdes-Roman «Das Lied der Bernadette» auch der Roman «Die vierzig Tage des Musa Dagh», der die Verfolgung der Armenier zum Thema hat und nicht nur in den USA sehr erfolgreich war. Eine Freundin kommentierte ihre diesbezügliche Leseempfehlung mit den Worten «Die können es einfach» und meinte damit pauschal die jüdischen Autoren dieser Literatur-Epoche. Entsprechend erwartungsvoll also bin ich an den 1928 erschienenen Roman «Der Abituriententag» herangegangen, vom Autor selbst als «Geschichte einer Jugendschuld» bezeichnet, was seine Thematik schon recht deutlich umreißt und mich denn doch neugierig gemacht hat.

Örtlich unbestimmt, vermutlich im Prag der Zwischenkriegszeit angesiedelt, entwickelt sich der Plot aus dem titelgebenden Zusammentreffen eines Abiturienten-Jahrgangs heraus, an dem der Untersuchungsrichter Dr. Sebastian teilnimmt. Er hatte vorher einen mutmaßlichen Mörder verhört, in dem er den ehemaligen Mitschüler Franz Adler wiedererkennt, der ihn seinerseits nicht zu kennen scheint und äußerst verstört wirkt. Als der Richter bei dem Treffen von seiner Begegnung mit Adler erzählt, halten nach anfänglichem Zögern doch etliche der früheren Mitschüler ihn des Mordes an einer Prostituierten durchaus für fähig. Sebastian setzt sich nach der Feier spätabends an seinen Schreibtisch und beginnt geradezu zwanghaft, seine Lebensbeichte aufzuschreiben, er ist nämlich mit Adler aus seiner Zeit als Pennäler schicksalhaft verbunden. Werfel schildert meisterhaft die Geschehnisse in dieser oberen Gymnasialklasse, wo der intelligente Adler wegen seines Talents zum Schreiben hochgeachtet ist, während Sebastian nur durch freches Plagiieren eines vergessenen Autors mit «seinen» Gedichten Eindruck machen kann bei seiner Clique. Aus Neid und Missgunst nutzt Sebastian beim Turnen eine Gelegenheit, den unsportlichen Adler lächerlich zu machen. Der bisher unangetastete Nimbus Adlers leidet daraufhin zusehends, die Mitschüler treiben ihn gnadenlos ins Abseits, nutzen dabei die in seinem introvertierten Wesen begründete Wehrlosigkeit.

Die Schülerclique übertreibt es irgendwann, ist völlig disziplinlos, schwänzt die Schule, die Leistungen aller sinken rapide ab, – Adler gar wird sitzenbleiben, prophezeit ihm der Lateinlehrer. Sebastian, der sich schuldig fühlt an dessen Niedergang, bietet ihm reumütig an, für Adler das Klassenbuch zu fälschen, er besitze eine Tinktur, mit der das spurlos gelingt. Im Lehrerzimmer werden die Beiden überrascht, ohne dass feststellbar ist, wer von ihnen die Fälschung begangen hat. Es droht der Schulverweis, außerdem auch eine Strafanzeige wegen Urkundenfälschung. Sie sind verzweifelt, wollen sich umbringen, Sebastian aber erkennt plötzlich eine Chance, heil aus der Sache herauszukommen, indem er Adler zur Flucht überredet, was einem Schuldgeständnis gleichkommt.

Man ist an «Die Verwirrungen des Zöglings Törleß» von Musil erinnert in diesem Bildungsroman, nur das hier das Mobbing-Opfer nicht sexuell gedemütigt wird, es wird vielmehr psychisch geradezu zerstört. Werfel entwickelt mit seiner souveränen Erzählkunst stilistisch und inhaltlich gekonnt seine Parabel von der Schuld, dabei mit feinem Sinn für Psyche seine Figuren ausleuchtend bis in deren äußerste seelische Tiefen. Täter und Opfer, Gut und Böse, Macht und Ohnmacht sind die Pole, welche der Handlung eine permanente Spannung verleihen, die bis ganz zum Schluss unvermindert anhält. Den zuweilen für diesen Roman apostrophierten Konflikt Christen versus Juden konnte ich übrigens nirgends finden, das Judentum wird an keiner Stelle thematisiert. Der Roman ist sehr flüssig zu lesen, nach seinem überzeugenden Ende bleibt festzustellen, dass besagte Freundin wohl Recht hatte mit ihrer pauschalen Aussage über jene begnadeten Erzähler, – auch Franz Werfel «kann es einfach»!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Die Gruppe 47

boettiger-1Von literarischem Kannibalismus

Bei der Lesung Helmut Böttigers im Münchner Literaturhaus, mit der sein neu erschienenes Buch über die Gruppe 47 vorgestellt wurde, folgte das zahlreich erschienene Publikum gespannt den Ausführungen über eine literarische Epoche, die Vielen durchaus noch gut in Erinnerung war. Mich eingeschlossen, der ich mich seinerzeit zwar literaturfern mit ganz anderen Dingen beschäftigte, die nicht gerade seltenen Meldungen über diese Gruppierung aber am Rande durchaus registrierte. Jetzt war nun plötzlich Anlass und Gelegenheit, sich näher mit dieser Episode der Zeitgeschichte zu beschäftigen, das Thema für sich persönlich aufzuarbeiten, damals Versäumtes nachzuholen, den Mythen mal auf den Grund zu gehen.

Ohne Frage ist es dem Literaturkritiker Böttiger mit seinem informativen Sachbuch gelungen, die Entwicklungsgeschichte dieser literarischen Gruppierung, für die es kein Vorbild gab und auch keine vergleichbare Nachfolge, sehr anschaulich und detailreich darzustellen. Dem heutigen Leser dürften viele der teilnehmenden Schriftsteller bei den Treffen der Gruppe 47 vom Namen her weitgehend unbekannt sein, erst recht aber vom Werk, so kurzlebig ist Literatur in der Tat! Auch die Thematik der heftigen Diskurse ist heute kaum noch nachzuvollziehen, von einem für alle gültigen Konsens konnte jedenfalls kaum die Rede sein, vernünftig Argumentierende gehörten damals wie heute zu einer raren Spezies. Man staunt schon, was diese hochgeistige Elite sich gegenseitig an den Kopf geworfen hat, wie gnadenlos die Verrisse ausgefallen sind. Es war purer literarischer Kannibalismus, der da praktiziert wurde in den sogenannten Werkstattgesprächen, meist destruktiv statt konstruktiv, den beurteilten Autor somit oft total entmutigend. Mit der triumphalen Lesung der «Blechtrommel» hat Günter Grass eines der raren Gegenbeispiele geliefert, wo das ziemlich einhellige Lob und die unumstrittene Verleihung des Preises der Gruppe 47 dem späteren Erfolg auf dem Buchmarkt vorausgeeilt war.

Überhaupt hat sich die Entwicklung der Berufskritiker, die jedenfalls ziemlich komplett versammelt waren und untereinander sowie mit den Autoren die Klingen gekreuzt haben, zu einem maßgeblichen Teil in der Gruppe 47 vollzogen. Walter Jens, Joachim Kaiser, Walter Höllerer, Marcel Reich-Ranicki und Hans Mayer saßen da in der ersten Reihe auf der «Kritikerbank» und nutzten ihre Anwesenheit zu persönlicher Profilierung. Sie wurden ihrerseits grandios verspottet, als «Großkritiker» regelrecht auseinander genommen von niemand Geringerem als Martin Walser, und zwar in einem Zeitungsartikel, dessen Text «zu den besten gehört, die er jemals geschrieben hat», und den Böttiger deshalb genüsslich zitiert. Man kann also auch herzhaft lachen bei dieser Lektüre, und staunen obendrein, was für einen Nonsens diese sich klug wähnenden Herren, es gab ja noch keine Damen in der Riege, selbstgefällig abgesondert haben. Dem Rundfunk ist es zu danken, dass durch Mitschnitte bei den späteren Treffen heute vieles rekonstruierbar ist, was da so alles gesagt wurde, Walsers köstliche Satire teils wortwörtlich bestätigend.

Mit dem Datum war Helmut Böttiger beim Signieren meines Buchexemplars der wahren Zeit zwar einen Tag hinterher, sein ausgezeichnetes Buch ist fachlich aber anderen recht deutlich voraus, und brillant geschrieben ist es obendrein. Es zu lesen lohnt sich somit für Leute, die tiefer einsteigen wollen in die deutsche Literaturgeschichte mit Autoren, von denen einige inzwischen ja schon fast Denkmalstatus erlangt haben. Dieses Buch erweitert den Horizont jedenfalls ganz ungemein, und man kann ihm als seriösem Sachbuch sogar hin und wieder einen gewissen Unterhaltungswert attestieren.

Fazit: lesenswert

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Genre: Sachbuch
Illustrated by DVA München

Ich dachte an die goldenen Zeiten

hrabal-1Zu liquidierender Schriftsteller

Als einer der großen tschechischen Schriftsteller hat Bohumil Hrabal erst als beinahe Fünfzigjähriger das Schreiben zu seinem Beruf gemacht. Seine diversen Tätigkeiten zuvor fanden vielfach Eingang in seine Werke, zu denen auch «Ich dachte an die goldenen Zeiten» gehört, erster Band einer dreiteiligen autobiografischen Reihe. Der wehmütige Titel weist übrigens auf vorliterarische Zeiten Hrabals hin, die endgültig vorbei waren, als sich erste literarische Erfolge einstellten und damit plötzlich auch genügend Geld verfügbar war für ein unkonventionelles Künstlerleben. Sein als vierter Prager Fenstersturz bezeichneter Tod bleibt umstritten, einiges deutet jedoch auf Suizid hin. Die Editionsgeschichte seiner Werke war bis zum Fall des Eisernen Vorhangs äußerst wechselvoll, er zählte zeitweise zu den tschechischen Dissidenten und musste per Samisdat publizieren oder im Ausland, der vorliegenden Band erschien 1988 in Kanada.

Mit dem vorangestellten Leitspruch «Das Groteske ist absolute Komik» von Charles Baudelaire wird der Duktus dieses Romans eingangs bereits treffend gekennzeichnet. Der Autor setzt seiner Frau Eliska darin ein literarisches Denkmal, sie fungiert als personale Erzählerin, berichtet humorvoll, vorgeblich aus ihrer Sicht, von dem wechselvollen Leben an seiner Seite. Wobei man wahrlich nicht sagen kann, dass diese Perspektive eine spezifisch weibliche wäre, allzu deutlich ist der exzentrische, trinkfreudige, egoistische, aber auch verträumte und gutmütige Schriftsteller selbst hinter seiner Erzählerfigur zu erkennen. Genau darin aber liegt ein Problem für den Leser, denn keine der humorig vorgetragenen Macken und handfesten Zumutungen ihres «Kleinods», wie Eliska den Göttergatten spöttisch nennt, sind glaubwürdig reale Kritik der ziemlich arg geplagten Ehefrau, sie sind vielmehr fiktionale, augenzwinkernd aufgebauschte und fragwürdige Selbstkritik, und das setzt sich nun mal im Kopf fest und schafft eine skeptische Distanz beim Lesen.

Denn was der «zu liquidierende Schriftsteller», wie er wegen der staatlichen Sanktionen immer wieder verschmitzt bezeichnet wird, so alles anstellt, setzt viel Langmut voraus bei seiner besseren Hälfte. Besonders beeindruckend – und immer wiederkehrend – wird da von mehrtägigen Sauf- und Fressgelagen berichtet, im Roman als «Hochzeiten im Haus» bezeichnet. Bohumil ist ein Säufer, der buchstäblich alle Kneipen in weitem Umkreis kennt und regelmäßig aufsucht, – in der Regel kehrt er spätnachts dann im Vollrausch nach Hause zurück. Sein chaotischer Lebenswandel als schwadronierender Trinker und unersättlicher Vielfraß führt mit der Zeit zu ernsthaften gesundheitlichen Problemen, die den fatalistisch veranlagten Bohumil dann als weinerlichen Hypochonder entlarven. Die Szenen im Krankenhaus jedenfalls gehören zu den köstlichsten Passagen in dieser anekdotenreichen, prallen Lebensgeschichte. Urkomisch auch die Querelen mit der tschechischen Literatur-Bürokratie, die sogar bereits gedruckte Bücher vernichten lässt, – nach seiner Lesart «liquidieren» -, was im Text dann ebenso listig wie ironisch in «zu liquidierender Schriftsteller» umgedeutet wird. Wobei es richtig komisch erst noch dadurch wird, dass Eliska an verantwortlicher Stelle in genau jenem Altpapierbetrieb arbeitet, wo seine einzustampfenden Bücher landen, sodass er und auch seine ebenfalls betroffenen Kollegen die verlagsfrischen Bände dort kistenweise abholen können, – prompt entwickelt sich daraus ein florierender Schwarzmarkt.

Diese wie beiläufig erzählte, uneitle Autobiografie umfasst den Zeitraum zwischen Hrabals literarischem Durchbruch 1964 und dem Umzug des Ehepaares neun Jahre später in einen Plattenbau am Prager Stadtrand. In diese Zeit fällt auch der Prager Frühling, wo der völlig unpolitische Autor 1968 auf dem Wenzelsplatz Heinrich Böll kennen lernt. Dieser Roman bietet auf amüsante Art erhellende Einblicke in eine so nicht mehr existierende Gesellschaft.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Süddeutsche Zeitung München

Eine Liebe Swanns

proust-1Vinteuils Phrase und die Cattleyas

Einer der Götter im literarischen Olymp ist neben Joyce und Musil der französische Schriftsteller Marcel Proust, bei dessen Namen einem sofort auch sein monumentales Hauptwerk «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» in den Sinn kommt, häufig – abgekürzt nach dem Originaltitel – einfach nur «Recherche» genannt. Dieser siebenbändige Romanzyklus beginnt mit dem Band «Unterwegs zu Swann», den der Autor 1913 auf eigene Kosten veröffentlichen hat, weil das Manuskript von André Gide, dem damaligen Lektor des Verlages Gallimard, abgelehnt worden war – sein größter Fehler, wie Gide später dann zugegeben musste. Der Mittelteil dieses ersten Bandes wiederum ist «Eine Liebe Swanns», die in sich abgeschlossene Geschichte einer Amour fou in der gehobenen Pariser Gesellschaft des Fin de Siècle.

Charles Swann, ein reicher Lebemann mit künstlerischem Interesse, der in den allerhöchsten Kreisen verkehrt, lernt im Salon der Verdurins Odette de Crécy kennen, eine für ihn zunächst wenig anziehende, bereits verwelkende Dame mit zweifelhaftem Ruf. Aber Swanns Zuneigung wird plötzlich geweckt, als er in ihren Zügen eine Ähnlichkeit mit Sephora, einer Figur auf dem Fresko von Botticelli in der Sixtinischen Kapelle zu erkennen glaubt, – sie kommen sich allmählich näher. Zum Leitmotiv ihrer aufkeimenden Liebe wird eine Melodie, eine kleine Phrase bei Vinteuil, die sie beide tief ergriffen im Salon der Verdurins hören. Und als Swann ihr beim Drapieren von Cattleyablüten am Ausschnitt ihres Kleides näherkommt, sogar die erste Liebesnacht damit einleitet, wird die Metapher «Cattleya spielen» für sie zum verschlüsselten Stichwort. Der Zweifel an Odettes Ruf ist nicht zuletzt auch in den von ihr ständig beklagten finanziellen Nöten begründet, Swann unterstützt sie großzügig mit beträchtlichen monatlichen Zuwendungen, ohne sich in seinem Liebesrausch dieser profan materiellen Seite ihrer Beziehung wirklich bewusst zu sein. Nach einiger Zeit des Hochgefühls stellt sich bei ihm – durchaus nicht unbegründet – Eifersucht ein, er glaubt sich zunehmend vernachlässigt und leidet schlimme Qualen an seiner obsessiven Liebe. Bis es ihm schließlich nach einer längeren Auslandsreise von Odette gelingt, sich völlig aus seiner schicksalhaften Verstrickung zu lösen, diese Frau realistisch als das zu sehen, was sie wirklich ist, eine gewöhnliche, ungebildete, treulose Kurtisane.

Derartige Sujets hat man schon öfter angetroffen in Romanen, was Proust jedoch unterscheidet und auszeichnet ist die unglaubliche sprachliche Virtuosität, mit der er seine Erzählung vor uns ausbreitet, sowie die Fülle an immer neuen Facetten, die er seinem Thema abgewinnen kann, dabei ständig neue Assoziationsketten auslösend. Was von manchen Lesern als langatmig empfunden wird, ist in Wirklichkeit eine grandiose Fähigkeit des Autors, alle Aspekte eines Geschehens, selbst die geheimsten Tiefen in der Seele seiner Figuren auszuleuchten, uns sichtbar zu machen. Häufig wenn man meint, ein Detail wäre nun umfassend geschildert, wird man verblüfft damit konfrontiert, dass ihm noch etliche andere Eigenschaften innewohnen, über die zu lesen sich ebenfalls lohnt. Insoweit ist Marcel Proust ein unübertroffener Perfektionist, ein Solitär unter den Romanciers.

Swann erkenne den gesellschaftlichen Rang eines Salons bereits an wenigen Namen der Teilnehmer eines Diners, «so wie ein Literaturkenner bereits beim Lesen eines Satzes die literarischen Qualitäten seines Autors richtig einzuschätzen weiß» heißt es an einer Stelle. Viel mehr wird auch nicht nötig sein, um an einigen Sätzen aus seiner Feder den Autor Proust zu erkennen, schon an der für ihn typischen mondänen, dekadenten Gesellschaft, die seine literarische Spielwiese ist. Wie schön außerdem, können Sprachsüchtige doch fast unbegrenzt weiterlesen in diesem riesigen Romanzyklus, der über sein Titelthema letztendlich dahingehend aufklärt, man müsse einen Roman schreiben (sic!), um die verlorene Zeit zu finden.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Süddeutsche Zeitung München

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

kundera-1Es muss sein

Irrte die Feuilletonredaktion der Süddeutschen Zeitung, als sie «Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins» von Milan Kundera im Jahre 2004 in den Kanon der 50 großen Romane des Zwanzigsten Jahrhunderts aufnahm? Dieser Roman des tschechischen Autors wurde zwanzig Jahre vorher im Exil in Paris veröffentlicht und gilt seither als sein erfolgreichstes Buch. Schon der Titel lässt ahnen, dass Philosophie einen breiten Raum einnimmt darin, und zur Gewissheit wird diese Vermutung, wenn man den ersten Satz gelesen hat: «Die ewige Wiederkehr ist ein geheimnisvoller Gedanke, und Nietzsche hat damit manchen Philosophen in Verlegenheit gebracht». Erst drei Seiten später erfolgt dann der Schwenk von der philosophischen Betrachtung hin zur Epik, zum «eigentlichen» Roman, den man als Liebesroman in einem schwierigen politischen Umfeld bezeichnen könnte, der Prager Frühling und seine brutale Niederwerfung bilden den zeitlichen Hintergrund. Die Gratwanderung des Autors zwischen mehr oder weniger tiefsinniger Philosophie und der zu erzählenden Geschichte ist gewagt. Sie ist auch nicht jedermanns Sache und polarisiert die Leserschaft selbst heute noch.

Zwei Paare bilden die Protagonisten einer Geschichte um Liebe, Ehe und Treue. Der notorisch polygame Arzt Tomas aus Prag lernt die schüchterne Kellnerin Teresa durch eine, wie es ihm vorkommt, seltsame Reihung von nicht weniger als sechs bemerkenswerten Zufällen kennen. Er heiratet sie kurz entschlossen, womit er sie in das seelische Chaos der Eifersucht stürzt. Franz, Universitätsdozent in Zürich, betrügt seine Frau mit der Künstlerin Sabina, einer ehemaligen Geliebten von Tomas, die ins Exil gegangen ist. Sie verlässt ihn ohne Abschied, weil Franz sich plötzlich von seiner Frau scheiden lassen will, was in Sabinas Augen ihrer Beziehung das erregend Verbotene, Versteckte nimmt und sie damit profan werden lässt. Kundera beleuchtet intensiv die psychischen Befindlichkeiten seiner Figuren, wobei der schnelle Sex und dessen strikte Trennung von der seelischen Liebe zu vorhersehbaren Verwicklungen führen.

Ein zweiter Themenschwerpunkt des Romans sind die Verhältnisse unter der kommunistischen Diktatur in der CSSR, die zu einer aberwitzigen Gemengelage aus Bespitzelungen, Verleumdungen und Verdächtigungen führen. Nach dem Sturz von Dubçek hatte sich ein verlogenes und heuchlerisches politisches System etabliert, in dem Tomas, einst Star-Chirurg in Prag, nach der Rückkehr aus dem Schweizer Exil zunächst Fensterputzer werden muss und schließlich als LKW-Fahrer endet. Der Autor deckt die subtilen Methoden der Staatsmacht auf, die im Kampf um den Machterhalt kein Mittel scheut, Kritiker des nicht nur wirtschaftlich maroden Systems einzuschüchtern und mundtot zu machen. Was bei Tomas allerdings nicht gelingt, er bleibt unbeugsam und nimmt die Konsequenzen auf sich.

Trotz diverser Reflexionen über seine Autorschaft kann Kundera letztendlich nicht verbergen, dass er den Roman ungeniert als Vehikel zur Verkündung eigener philosophischer Thesen benutzt. So zum Beispiel, wenn er Chirurgie als Sakrileg hinstellt, der Absicht Gottes widersprechend, oder wenn er der Frage der Defäkation nachgeht in Hinblick auf Gott, den man sich auf der Toilette schlichtweg nicht vorstellen könne, obwohl der Mensch doch nach seinem Ebenbilde geformt sei. Seine Stichwörter reichen vom Kitsch über Platons Symposion bis zum Prager Fenstersturz, von den Motiven des Machos auf der Frauenjagd bis zum Imperativ «Es muss sein» in Beethovens Streichquartett opus 135, der sogar in Notenschrift mit abgedruckt ist. In seiner thematischen Mixtur bleibt Kunderas Buch bis zum Schluss gleichermaßen unterhaltend wie bereichernd.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Der dritte Zustand

oz-2Licht von droben

Im Werk des hochgeehrten israelischen Schriftstellers Amos Oz greift auch «Der dritte Zustand» von 1992 Themen auf, die typisch sind für ihn sind, – im selben Jahr wurde ihm prompt der «Friedenspreis des deutschen Buchhandels» verliehen. Da sind zunächst die permanenten politischen Spannungen in Israel als objektiver Faktor zu nennen, dem die zutiefst menschlichen Eigenschaften seiner Figuren als subjektive Faktoren gegenüber gestellt sind. Aus diesen existenziellen Urtrieben und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erwachsen permanent Konflikte, ein Dilemma konträrer Einflüsse also, das den Nährboden bildet für seine stets mit ironischem Unterton erzählten Geschichten. In denen dieser alltäglich zu bewältigende Balanceakt zwar nicht immer gelingt, die aber gleichwohl auf ein hoffnungsvolles, tröstliches Ende hinauslaufen, so auch im vorliegenden Roman.

In dreißig Kapiteln wird die Geschichte von Efraim Nissan erzählt, einem vierundfünfzig Jahre alten Intellektuellen, von seinen Freunden zuweilen Effi, meistens aber Fima genannt. Er ist geschieden und kinderlos, lebt allein in einer vom wohlhabenden Vater finanzierten Wohnung in Jerusalem, arbeitet weit unter seinen geistigen Fähigkeiten am Empfang einer gynäkologischen Gemeinschaftspraxis. Ein liebeswerter, blitzgescheiter Wirrkopf, weltfremd und lebensuntüchtig, «… das Abbild eines Schlemihls, der mit zwei linken Händen auf die Welt gekommen war und niemals lernen würde, einen tropfenden Hahn zu reparieren oder einen Knopf anzunähen», wie es im Roman lapidar heißt. Der von diversen Rückblenden ergänzte, linear erzählte Plot ist im Jahre 1989 angesiedelt und greift in seinen gesellschaftlichen Aspekten die damalige Situation in Staate Israel auf, zeigt die seinerzeit agierenden Politiker und maßgeblichen Wissenschaftler in ihren politischen Auseinandersetzungen. Fima nun führt mit seinen Freunden erbitterte Diskussionen über strittige politische Fragen und über vielerlei andere Probleme. Er erweist sich dabei einerseits als äußerst intelligenter Kopf mit unorthodoxen Ideen, ist andererseits aber auch sehr gefürchtet als lästiger, Ort und Zeit ignorierender Disputant, den man kaum noch loswird, hat er sich erstmal in ein Thema verbissen.

Mit Chamissos Märchenfigur Schlemihl hat Amos Oz die Tragik seines Helden treffend umschrieben. Er leidet unter dem Identitätsverlust eines einst hoffnungsvollen Wissenschaftlers, dessen Karriere nicht stattgefunden hat, dessen geistige Fähigkeiten sich nur noch in gelegentlichen Zeitungsartikeln artikulieren oder in hitzigen Debatten im privaten Kreis. Ein hoch gebildeter, gutmütiger Spinner, immer hilfsbereit, bei den Frauen erfolgreich auch ohne männliche Ausstrahlung, attraktiv allein durch seine Bereitschaft, zuzuhören, mitfühlend auf Probleme einzugehen. Ein ewiger Grübler, im Roman sprachlich in Form häufiger innerer Monologe dargestellt, deren Sätze sehr oft mit Fragezeichen enden. Den titelgebenden «dritten Zustand» schließlich verortet Fima kontemplativ zwischen Wachsein und Schlaf: «Nur wenn ein Wintermorgen wie dieser in einem durchscheinenden Lichtschleier aufzieht, den vielleicht der archaische Ausdruck nehora ma-alja, Licht von droben, umschreibt, nur dann kehrt die Wonne der ersten Berührung auf die Erde und in deine sehenden Augen zurück».

Mit ausgedehnten philosophischen Exkursionen, aber auch mit einer unverkennbar versöhnlichen, dem gesunden Menschenverstand verpflichteten Situationsanalyse dieser Krisenregion im Nahen Osten, bereichert dieser Roman seine Leser immer aufs Neue. Störend fand ich die als Chaot maßlos überzeichnete Figur des Protagonisten Fima, den sein Autor in alle denkbaren Fettnäpfchen treten lässt, was anfangs noch zu amüsieren vermag, irgendwann aber als klischeehaft überladen nur noch lästig ist. Amos Oz nutzt seinen Protagonisten – mit gutem Recht – als Sprachrohr für eigene Auffassungen und Erkenntnisse, es lohnt sich deshalb, diesen Roman aufmerksam zu lesen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Der Zahir

coelho-1Die unerträgliche Seichtigkeit des Scheins

Paulo-Coelho-Erstleser tun gut daran, sich vorab mit der Vita des erfolgreichen brasilianischen Autors vertraut zu machen, um zu wissen, worauf sie sich da einlassen. Erhellend wirken beispielsweise seine zweijährige Weltreise als Hippie, seine nicht weniger als drei Aufenthalte in einer psychiatrischen Anstalt inklusive Elektrokrampf-Therapie, sein auffallendes Interesse für die Hare-Krischna-Bewegung und ähnliches mehr. Gekrönt wird das alles von seiner Vision bei einem Besuch im Konzentrationslager Dachau, bei der ihm ein Mann erschienen sei, der ihm wenig später leibhaftig in Amsterdam begegnete und ihn zur Rückkehr zum katholischen Glauben überredet hat. Wofür er sich dann symbolträchtig auf den Pilgerweg nach Santiago de Compostela machte.

Kein Wunder, dass Coelhos häufig unübersehbar autobiografisch geprägte Bücher angefüllt sind von Symbolen, Metaphern, mystischen Zeichen und viel Hokuspokus, wobei «Der Zahir» vermutlich einen Höhepunkt des Esoterischen darstellt im Werk des Autors, soweit ich das beurteilen kann. In einfacher, schnörkelloser Sprache geschrieben, erleben wir in diesem Roman eine rastlose Suche des Ich-Erzählers, ein erfolgreicher Romanautor natürlich, nach wahrer Liebe, den Sinn des Lebens, richtiger Lebensweise und glückhafter Selbstverwirklichung. Auslöser dafür ist seine Frau Esther, tätig als Kriegsberichterstatterin, die ihn ohne jede Erklärung überraschend verlassen hat und fortan als «Zahir», als beherrschende Kraft, alle seine Gedanken und sein Tun steuert. Fernsteuert, müsste man richtiger sagen, denn sie hat sich in die öden Steppen Kasachstans zurückgezogen. Man ahnt zwar bald, wie das alles ausgeht, aber bis dahin muss sich der geduldige Leser durch viele Seiten mit belanglosem Geschwafel, unrealistischen Dialogen und unerträglichen Plattheiten quälen, auf denen das absurde Weltbild des Autors langatmig ausgebreitet wird.

Für seine Tagebuchskizze «In Stahlgewittern», in der Ernst Jünger Kampf, Blut und Grauen als Erlebnis feiert, wurde er zu Recht heftig kritisiert. Paulo Coelho zeigt uns mehr als acht Jahrzehnte später in seinem Roman, das solche den Krieg verherrlichenden Ideen noch lange nicht tot sind, nur im Krieg nämlich sei der Mensch Gott wirklich nahe! Und so gibt es in diesem Roman immer wieder das blutgetränkte Stückchen Stoff, herausgeschnitten aus dem Hemd eines im Kampf tödlich getroffenen Soldaten, mit dem Esther auf dessen Wunsch hin alle sich als würdig erweisenden Personen symbolträchtig versorgt, als mystisches Erkennungszeichen gewissermaßen. Es gibt noch mehr derartig unsäglicher Thesen und Fettnäpfchen, in die Coelho unverdrossen tappt, so wenn er seinen Protagonisten, unverkennbar ja sein Alter Ego im Roman, großspurig über sein Einkommen berichten lässt bei einem Tischgespräch, nur um ihn dann sagen lassen zu können, dass ihn diese fünf Millionen Dollar jährlich auch nicht glücklich machen. Er ist ein egozentrischer Macho durch und durch, erobert spielerisch und ohne jeden Widerstand die schönsten Frauen, wann immer er will, er geniest seine Rolle als Star der Literaturszene, den jeder kennt, dessen Bücher natürlich auch jeder gelesen hat, ein Applaus heischendes Motiv, das sich übrigens häufig wiederholt im Roman. Er spielt den Moralisten und verhält sich wie ein hemmungsloser Egoist, was nicht selten ja die bigotte Verhaltensweise von stark religiös orientierten Menschen ist. Man hat also einiges zu ertragen, wenn man diesen Roman liest!

«So viele Millionen Leser können nicht irren», suggerieren uns die Verlage, wenn sie ihre Bestseller anpreisen, und Coelho gehört selbstverständlich zu den Top Ten der Auflage-Millionäre. «Seid umschlungen, Millionen», kann ich da nur sagen, die ihr gutgläubig solchen Schwachsinn kauft – und die vielen wirklich guten Bücher allesamt ganz einfach links liegen lasst!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Das größere Wunder

glavinic-1Auf dem Gipfel sinnlosen Tuns

Der Mount Everest bildet so etwas wie den Kulminationspunkt in Thomas Glavinics neuem Roman «Das größere Wunder». Schon das Umschlagfoto lässt keinen Zweifel daran, hier geht es ums Bergsteigen der extremen Art, und gleich die ersten Sätze bestätigen diese Vermutung, wenn von Sherpas die Rede ist, vom Basislager und von Toten, die vorbeigetragen werden. Normalerweise würde ich mich da, um im Jargon der Alpinisten zu bleiben, sofort ausklinken aus dem Führungsseil, das Buch also ungelesen zu Seite legen, weil mich todesmutige Extremkletterer nun mal überhaupt nicht interessieren, sogar ziemlich abstoßen mit ihrer fatalen Sucht nach Selbstbestätigung, nach Nervenkitzel, nach Todesnähe. Schon nach wenigen Seiten aber, im zweiten Kapitel, wechselt der Erzählstrang zu einer fürwahr haarsträubenden Geschichte hin, der Jugend des Protagonisten Jonas nämlich und seiner anschließenden, rastlosen Sinnsuche, die den Leser in einem aberwitzigen Plot unwillkürlich in ihren Bann zieht. Er dürfte Glavinic-Fans schon aus den beiden vorher erschienenen Romanen diese Trilogie bekannt sein, «Die Arbeit der Nacht» und «Das Leben der Wünsche», das vorliegende Buch ist aber eigenständig zu lesen, es baut nicht auf die vorhergehenden Romane auf.

Es gehört unzweifelhaft zu den angestammten Privilegien von Romanautoren, die Realität nach Gutdünken ausblenden zu können, völlig irreale Traumwelten zu ersinnen, dem Leser also eine Welt zu schildern, die es so nicht gibt und geben kann. Davon wird ja nicht erst seit Karl May Gebrauch gemacht, wo jeder insgeheim selbst Old Shatterhand ist, solange er das Buch in Händen hält. Und solche Identifikationsmuster liefert uns hier auch Galvinic mit seinem faustischen Helden Jonas, der über unerschöpflich scheinende Geldmittel und überirdische Fähigkeiten verfügt und beides dazu nutzt, permanent Grenzerfahrungen zu machen, den Sinn des Lebens herauszufinden im absurden Selbstexperiment. «Nichts ist unmöglich» ist die Devise bei seinem skurrilen Selbstfindungstrip rund um den Erdball, sorglos probiert er alles aus ohne Angst vor dem Tod, und das alles kulminiert am Ende des Romans in der erfolgreichen Besteigung des Mount Everest, bei der denn auch die bis dahin immer schön kapitelweise getrennt erzählten Stränge der Handlung zusammenmünden. Dass es die Liebe ist, nach der er unbewusst gesucht hat, die große, einmalige natürlich, ist vorhersehbar, kitschig und höchst peinlich.

Die viel zu ausufernd erzählte Bergsteigerstory mag Alpinisten erfreuen, der Laie, wie ich einer bin, langweilt sich hingegen und grübelt häufig, ob das wirklich alles so stimmen kann, wie der Autor es schildert. Die Hundertschaften von Himalaya-Verrückten machen jedenfalls wütend in Hinblick auf die Umweltzerstörung, die da angerichtet wird auf dem Dach der Welt. Der Held in Glavinics haarsträubender Geschichte in der zweiten Erzählebene versteht mühelos fast alle Sprachen der Welt und spricht die meisten auch, er reist der Sonnenfinsternis rund um den Erdball hinterher, lässt sich ein fünfstöckiges Baumhaus und einen Viermast-Segler bauen, kauft sich eine Südseeinsel, hat diverse Wohnungen in den Metropolen, die er nur selten nutzt, aber auch eine in der Nähe von Tschernobyl. Und natürlich fliegen auch viele Frauen auf ihn, na und die letzte, Marie, ist es dann, auf die alles hinsteuert, unser moderner Faust ist letztendlich am Ziel seiner Suche nach der Wahrheit.

Wer nicht den Fehler macht, ernst zu nehmen, was er da liest, wer das Ganze als zuweilen sogar spannendes Märchen liest, wer nicht erschreckt, wenn nur zur Gaudi eine Ziege mit der Panzerfaust erschossen wird, einem unsensiblen Zahnarzt zur Strafe alle Zähne gezogen werden, ohne Betäubung, versteht sich, der wird vielleicht gut unterhalten in diesem Roman, als Alpinist möglicherweise sogar sehr gut.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser