Der traurige Gast

Als Leser in der Titelrolle

Mit «Der traurige Gast» spielt der neuen Roman von Matthias Nawrat im Titel auf das Gedicht «Selige Sehnsucht» an, das zu den «geheimnisvollsten der lyrischen Gedichte Goethes» gehört und interpretatorisch einige Schwierigkeiten bereitet. Dieser Roman stellt seine Leser in gleicher Weise vor Probleme, auch hier ist eine Hürde der Gelehrsamkeit zu überwinden, um an seinen poetologischen Kern vorzustoßen und sich an dem Erzähltalent seines Autors erfreuen zu können, der darin kühn nichts Geringeres als den Weltschmerz thematisiert.

In drei Teilen mit vielen kurzen Kapiteln erzählt der Autor getreu dem Goetheschen Sinnspruch «Stirb und werde!» von der Krise des Subjekts in der Gegenwart, man schreibt das Jahr 2016. Der in Berlin wohnende Ich-Erzähler, Schriftsteller natürlich, autofiktional geprägt also, gehört dem Typus des Flaneurs an, er streift aufmerksam beobachtend durch die Großstadt, in die es ihn nach seiner Emigration aus Polen über einige Zwischenstationen schlussendlich verschlagen hat. Man erfährt kaum etwas über ihn, er ist verheiratet, kinderlos und lebt von seiner Schriftstellerei, scheint sich aber in einer Art Schreibblockade zu befinden, denn er hat alle Zeit der Welt zu Streifzügen durch die Metropole. Diese Figur fungiert als überwiegend zuhörender Gesprächspartner, als lethargischer Stichwortgeber zumeist für die eigentlichen Protagonisten, deren erste die Architektin Dorata ist, eine faszinierende, äußerst skurrile Intellektuelle. Sie stammt wie der namenlose Ich-Erzähler aus dem polnischen Opole, und der eigentliche Grund ihres Zusammentreffens, die Umgestaltung seiner Wohnung nämlich, tritt sehr schnell völlig in den Hintergrund, wird schließlich vollends vergessen. Denn Dorata, die kaum noch aus dem Haus geht und ihren Stadtteil niemals verlässt, erzählt mehr oder weniger ihr ganzes, ereignisreiches Leben, berichtet von den philosophischen Erkenntnissen, zu denen sie mit den Jahren gekommen ist. Überraschend endet dieser erste Teil abrupt mit ihrem Suizid.

In einer Art Zwischenspiel werden dann im zweiten Teil «Die Stadt» sensibel erfasste Gegenwartserlebnisse und Alltagsbetrachtungen beschrieben, bevor unter der Überschrift «Der Arzt» im dritten Teil mit Dariusz wieder eine Person im Fokus steht, ein Chirurg, dem wegen Alkoholismus die Approbation entzogen wurde und der nun als Kollege des Ich-Erzählers an einer Tankstelle arbeitet. Mit ihm erweitern sich auch die geografischen Radien der Geschichte, er erzählt nämlich in einem weiten Bogen von seiner Reise auf den Spuren seines in Mexico bei einem Badeunfall umgekommenen Sohnes. In viele dieser der Erinnerung gewidmeten, allzu eintönig monologisch erzählten Abschnitte baut Matthias Nawrat immer wieder die Gegenwart mit ein, und zwar in Form von kurzen Alltagsbegebenheiten im geradezu sezierend scharfen Blickfeld seines emphatischen Helden.

Es ist ein weites Feld, das da bearbeitet wird, denn Leben und Tod sind die großen Themen. Dabei wechseln sich das Schicksal der Kreatur und seine deprimierende Bedeutungslosigkeit angesichts der Geschichte mit dem belanglos Alltäglichen ab. Letzteres wiederum ist allenfalls für das Individuum selbst relevant, das schlussendlich aber auch nichts anderes ist als kompliziert zusammengesetzte, belebte Materie, deren Aggregatzustand jederzeit wandelbar ist, «Asche zu Asche, Staub zu Staub». Die philosophische Vermischung von Einzelschicksalen mit der historischen Wirklichkeit insbesondere der Immigranten ergeben in diesem Roman ein Bild der Gegenwart, dessen erschreckende Brüche ebenso unvermeidbar erscheinen wie rätselhaft. Als Identitätssuche angelegt scheitert er jedoch, weil er zu viel auf einmal will und sich im Geäst seiner ambitionierten Reflexionen hoffnungslos verheddert. Und so ist der Leser bei seiner Lektüre insoweit auch nur «der traurige Gast», wird aber gut unterhalten und zuweilen sogar kognitiv bereichert.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Was habe ich gelacht

Subversives Narrativ

Er schreibe nicht für ein großes Publikum, hat der argentinische Schriftsteller César Aira, ewiger Nobelpreis-Kandidat, in einem Interview geäußert, und so ist denn auch sein Roman «Was habe ich gelacht» eher etwas für literarische Gourmets. Sein Œuvre besteht unter anderem aus Dutzenden von Kurzromanen, davon schreibt er mehrere pro Jahr, immer nach dem Motto: Hundert Seiten sind genug. Wobei auch der vorliegende Band einem literarischen Genre kaum eindeutig zuzuordnen ist, er enthält einerseits Elemente des Essays, ist andererseits zum Teil aber auch eindeutig surrealistisch. César Aira wird im Klappentext als «Ausnahmeautor» bezeichnet, von «weltliterarischer Größe», – und das stimmt hier ausnahmsweise tatsächlich mal, es sind keine lediglich umsatzfördernde Werbephrasen!

«Mit unwirschem Bedauern höre ich Leser zu mir sagen, sie hätten bei meinen Büchern ‹gelacht›, und muss mich bitter über sie beklagen», heißt es gleich im ersten Satz des autofiktionalen Kurzromans. Und der Ich-Erzähler fügt ergänzend hinzu, «dass mir derartige Kommentare meine schriftstellerische Existenz vergällt haben». Denn Lachen in der Literatur «als obligatorische Coda aller Erzählungen» sei ihm ein Graus. Dieses Lamento zieht sich über viele Seiten dahin, zeitlich beginnend in der Jugend des Autors im Kreise seiner Clique, der er in Pringles, einer Kleinstadt im Süden der Provinz Buenos Aires, angehört. Mit vielen Anekdoten angereichert erzählt er von deren ungeschriebenen Konventionen und von seinem Außenseiter-Status. Er versucht die Mechanismen zu verstehen, die ihn zum Spielverderber in diesem Kreis werden ließ, aber auch sein Desinteresse an den eher lethargischen Freunden. Wenn er beharrlich fragend alles über sie erfahren hat, sind sie als Quelle für ihn quasi «ausgebrannt», – dem Spion gleichend, der nichts Neues mehr zu berichten weiß.

César Aira schildert in einem virtuosen Mix aus Realität und Fiktion, wie sein Alter Ego im Buch Spaß rezipiert, wobei sein Humor ausgesprochen unterschwellig angelegt ist. Außer der von seinem Großvater gegründeten Fliesenfabrik, die den Ort ökonomisch prägte, habe sich dort noch nie ein Betrieb längere Zeit gehalten. «Pringles war für Firmen ein Fluch», – Seldwyla lässt grüßen! Eine Freundin foppt den arglosen jungen Mann, als sie ihm von ihrer weitverzweigten Verwandtschaft in Buenos Aires erzählt, wo er studieren will. Dabei kommt sie vom Hundertsten ins Tausendste, die Aufzählung ihrer Großsippe dort erstreckt sich über mehrere Seiten des Romans und listet dabei fast sämtliche gebräuchlichen Vornamen Argentiniens auf. Es gibt auch mystische Szenen, im riesigen Park der Fabrikantenvilla des Großvaters taucht des Nachts öfter mal Sylvia auf, eine nur undeutlich sichtbare Frauengestalt, die «um Mitternacht ihr gräusliches Gelächter» auszustoßen beginnt. Als der Vater dem Spuk nachgehen will, wird er am nächsten Morgen mit gebrochenem Genick am Grund einer Schlucht gefunden. Nach dem Studium ist der Protagonist in Buenos Aires hängen geblieben und wohnt vierzig Jahre später immer noch in der kleinen Wohnung, die seine Mutter ihm zum Studienbeginn geschenkt hatte. «Und da ich nie auf Reisen gehe oder in Urlaub fahre, kann ich mit dem interessanten Rekord prahlen, nicht einen einzigen Tag, keine einzige Nacht außerhalb dieser zwei Zimmer verbracht zu haben». Sein Bewegungsradius betrage gerade mal zwei, drei Straßenzüge um seine Behausung herum. «Meine Blase ist von der Größe einer Linse, alle fünf Minuten muss ich pinkeln, und das kann ich nirgendwo anders als in meinem Bad».

Das «gottverdammte Lachen» erweist sich letztendlich also als doppelbödig, ist nichts anderes als Satire, was man durch diverse eingestreute, melancholische Szenen leicht überlesen kann bei einem derart subversiven Narrativ. Besonders hat mir die Schlüsselloch-Perspektive gefallen, mit der César Aira seinen Lesern beim Schreiben erhellende literarische Einblicke gewährt.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Matthes & Seitz

Schäfchen im Trockenen

Nervige Verfemung der Realität

Selten treffen Romane so authentisch den Nerv der Zeit wie «Schäfchen im Trockenen» von Anke Stelling, dem geradezu prophetisch ein Thema hinterlegt ist, welches die Politik jahrelang verschlafen hat, die Wohnungsnot in den urbanen Zentren nämlich. Als bisher größter Erfolg wurde der im Bezirk Prenzlauer Berg in Berlin lebenden Schriftstellerin dieses Jahr dafür der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen als ein «scharfkantiger, harscher Roman, der wehtun will und wehtun muss», wie die Jury in ihrer Begründung schwärmt. Und die Autorin bestätigt im Interview: «Während meines Studiums wurde mir ein grausamer Blick bescheinigt». Wie schon in ihrem Inzest-Roman «Fürsorge» scheut sich Anke Stelling jedenfalls nicht, ausgesprochen brisante Themen anzupacken, hier im Roman ist es, vor dem Hintergrund zunehmend unbezahlbar werdender Mieten, die prekäre Situation vieler Künstler, die eben nicht ihre «Schäfchen im Trockenen» haben.

Dieser sozialkritische Gegenwartsroman wird aus der Ich-Perspektive einer erfolglosen, der Autorin in vielen Aspekten ähnelnden Schriftstellerin erzählt. Die versucht ihrer 14jährigen Tochter Bea immer wieder zu erklären, wie schwierig weibliche Selbstverwirklichung ist in einer extrem ungerechten Klassengesellschaft, ein Versuch quasi, sie damit abzuhärten gegen die Zumutungen des Lebens. Resi, deren Name sich auf die Parrhesie beziehe, die Redefreiheit der gesellschaftlich Unterprivilegierten, wie die Autorin erklärt hat, Resi also lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kinder – na wo schon?- im Prenzlauer Berg natürlich, in einer bezahlbaren Altbauwohnung, die ihr jedoch zum Jahresende gekündigt wurde. Grund dafür war ein Buch, in dem sie ihrer alten, vom harmonischen Zusammenleben in einer neuen Art städtischer Großkommune schwärmenden, wohlhabenden Clique fast bösartig ihre diversen Lebenslügen vorhält. Ein Einlenken dem verärgertem altem Kumpel gegenüber, von dem sie einst die billige Wohnung als Untermieter bekommen hatte, kommt für sie nicht infrage. Ihre gut ein Dutzend Freunde sind nach Heirat und Kinderkriegen reihenweise aus den sozial-schwärmerischen Jugendträumen in die neoliberale Realität der wohlstandsverwahrlosten Spaßgesellschaft zurückgekehrt und erfreuen sich unbekümmert der selbsterworbenen oder ererbten Pfründe. Resi hingegen sieht mit Grausen unaufhaltsam den sozialen Abstieg auf sich zukommen, einen Umzug nach Marzahn bestenfalls, für sie geradezu Synonym eines vom Prekariat besiedelten, tristen Plattenbau-Stadtteils am Rande Berlins, – in ihren schlimmsten Albträumen droht aber auch die Obdachlosigkeit der sechsköpfigen Familie.

Anke Stelling erweist sich als rigorose Desillusionistin, die Bitternis ihrer Protagonistin richtet sich, für mich überraschend ehrlich, vor allem auf die stressige Aufzucht ihrer viel zu großen Kinderschar. Immer wieder stellt die überforderte Resi sich die Frage, wie sie als dauerhaft in finanziellen Schwierigkeiten lebende, bis dato erfolglose Schriftstellerin, mit einem einkommenslosen Künstler als Ehemann auch noch, gleichwohl vier Kinder in die Welt setzen konnte. In einer collageartigen Erzählung aus diesem Milieu sind Alltagsszenen, Kindheitserinnerungen, Briefentwürfe, Albträume und Selbstgespräche der Protagonistin fragmentarisch recht sprunghaft aneinandergereiht. Sie zeichnen das beklemmende Bild einer total isolierten, entfremdeten Frau Mitte vierzig, die verschärfte Spielart einer Midlife-Crisis.

Auch wenn man, wie die Autorin selbst, davon überzeugt ist, dass jede Wahrheit dem Menschen zumutbar ist, dürfte auch dem geduldigsten Lesern die gebetsmühlenartige Wiederholung immer gleicher Kritik, der ständige Protest gegen die Zumutungen des Alltags, gehörig auf den Geist gehen. Bei mir war es letztendlich so, dass ich dieses Traktat inhaltlich zwar bejaht, erzählerisch aber nach einiger Zeit nur noch verflucht habe als penetrante, auf Dauer nervige Verfemung der Realität.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Verbrecher Verlag

Amanda herzlos

Einakter und Unrechtsstaat

Der letzte Roman von Jurek Becker mit dem Titel «Amanda herzlos», erschienen 1992, ist zeitlich kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs angesiedelt. Wie immer beim Autor des berühmten Romans «Jakob der Lügner» ist auch hier seine ureigene literarische Methode deutlich zu erkennen, nämlich selbst außerordentlich ernste Sujets «komödienähnlich» zu bearbeiten, wie er selbst es formuliert hat. Ironie und Komik wären der von ihm präferierte Ton, das habe möglicherweise auch was mit Unterhaltsamkeit zu tun. Dieser Roman ist thematisch eindeutig mehr ein Liebesroman als ein DDR-Roman, die Probleme beim Zusammenleben beider Geschlechter werden aus verschiedenen Perspektiven umfassend und mit analytischem Blick beschrieben. Dass dabei ein ebenso totalitäres wie dümmliches, ungeliebtes politisches System den Hintergrund liefert, ist dem Dissidenten Jurek Becker als Motiv erkennbar ebenfalls wichtig. Eine Pointe seiner Geschichte besteht schließlich genau darin, dass die am Ende, nach schikanösem Papierkrieg vieler beteiligter Behörden, endlich genehmigte Ausreise der Protagonistin Amanda in die Bundesrepublik Deutschland kurz vor dem Mauerfall erfolgt, – man hätte nur zu warten brauchen, aber wer konnte das schon voraussehen?

In dem dreiteiligen Roman erzählen drei Männer jeweils aus der Ich-Perspektive über ihre Ehefrau beziehungsweise Lebenspartnerin Amanda, der das Wort «herzlos» anhängt, – zu Recht nach dem Urteil von zwei der Männer, die über sie berichten. Sie ist eine Schönheit, rätselhaft wie eine Sphinx, hat ihr Studium abgebrochen, hat schriftstellerische Ambitionen und ist gleichermaßen intelligent wie wortgewandt. Mit ihrem Ehemann, dem Ostberliner Sportreporter Ludwig Weniger, hat sie einen kleinen Sohn. Ludwig ist ein notorischer Fremdgänger, er hatte sogar mit ihrer einzigen Freundin eine leidenschaftliche Affäre. Das Paar hat sich auseinandergelebt, sie sind voller Misstrauen gegeneinander und wollen sich scheiden lassen, dieser erste Romanteil beschreibt die Phase vor der Scheidung aus Ludwigs Perspektive. Im Mittelteil erzählt der Schriftsteller Fritz Hetmann von seinem Zusammenleben mit Amanda, wobei Jurek Becker eine narrativ raffinierte Geschichte-in-der-Geschichte konstruiert. Fritz hat während der Jahre mit Amanda eine Novelle über sein zunehmend schwieriger werdendes Zusammenleben mit Amanda geschrieben. Die ist ihm aber durch Sabotage – von ihr angestiftet, wie er vermutet – von der Diskette gelöscht worden. Da er keine Kopie hat, erzählt er die Novelle nun aus dem Gedächtnis nach, wobei er immer wieder virtuos die erinnerte Novelle und seinen aktuellen Bericht miteinander vermischt. Als Amanda sich im dritten, tagebuchartig erzählten Teil schließlich Hals über Kopf in Stanislaus Doll verliebt, einen westdeutschen Rundfunk-Korrespondenten in Ostberlin, und Fritz daraufhin verlässt, steuert diese dritte Liebesgeschichte auf eine Ehe zu.

Dieser Eheschließung steht jedoch im Wege, dass sie politisch quasi eine Mischehe darstellt, Ost mit West, mit dem feindlichen Ausland also, was vom Staat natürlich genehmigt werden muss. Und dafür wäre auch noch Amandas Ausreise nach Westdeutschland zu beantragen, denn ihr Zukünftiger wurde von seinem Chef nach Hamburg zurückbeordert. In all diesen Liebes- und Paarturbulenzen beherrscht der DDR-Alltag in seiner politischen Verlogenheit natürlich immer wieder die Szene, – die Stasi ist allgegenwärtig.

All das wird mit einem ironischen Unterton in einer fast schon kargen Sprache erzählt, wobei der Humor von Jurek Becker sich durch seine Beiläufigkeit auszeichnet, er ist nie aufgesetzt. So spricht Amanda zum Beispiel vom «Einakter» und meint damit das in der Regel nicht zu zwei Liebesakten hintereinander fähige Glied ihrer Liebhaber. Herzlos ist Amanda, weil sie ihre Männer nicht nur physisch bespöttelt, sondern vor allem psychisch demaskiert, – und den Unrechtsstaat, den sie verachtet, gleich mit dazu!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Nach dem Gedächtnis

Lesen, kann ich nur sagen!

Als «Metaroman» wird im Klappentext das Buch «Aus dem Gedächtnis» der streitbaren russischen Intellektuellen und Schriftstellerin Maria Stepanova bezeichnet, «eine essayistischer Erzählung», die sich den üblichen Genres nicht so eindeutig zuordnen lässt. Obwohl dieses Debüt einer in Deutschland unbekannten Autorin wie ein Komet am literarischen Himmel erschienen ist, schweigt sich das Feuilleton bisher weitgehend aus. Auf Wikipedia findet man unter diesem Namen eine blonde, 2,02 Meter große russische Basketballspielerin, die gleichnamige Schriftstellerin ist dort nur namentlich gelistet, es gibt keinen Beitrag über sie. Das alles wird nicht so bleiben, ist zu vermuten!

Die Autorin beschreibt ihre geradezu manisch betriebene Spurensuche nach ihren jüdisch-russischen Vorfahren, ein gewagtes Vorhaben angesichts einer ziemlich dürftigen Quellenlage. Denn nur einzelne Zweige des weitverzweigten Stammbaums ihrer großen Familie sind durch Texte verschiedenster Art, diverse Fotos und aufbewahrte Gegenstände einigermaßen gut erschließbar, andere existieren allenfalls als körper- und geschichtslose Namen, oft sogar nur in mündlicher Überlieferung. Die in fünf Generationen das gesamte zwanzigste Jahrhundert umfassende und teilweise auch noch bis ins neunzehnte Säkulum zurückreichende Geschichte bezieht die Ahnen mit ein, gibt ihnen quasi eine Stimme. Eine gewisse Schlüsselrolle kommt dabei der ebenso dominanten wie exzentrischen Urgroßmutter Sarra zu, einer bolschewistische Revolutionärin, die 1907 nach Paris gegangen ist, dort Medizin studiert und promoviert hat und, in die Heimat zurückgekehrt, sich vorausahnend als Ärztin in die relative Sicherheit einer Gesundheitsbehörde zurückgezogen hat. Diese intuitive Weitsicht scheint in den Genen der Großfamilie zu liegen, bis auf einen als Soldat gefallenen jungen Mann hat die gesamte Sippe die Wirren von Revolution, Weltkrieg, Antisemitismus und stalinistischen Säuberungen, zumindest körperlich, recht gut überstanden.

Es ist das Wechselspiel von Erinnern und Vergessen, das den Leser auf seinem in jeder Hinsicht bereichenden Streifzug durch die wechselvolle Geschichte Russlands begleitet, immer auf den Spuren dieser Familie, wobei er der Autorin bei ihren vergeblichen Bemühungen um Gewissheit quasi ständig über die Schulter blickt. Als Ich-Erzählerin nimmt Maria Stepanova sich selbst völlig aus, sie berichtet mit einer gewissen Schwermut über die Altvorderen, nicht über sich, – an einer Stelle erwähnt sie ihren Mann, ebenso prophetisch wie amüsant, als «mein zukünftiger Ex-Mann», das war’s auch schon. Man erfährt auch relativ wenig über ihre Eltern. Nur einmal, als der Vater ihre Frage, ob sie seine erhalten gebliebenen Briefe im Buch abdrucken dürfe, ziemlich überraschend brüsk zurückweist, ist sie gekränkt und irritiert zugleich. Diese mühevolle Erinnerungsarbeit mit den vielen darin eingeschlossenen, klugen Reflexionen ist von einer geradezu ausufernden Intertextualität begleitet, der sich vertiefend noch viele essayartige Randgeschichten hinzugesellen. So ist zum Beispiel ein längerer Abschnitt des Romans sehr einfühlsam dem Schicksal der jüdischen, in Auschwitz ermordeten Künstlerin Charlotte Salomon gewidmet, über die David Foenkinos einen miserablen Roman geschrieben hat. Und die eigenwilligen Glaskästen des schrägen US-amerikanischen Künstlers Joseph Cornell dienen ihr an anderer Stelle als willkommenes Vehikel zur Veranschaulichung des Erinnerns, die hinterlassenen Gegenstände haben ihren Sinn nur als ehemaliger Besitz Verstorbener, – solange sich überhaupt noch irgend jemand an sie erinnert.

Als Leser wird man geradezu suggestiv mitgenommen und zu eigenem Nachdenken angeregt, geht es in diesem stilistisch unpathetischen, fraktionell erzählten Suchprozess letztendlich doch um nichts Geringeres als die eigene Bedeutungslosigkeit, die unerträgliche Gewissheit also, nur ein Sandkorn der Geschichte zu sein. Lesen, kann ich nur sagen!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Natura morta

Literarische Wimmelbilder

Auf den ersten Blick scheint die Novelle «Natura morta» des österreichischen Schriftstellers Josef Winkler ein Paradebeispiel zu sein für eine narrative Methode, bei der das signifikant Insignifikante im Vordergrund steht, mithin stilprägend ist. Dieses kleine Büchlein ist insoweit ein Triumph der Sprache und Form, als eine Handlung nur rudimentär vorhanden ist und scheinbar auch nur als Gerüst für eine minutiöse, detailversessene Beschreibungskunst dient. Kann eine Lektüre, die sich litaneiartig im Nebensächlichen verliert und die jene, laut Goethes Definition, sich «ereignende unerhörte Begebenheit» damit fast schon marginalisiert, trotzdem lohnenswert sein? Aber sicher doch, denn hier wird nicht nur der Tod thematisiert, was ja immer löblich ist, sondern auch und dominant der damit einsetzende Verwesungsprozess mit all den unappetitlichen Begleiterscheinungen!

«Ein Macellaio … brach den bereits mit einem Hackbeil gespaltenen, enthäuteten Kopf eines Schafs auseinander, nahm das Gehirn aus dem Schädel und legte die beiden Gehirnteile sorgfältig nebeneinander auf ein rosarotes Fettpapier mit Wasserzeichen. Im silberglänzenden, rechten Augenhöhlenknochen – die herausgeschälten Augäpfel lagen auf einem Fleischabfallhaufen – lief eine violett schimmernde Fliege». Zugegeben, blutige Schlachterei ist nicht gerade ein erfreuliches Thema, auch wenn sie wie hier ganz selbstverständlich eingebettet ist in das pralle Marktleben auf der Piazza Vittorio Emanuele in Rom. Was als postmortales Phänomen das ekelerregende Treiben dort begleitet und uns geradezu brutal überfällt in dieser Novelle, das verdrängen wir normalerweise am liebsten. Und dabei hilft uns dann, womit ein zweiter Erzählraum dieser Novelle geöffnet wird, die Kirche, in der Heiligen Stadt natürlich die katholische. Denn mit ebensolchem Scharfblick wird die sonntäglich auf dem Petersplatz vor dem Vatikan herumlungernde Menschenmenge beschrieben. Unwillkürlich erinnert mich die immense erzählerische Detailfülle an Gemälde von Pieter Brueghel dem Älteren, dessen berühmte allegorische Wimmelbilder mit dutzenden Einzelszenen und hunderten von Figuren hier in eine vergleichbar groteske literarische Form gegossen sind. Auch in dieser morbiden Novelle sind nämlich die Figuren äußerst derb gezeichnet, körperlich gehandikapte oder bös verunstaltete, in Lumpen gehüllte, hässliche, abstoßende Kreaturen, die sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlagen, um irgendwann elend zu verrecken.

Als Piccoletto, der sechzehnjährige Sohn der Feigenverkäuferin, bei einem Verkehrsunfall stirbt, schließt sich thematisch der Kreis. Auf den Menschen wartet das gleiche Schicksal, von dem auch all die auf dem Markt feilgebotenen blutigen Körperteile und glitschigen Innereien der geschlachteten Tiere künden. Mit beißendem Spott überzieht Josef Winkler in seinem narrativen Stillleben blasphemisch die katholische Kirche mit ihrem allgegenwärtigen Heiligenkitsch oder mit den verlogenen, die Absolution versprechenden Beichtvätern im Petersdom. Dessen Dresscode kann der unbotmäßige Besucher in kurzen Hosen praktischerweise gleich vor Ort durch Erwerb einer der überall marktschreierisch angebotenen Pantaloni lunghi erfüllen, für schlappe diecimila Lire. Der liebe Gott wird’s ihm danken!

Manche zunächst nicht recht zusammen passenden Handlungsfäden fügen sich am Ende schließlich doch zu einem Ganzen. Dabei nutzt der Autor auch die Trauerfeier und die Beisetzung von Piccoletto in einem Massengrab am Campo Verano zu bissigen Seitenhieben auf die katholische Kirche und stellt deren Scheinheiligkeit bloß. Bis an die Ekelgrenze werden in dieser gleichwohl stillen Novelle niedere menschliche Instinkte beschrieben. Die nachdenklich machende Geschichte verdeutlicht durch ihre karge Sprache auch sehr stimmig die profane Kreatürlichkeit des Menschen und weist ihm kategorisch seine so gar nicht privilegierte Stellung im evolutionären Prozess zu.

Fazit: lesenswert

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Genre: Novelle
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Die zweite Frau

Wo Realität die Fantasie übertrifft

Der dieser Tage neunzig Jahre alt gewordene Schriftsteller Günter Kunert hat ein vielseitiges Werk geschaffen. Die schier endlose Liste allein seiner über 150 Buchveröffentlichungen endet aktuell mit einem Roman, dessen Manuskript er vor kurzem zufällig wiederentdeckt habe und der nun erstmalig unter dem Titel «Die zweite Frau» erschienen ist. Mit fast 45 Jahren Verspätung, in seiner Lebensmitte also – aus heutiger Sicht. Denn an eine Veröffentlichung war damals nicht zu denken, der satirische Roman nimmt nämlich mit beißender Ironie die DDR auf die Schippe, den ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden, sichtbarer Beweis für die Überlegenheit des real existierenden Sozialismus. Keine Angst, es geht nicht um trockene Dialektik in diesem Band, den übrigens eine Zeichnung von Hand des Autors ziert, denn bereits sein Titel deutet stimmig eine andere Thematik an: Die zweite Frau hat Probleme mit der ersten.

Margarete Helene, Faustsches Gretchen und schöne Helena zugleich, die wenige Tage vor ihrem 40ten Geburtstag steht, findet beim Abriss eines Schuppens in ihrem Garten einen halb verrotteten Büstenhalter, – mit beeindruckender Körbchengröße. Barthold, ihr Mann, der im Liegestuhl döst und aus einem wüsten Traum mit Walter Ulbricht erwacht, kann die misstrauische Frage seiner Liebsten nach der vormaligen Trägerin des BHs nicht beantworten, der Schuppen stehe ja schon seit Jahrzehnten. Anders als seine tatkräftige Frau ist Barthold ein introvertierter Archäologe, elf Jahre älter als seine Frau, die beiden leben in einem bescheidenen Häuschen und sind glücklich miteinander, beide wissen sehr genau, was sie aneinander haben. Während Margarete Helene nun eifersüchtig weiter nach der Besitzerin des BHs forscht, eine vergilbte Postkarte von einer gewissen Elfi findet und eine erste Ehe vermutet, die er ihr verschwiegen habe, macht sich ihr Ehegespons auf die schwierige Suche nach einem passenden Geschenk für sie. Und landet schließlich angesichts deprimierend leerer Regale im Intershop, wo er mit illegal beschafftem Westgeld einen Goldring mit Rubin ersteht. In der langen Warteschlange dort kommt er mit einem Mann ins Gespräch, zitiert dabei Montaigne und erklärt auf Nachfrage, es handele sich um die Worte eines Franzosen. Derweil findet seine Holde im Erdreich unter dem Schuppen Knochen, die menschlich sein könnten, – sofort denkt sie an Elfi. Das Ganze gerät vollends zu Farce, als tags darauf ein tumber Stasi-Mitarbeiter auftaucht und gottlob nicht nach den vermeintlichen Knochen von Elfi fragt, sondern von Barthold Auskünfte über diesen Franzosen namens «Mohnteine» haben will, Kontakte ins feindliche Ausland seien ja schließlich meldepflichtig.

Der systemkritische Autor spricht Klartext, er rechnet in seinem derben Roman geradezu zynisch mit dem Staat ab, in dem er damals lebte. Seine scharfe Kritik ist jedoch nicht nur umwerfend witzig in eine wohldurchdachte, peinlich entlarvende Handlung verpackt, sie wird auch in zum Brüllen komischen Satzgebilden und Wortschöpfungen erzählt, die besonders in den Dialogen geradezu funkeln. Der Leser kommt aus dem Schmunzeln nicht mehr heraus, vor allem dann nicht, wenn ihm das Zeitkolorit einigermaßen vertraut ist. Nebenbei lässt Günter Kunert in seinem, damals todsicher als staatszersetzend angesehenen und in Ost und West gleichermaßen undruckbaren Roman seiner überquellenden Lust am Reflektieren freien Lauf, – wobei ihm Michel de Montaigne stets hilfreich zur Seite steht.

Diese Trouvaille, die man nun so schenkelklopfend liest, ist sicherlich keine große Literatur, aber eine herrliche Persiflage mit hohem Unterhaltungswert. Es ist außerdem, das sei besonders den DDR-Nostalgikern ins Stammbuch geschrieben, auch das beklemmende Zeugnis einer menschenverachtenden Diktatur. Also etwas, das der Autor sich damals wohl von der Seele schreiben musste, denn die Realität, sagt er altersweise, übertrifft die Fantasie bei weitem.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Wallstein Göttingen

Der Eissturm

Eiskalte Schlüsselparty

Im eher bescheidenen Œuvre des US-amerikanischen Schriftstellers Rick Moody ist «Der Eissturm», 1994 erschienen, sein bekanntestes Werk. Der Stoff wurde schon drei Jahre später verfilmt, produziert als Independent-Film und prominent besetzt. Wie es der Zufall will, hatte ich gestern gerade den Roman fertig gelesen, da entdeckte ich, dass der Film abends auf «Arte» läuft, – so konnte ich also Buch und Film direkt vergleichen. Mir fiel auf, dass der Spielfilm sehr dicht an die Vorlage angelehnt ist, und er hat mir auch deutlich besser gefallen als der Roman. Was mir als überzeugtem Buchleser, der seine Bilder allemal lieber selber im Kopf erzeugt, so noch nie vorgekommen ist.

Handlungszeit ist das Wochenende von Thanksgiving im Jahre 1973, Handlungsort ist die Kleinstadt New Canaan im Bundesstaat Connecticut, eine der reichsten Städte der USA. Das Wetter ist äußerst garstig, ein heftiger Eissturm verbreitet überall Chaos. Es ist die Zeit der Watergate-Affäre, die materiell privilegierten Romanfiguren verkörpern geradezu archetypisch den American Way of Life, sind aber gleichwohl im Innersten unzufrieden. Ihren Frust versuchen sie durch sexuelle Libertinage zu kompensieren, die sexuelle Revolution in Europa ist auch auf die prüden USA übergeschwappt. «Dann will ich Ihnen mal die Komödie über diese Familie servieren, die ich in meiner Jugend gekannt habe» lautet etwas holperig der erste Satz, und weiter: «Auch für mich gibt’s eine Rolle in der Geschichte – die gibt’s für ein Klatschmaul immer –, aber dazu später mehr». Und dann lässt sich das Klatschmaul in epischer Breite über den Sex aus, Joachim Kaiser hat es einst überaus treffend so formuliert: «Ich habe mich am Anfang beim Lesen so gefühlt, als wenn ich im Theater sitze und da sind lauter nackte Leute auf der Bühne.» Petting, Onanie, Sperma, Koitus, Defloration, Impotenz, Ehebruch sind die Themen, die scheinbar, – glaubt man dem Autor -, die frustrierten US-amerikanischen Wohlstandsbürger jener Zeit vorwiegend beschäftigen, gipfelnd in dem lustigen neuen Gesellschaftsspiel namens «Schlüsselparty», das Rick Moody mit diesem Roman als erster in die Populärkultur eingeführt hat.

Es geht um die Familie Hood, deren Leben nach diesem Wochenende nicht mehr das gleiche ist wie vorher. Während der 40jährige Ben mit der flotten Nachbarin Janey, deren Ehemann Jim häufig auf Geschäftsreise ist, ein intimes Verhältnis hat und seine gelangweilte Frau Elena ihren Frust durch Kleptomanie kompensiert, versucht sich ihr introvertierter Sohn Paul, das Alter Ego des Autors, erfolglos an eine Mitschülerin heranzumachen. Seine vorlaute Schwester Wendy animiert Sandy, den zehnjährigen Sohn von Janey, zu Doktorspielen, nachdem sie schon dessen älteren Bruder Mickey verführt hat. Erwähnt sei noch, dass Janey sich beim Schlüsselspiel statt Ben den jüngsten Party-Teilnehmer angelt und die gehemmte Elena ausgerechnet Jim, den Mann von Bens nachbarlichem Betthäschen Janey, beim Griff in die Schlüsselschale «gewinnt». Sie lässt sich auch gleich im Auto von ihm vernaschen, als Rache quasi, – völlig freudlos allerdings, Ejaculatio praecox heißt das Stichwort dazu. Und auch ihr Ben geht leer aus, er liegt volltrunken im Badezimmer der Party-Villa.

Was thematisch an Schnitzler erinnert in diesem amerikanischen «Reigen», das ist hier allerdings primitivste Verbalerotik ohne jedes Raffinement, so kalt wie der titelgebende Eissturm. Das Ganze endet für alle im Fiasko, es gibt einen Toten und ein Hollywood-typisches Ende mit Pauls lächelnder Familie, als sie ihn nach einer Horrornacht im vereisten Zug glücklich am Bahnhof abholt. Indem der Film viele im Roman seitenlang abgehandelte, langweilige Details, vor allem über Pauls nervige, idiotische Comic-Hefte, gottlob weglässt und sich auf den seelischen Kern seiner Figuren konzentriert, vermag er diese zynische Abrechnung mit der gelangweilten Generation jener Zeit deutlich glaubhafter abzubilden.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Die folgende Geschichte

Literarisch eine Offenbarung

Der schon lange nobelpreisverdächtige niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom hat mit seiner Erzählung «Die folgende Geschichte» ein Auftragswerk geschrieben, das als werbewirksames «Buchwochengeschenk» vom 6. bis zum 16. März 1991 jeder holländische Buchkäufer als kostenlose Zugabe erhielt, die Auflage betrug stolze 540.000 Exemplare. Die exzellente deutsche Übersetzung erschien dann im September in einer hundert Mal kleineren, bescheidenen Auflage von 5.300 Exemplaren. Kurz danach, am 10. Oktober, sagte Marcel Reich-Ranicki im Literarischen Quartett des ZDF: «Ich habe das Buch nicht ganz verstanden. Ich muss es ein zweites Mal lesen. Doch was ich von dem Buch verstanden habe, hat mich tief beeindruckt», und er wünschte sich, «es sollte ein Bestseller werden». Nach diesem hymnischen Lob wurde es zumindest in Deutschland tatsächlich ein Bestseller und markierte endgültig auch den literarischen Durchbruch des im eigenen Lande kaum beachteten Autors, ein bis dato nur wenigen literarischen Gourmets bekannter Außenseiter. Weltweit folgten positive Rezensionen, nur Peter Handke schrieb in seiner Schmähkritik: «Das ist Kitsch der äußersten Papierklasse» und nannte das Buch verächtlich «das Beispiel eines plündernden Postmodernismus». Inzwischen liegt auch eine literaturwissenschaftlich brillant kommentierte Ausgabe von Helmut Nobis zu diesem Handkeschen «Kitsch» vor, samt detaillierter Strukturskizze und intelligenten Deutungsansätzen, – soviel zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte.

Der ehemalige Lehrer für alte Sprachen, unter dem Synonym Dr. Strabo nun widerwillig als Verfasser von Reiseberichten tätig, wacht in einem Hotelzimmer in Lissabon auf, obwohl er sich doch am Vorabend in Amsterdam ins Bett gelegt hat. Herman Mussert kennt das Zimmer, hier hatte er vor zwanzig Jahren mal mit seiner Kollegin, der Frau des Turnlehrers, einige Tage verbracht. Sie wollte sich durch dieses Liebesabenteuer mit «Sokrates», wie der engagierte Altphilologe von seinen Schülern liebevoll genannt wurde, an ihrem untreuen Ehemann rächen. Denn der hat ein Verhältnis mit Lisa d’India, einer hochbegabten, charismatischen Schülerin. «Sie ist die Freude meiner alten Tage» sagt Mussert, der sie begeistert «Kriton» nennt nach dem Schüler des Sokrates. Aber wer ist er nun eigentlich, das «Ich» in Amsterdam oder das «Ich» in Lissabon? Ist das «Ich» in Amsterdam schon tot? Wer sich erinnert, lebt, soviel ist sicher! Er beginnt seine «Erinnerungsarbeit» und streift sinnierend durch Lissabon.

Im zweiten Teil der Erzählung befindet er sich plötzlich mit einer seltsamen Reisegruppe auf einem Schiff, das vom Stadtteil Belém zum brasilianischen Belém unterwegs ist und dann in den Amazonas hinein fährt, der hier jedoch der Acheron ist. Nach Art des Dekamerons erzählen die Passagiere nacheinander ihre Geschichten, es sind die Geschichten ihres Todes. Als Mussert dran ist zu erzählen, merkt er, «dass die Frau, die da sitzt und auf mich wartet, das Gesicht meiner allerliebsten Kriton hat, des Mädchens, das meine Schülerin war, so jung, dass man mit ihr über die Unsterblichkeit sprechen konnte. Und dann erzählte ich ihr, und dann erzählte ich dir ‹Die folgende Geschichte›.» Mit diesen Worten endet die Erzählung.

Der überwiegende Teil der 540.000 stolzen Buchbesitzer in Holland dürfte ihr Geschenk schon nach wenigen Seiten ratlos zur Seite gelegt und einer Endlagerung im Bücherregal zugeführt haben! Es handelt sich nämlich um ein narrativ hochkomplexes, anspielungsreiches, extrem anspruchsvolles, ergo schwierig zu lesendes Werk. Der Autor lässt seiner metaphysischen Intention freien Lauf, und herausgekommen ist ein modernes Glasperlenspiel, in einer intellektuellen Variante allerdings. Für den aufnahmebereiten, aufmerksamen, idealerweise auch hinreichend humanistisch vorgeprägten Leser ist diese Erzählung ohne Frage eine auf höchstem Niveau angesiedelte, literarische Offenbarung.

Fazit: erstklassig

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Genre: Erzählung
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Roman ohne Held

Konzeptionell danebengelungen

Die Lektüre des Buches von Ulrike Kolb mit dem deskriptiven Titel «Roman ohne Held» verblüfft den Leser gleich zu Beginn. Denn da wird detailliert – aus der Perspektive eines Ertrinkenden – dessen Ertrinken geschildert, werden geradezu minutiös alle medizinischen Phasen des Sterbeprozesses aufgezählt bis zum endgültigen Exitus. Und ganz offensichtlich, so merkt der erstaunte Leser, soll es so weitergehen mit dem toten Ich-Erzähler, er berichtet wie in einem medizinischen Lehrbuch von den vergeblichen Versuchen zur Wiederbelebung ebenso wie von der nachfolgenden Obduktion seines Körpers in der Pathologie. Eine anatomische Lehrstunde geradezu, man fühlt sich wie ein junger Medizinstudent, – von denen der eine oder andere zartbesaitete genau da ja schon mal weiche Knie bekommt und dann doch lieber Jura studiert. Es ist diese irritierende narrative Sichtweise aus dem Jenseits, die sehr geschickt einen starken Sog zum Weiterlesen erzeugt.

Nach dem Tod wird denn auch gleich die schwere Geburt des namenlos bleibenden Ich-Erzählers geschildert, genau so medizinisch detailliert, nur dass hier ein psychologisches Element hinzukommt, die Mutter wünscht dem hässlichen Säugling, der zunächst kein Lebenszeichen von sich gibt, den Tod, die Hebamme solle ihn einfach ans offene Fenster legen, damit seine kaum vorhandenen Lebensgeister sich wegen der Kälte nicht entfalten. Aber dann kommt doch noch der befreiende erste Schrei des Neugeborenen, und das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Denn was wir im Folgenden lesen ist die Geschichte eines von Geburt an unter seiner Zurückweisung leidenden Mannes, den die Welt geradezu anekelt, der in allem nur das Schlechte sieht. Immer wieder wird seine lebenslängliche, unheilvolle Getriebenheit auf dieses eine elementare Ereignis seiner frustrierenden Geburt zurückgeführt. Wobei sein fataler Urschmerz meist durch Gerüche ausgelöst wird, Schweiß, Eiter, Erbrochenes, Menstruationsblut, Kot und Urin bewirken zwanghaft Ekelgefühle bei ihm. Und sein eigener «Seelengestank» hindert ihn am Atmen, der «Pesthauch meines Selbst», sagt er.

Leider hat sich Ulrike Kolb mit ihrer kreativen Idee vom Erzählen aus dem Totenreich heraus gründlich verhoben, denn sie kann diese außergewöhnliche Perspektive nicht durchhalten und wechselt zunehmend in die Sicht der Tochter des Toten, die sich imaginativ die Lebenserinnerungen des Vaters aneignet: «Indem sie sich vorstellt, ich wäre derjenige, der schreibt», liest man da, «lässt sie Szenen des Lebens aufleuchten, die der Lebende vergessen hat, um sie in die Kellerverliese seiner Seele herabzupressen.» Und dieses Leben ist vom Chaos geprägt, familiär hinterlässt der – ja nun doch vorhandene – «Held» nur Trümmer, er ist geschieden, der Sohn und die Tochter haben sich von ihm abgewandt, seine Mätresse nimmt ihn finanziell aus nach Strich und Faden, er hat keine Freunde und vagabundiert einsam durch die Welt. Das ererbte Vermögen hat er durch obskure Geschäfte vervielfacht, dann aber auch wieder verloren oder so raffiniert versteckt, dass es sogar für ihn selbst am Ende großenteils nicht mehr auffindbar ist, zum Teil auf Nummernkonten schlummert, deren Nummern er vergessen hat. Zudem wird er auch noch von skrupellosen Vermögensberatern betrogen, es bleibt kaum etwas übrig vom einst so eifrig zusammengerafften Mammon, als schließlich der Sarg ins Grab gesenkt wird.

Schlüssig ist all das nicht, weder familiäres und finanzielles Chaos noch die traumatischen Kriegserlebnisse in Babyn Jar oder die sadomasochistischen Anwandlungen des fiesen Helden, für den Perversion, Gewalt und Sex untrennbar zusammengehören. Der erzählerische Schwerpunkt liegt schon fast penetrant auf der schieren Körperlichkeit, während die psychologischen Aspekte allzu klischeehaft und unmotiviert aneinander gereiht werden. Auch wenn manches dabei gut erzählt wird, so ist der Roman als Ganzes konzeptionell doch gründlich danebengelungen!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Gilles` Frau

Unwiederbringlich

Im Jahre 1937 erschien der Roman «Gilles´ Frau» als Debüt der belgischen Schriftstellerin Madeleine Bourdouxhe – und blieb weitgehend unbeachtet. Zwölf Jahre später ging Simone de Beauvoir dann in ihrem berühmten Buch «Das andere Geschlecht» ausführlich auf die Thematik in Bourdouxhes Roman ein, der die Diskrepanzen weiblicher und männlicher Sexualität in fiktionaler Form aufzeigt. Wiederentdeckt, und durch diverse Übersetzungen weithin bekannt, wurde er erst 1985, von der Kritik in Frankreich damals als makelloses Debüt gefeiert. Ein Klassiker also, der den heutigen Leser eventuell irritieren wird mit seiner feministischen Problematik, über die inzwischen zwar die Zeit hinweg gegangen ist, deren Grundbedingungen aber als genetische Prägung ja nach wie vor gelten dürften.

Der Arbeiter Gilles, ein äußerst stattlicher, kräftiger Mann, und seine attraktive, ebenso fleißige wie brave Ehefrau Elisa leben mit ihren kleinen Zwillingstöchtern glücklich und zufrieden in einer belgischen Industriestadt, – Lüttich vermutlich, der Name wird nicht genannt. Ihre auch sexuell beglückende Zweisamkeit in einer rundum harmonischen Ehe wird abrupt gestört, als es Elisas jüngerer Schwester Victorine gelingt, Gilles zu verführen. Schlagartig wird er ihr regelrecht hörig und gesteht nach einiger Zeit schließlich seiner bereits etwas Derartiges ahnenden Frau diese rauschartige, leidenschaftliche Affäre. Elisas Lebensglück, ihr Daseinszweck gar besteht darin, «Gilles´ Frau» zu sein, nicht nur juristisch, sondern auch sexuell, etwas anderes kann sie sich mit ihrem schlichten Gemüt beim besten Willen nicht vorstellen. Sie hofft nun inständig darauf, dass er sich irgendwann aus seiner fatalen, rein triebgesteuerten Abhängigkeit wird lösen können, und lebt fortan unfreiwillig in einer Ménage-à-trois, – eine Demütigung, die sie geduldig hinnimmt. Nach außen hin ändert sich nichts, sie erwartet ihr drittes Kind, der untreue Gilles bleibt bei ihr wohnen und kümmert sich nach wie vor um Frau und Kinder, trifft sich aber sehr oft zum Sex mit der lasziven Victorine. Als die jedoch plötzlich verkündet, einen anderen Mann heiraten zu wollen, rastet der eifersüchtige Gilles in seiner primitiven Männlichkeit total aus und schlägt sie grün und blau. Allmählich gelingt es ihm dann zwar doch, sich aus seiner sexuellen Obsession zu lösen, aber seine Liebe zu Elisa lebt nicht wieder auf. Er ist ziemlich lethargisch geworden und hat jegliches Interesse an ihr verloren. Elisa ist fassungslos, ihr Glück ist endgültig zerstört!

Dieser Roman trägt alle Züge einer antiken Tragödie, geradezu paradigmatisch wird hier der gescheiterte Versuch einer einfachen Frau ohne ausgeprägte eigene Identität geschildert, den aus ihrer schon beinahe symbiotischen Ehe ausgebrochenen Mann zurück zu gewinnen, egal wie. Beide Protagonisten dieser fast ausschließlich auf sie fokussierten, kammerspielartig aufgebauten Geschichte scheitern. Gilles scheitert an der Amour fou mit seiner leichtlebigen Schwägerin, Elisa an der nun endgültig erloschenen Liebe ihres Mannes, – Fontane hat seinen thematisch vergleichbaren Roman sehr treffend «Unwiederbringlich« betitelt, – mit einem ebenso katharsisähnlichen Ende übrigens.

Es ist die schicksalhafte Vorbestimmung, die das Geschehen in diesem Roman schon bei der Schilderung der ehelichen Idylle von Anfang an drohend überlagert, zu schön um wahr zu sein, quasi. Wobei Madeleine Bourdouxhe mit ihrer zurückgenommenen, schlichten Sprache komplexe, emotionale Vorgänge extrem komprimiert zu veranschaulichen versteht. Wozu ist die zerstörerische Kraft einer bedingungslosen Liebe fähig? «Die Auslöschung der eigenen Person im Namen der Liebe – das ist mehr oder weniger die Geschichte aller Frauen» hat die Autorin einst in einem Kommentar zu ihrem Roman kurz und bündig festgestellt. Und wenn man dieses Buch gelesen hat, dann ist man fast geneigt, ihr das tatsächlich auch zu glauben.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Lempi, das heisst Liebe

Eine Frau in drei Geschichten

Mit dem Zusatz «das heißt Liebe» im deutschen Titel des Romans «Lempi» von Minna Rytisalo werden viele Leser vermutlich auf eine falsche Fährte gelockt. Denn dieses Debüt der finnischen Autorin ist geradezu eine Dekonstruktion der Liebe, also alles andere als ein klassischer Liebesroman. Vor dem historischen Hintergrund des Lapplandkrieges wird dieses beliebte Sujet hier auf beklemmende Weise konterkariert, wird das allfällige Gefühlschaos als grausame Illusion entlarvt.

Die junge Sisko animiert ihre lebenslustige Zwillingsschwester zu einer makabren Wette: Lempi würde den ersten Mann heiraten, der Finnisch spricht und alleine den Laden betritt. Und Lempi schnappt sich denn auch prompt den großen blonden Mann, der morgens als Erster in den Krämerladen des Vaters kommt, ein einfacher Bauer, der sich Hals über Kopf in die übermütige Lempi verliebt, – bald schon wird das Aufgebot bestellt. Für sie eine Heirat «nach unten» zwar, aber das Paar verlebt einen kurzen, rauschhaften Sommer miteinander. Gleichzeitig jedoch trifft die verwöhnte junge Frau auf dem armseligen Hof auch auf eine ungewohnt raue Lebenswirklichkeit, die sich dann noch härter für sie erweist, als ihr Mann zum Kriegsdienst einberufen wird und sie als Schwangere die schwere Arbeit auf dem Hof nun mit der Magd Elli allein bewältigen muss. Dies ist das Handlungsgerüst, an dem sich die Geschichte von Minna Rytisalo aus drei Perspektiven empor rankt.

Zunächst aus der von Viljami, der als gebrochenen Mann aus dem Krieg zurückkehrt. Seine Frau sei mit einem deutschen Soldaten fortgefahren und habe ihr Neugeborenes und den Ziehsohn allein zurückgelassen, erklärt ihm die Magd. Im zweiten Teil wird aus ihrer Perspektive erzählt, wie sie Lempis Sohn und auch den Ziehsohn allein durchgebracht hat in den schweren Kriegszeiten. Sie ist voller Hass gegen Lempi, hat sie von Anfang an zutiefst verachtet, und als nun Viljami zurückkehrt, den sie immer schon für sich haben wollte, wirft sie sich ihm an den Hals und erobert den schwermütigen Mann mühelos. Der mit «Sisko» betitelte dritte Teil erzählt in der nun folgenden Hälfte des Romans die Geschichte von Lempis Zwillingsschwester. Diese dritte Ich-Erzählerin hat mit dem deutschen Soldaten Max angebandelt und ist mit ihm 1944 vor der Offensive der Roten Armee nach Norwegen geflüchtet, später in Hamburg gelandet, – und dort hat Max sie dann verlassen. In Rückblenden erzählt die desillusionierte alte Frau nun von ihrem tragischen Leben, das stark von ihrer verschwundenen Zwillingsschwester geprägt war, deren rätselhaftes Schicksal neben Siskos eigner Geschichte nun auch noch in einer dritten Version vor dem Leser ausgebreitet wird.

In einem kurzen Prolog aus der Jetztzeit wird vorweg über die Ankunft von Sisko, die inzwischen eine alte Frau ist, auf dem Hof von Viljami berichtet, gefolgt von drei kurzen Briefen Ellis vom Herbst 1944, in denen sie dem an der Front kämpfenden Viljami von Lempis Verschwinden und seinem neugeborenen Sohn berichtet. Der raffiniert konstruierte, mit einem elegischen Grundton überlagerte Roman ist in einer schlichten, fast kargen Sprache geschrieben, oft in Du-Form, so als wäre das Gesagte an Lempi gerichtet, wobei die drei Teile sprachlich auch noch jeweils ihre eigene Tönung haben. Minna Rytisalo erzählt nicht nur sehr sprunghaft und unvollständig, auch ein Zusammendenken der drei Geschichten und allerlei Querverweise ergeben kein schlüssiges Bild über Lempis Verschwinden. Es gibt nur dezente Hinweise, einmal wird zum Beispiel ein Grab unter der Tanne angedeutet, am Ende kommt der Sohn mit einem Kieferknochen aus dem Garten, – so beiläufig, dass man es fast überliest. Zu den Lesefrüchten gehören neben der historisch lehrreichen Seite dieses Romans die illusionslosen Reflexionen über das schwierige Verhältnis der Geschlechter zueinander, besonders genossen habe ich zudem das narrative Können dieser neuentdeckten Autorin.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Die Judenbuche

Nicht nur morgens lesenswert

Deutschlands bedeutendste Schriftstellerin des 19ten Jahrhunderts, Annette von Droste-Hülshoff, hat mit ihrer 1842 im «Cotta’schen Morgenblatt für gebildete Leser» erstmals erschienen Novelle «Die Judenbuche» ein Prosawerk geschaffen, dessen Stoff viele zum Wiederlesen anregt und das als Klassiker auch heutige Leser zu begeistern vermag. Mit dem von der Autorin ursprünglich gewählten Titel «Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen», den der Verlag seinerzeit publikumswirksam abgeändert hat, ist das literarische Genre bereits genannt, es handelt sich um eine Milieustudie in einem abgelegenen Dorf Westfalens. Der große Erfolg dieses Büchleins liegt wohl nicht zuletzt darin begründet, dass es sich um eine Kriminalgeschichte handelt, es gibt zwei Morde und noch einen weiteren tragischen Todesfall, genug Potential also, um wohligen Schauer beim «gebildeten Leser» zu erzeugen.

Protagonist dieser Novelle ist Friedrich Mergel, dessen Vater ein gewalttätiger Alkoholiker ist, der sturzbetrunken in einer Winternacht im Wald einschläft und erfriert. Der neunjährige Sohn hilft fortan seiner Mutter als Kuhhirte, bis ihn sein zwielichtiger Onkel quasi «adoptiert» und ihn bei sich beschäftigt. Dort lernt er Johannes Niemand kennen, dessen unehelichen Sohn, der ihm verblüffend ähnlich sieht und sich mit ihm anfreundet. Eine Blaukittel genannte brutale Bande von skrupellosen Holzdieben treibt in den dichten Wäldern ihr Unwesen und benutzt dabei auch Friedrich zum Schmierestehen. Als eines Nachts plötzlich der Oberförster auftaucht, warnt er die Bande und schickt den Forstmann in einen Hinterhalt, wo er später, mit einer Axt erschlagen, aufgefunden wird. Obwohl man Friedrich nichts beweisen kann, fühlt er sich mitschuldig. Auf einer Hochzeitsfeier bezichtigt ihn später der Jude Aaron vor allen Leuten des Betrugs, er habe seine teure Uhr nicht bezahlt. Kurz danach wird die Leiche des Juden im Wald unter einer Buche gefunden, der Verdacht fällt sofort auf Friedrich, zusammen mit Johannes gelingt ihm die Flucht. Der Baum wird fortan die «Judenbuche» genannt, die Juden schließen sich zusammen, kaufen dem Gutsherrn den Baum ab und ritzen auf Hebräisch den Satz «Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast». Achtundzwanzig Jahre später, der Mord ist längst vergessen, taucht an Heiligabend 1788 ein ausgezehrter Mann im Dorf auf, der verschollene Johannes Niemand. Er verdingt sich beim Gutsherrn und wird Monate später plötzlich vermisst, bis ihn der Sohn des ermordeten Oberförsters zufällig erhängt in der Judenbuche entdeckt. Bei der Untersuchung der Leiche kann der Gutsherr anhand einer Narbe den Toten als Friedrich Mergel identifizieren, der daraufhin ehrlos auf dem Schindanger verscharrt wird.

Die Autorin schreibt nach dem ergebnislosen Verhör von Friedrich, dass der Mord nie aufgeklärt wurde. «Es würde in einer erdichteten Geschichte Unrecht sein, die Neugier des Lesers so zu täuschen. Aber dies Alles hat sich wirklich zugetragen», beteuert sie. In der rückständigen, vom Gutsherrn ausgeübten, niederen Gerichtsbarkeit jener Zeit galt ein primitives Gewohnheitsrecht, und die Judenfeindlichkeit war allgegenwärtig. Das Unrecht wird in dieser Erzählung durch die Dunkelheit symbolisiert, die bei all den Schandtaten herrscht, der undurchdringliche Wald dient als finsterer Tatort.

Ein Kennzeichen dieser Novelle ist die unzuverlässige Erzählweise, die für manche Rätsel sorgt beim Leser. Die handelnden Figuren erscheinen seltsam unbehaust, sie sind unsicher und schwer zu verstehen in ihrem Handeln, ihr Seelenleben bleibt im Dunkeln. Liebe scheint ein Fremdwort zu sein, Mann und Frau finden zueinander aus dumpfem Opportunismus, selbst über der geschilderten Hochzeitsfeier schwebt drohend das Unheil. Eine stilistisch gekonnte, bereichernde Lektüre ist «Die Judenbuche» erstaunlicherweise auch heute noch, nach fast zweihundert Jahren.

Fazit: lesenswert

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Genre: Novelle
Illustrated by Hanser

Und Marx stand still in Darwins Garten

Evolution und Revolution

Was Kehlmann mit seiner Doppelbiografie von Gauß und Humboldt recht war, kann Ilona Jerger mit Darwin und Marx nur billig sein, ihr Debütroman «Und Marx stand still in Darwins Garten» baut ebenfalls auf einer fiktiven Begegnung zweier berühmter Männer auf, die sich in Wahrheit nie begegnet sind. Wobei die Herren hier nicht nur zur gleichen Zeit gelebt haben, sondern auch noch dicht beieinander im Großraum London wohnten. Wie die Namen schon anzeigen, geht es hier thematisch also um Evolution und Revolution, stehen sich die Naturwissenschaft mit ihrer materialistischen Weltsicht und die Philosophie in Form einer ökonomisch determinierten, soziologischen Theorie von der nur revolutionär zu überwindenden Verelendung der Massen gegenüber. Während Darwins naturgesetzliche These heftig mit der Religion kollidiert, prallen bei Marx unversöhnlich politische Gegensätze aufeinander.

Was wäre gewesen, wenn diese beiden Wissenschaftler aufeinandergetroffen wären? Ilona Jerger beginnt mit einem Traum, in dem Charles Darwin als «Kaplan des Teufels» einen Überfall von klerikalen Eiferern erlebt, die sein Haus verwüsten und die Erstausgabe seines Werks «Über die Entstehung der Arten» verbrennen. Man schreibt das Jahr 1881, Darwin ist 72 Jahre alt und von Krankheit gezeichnet. Gleichwohl arbeitet er täglich an allerlei Studien, mit denen er der Natur experimentell ihre Geheimnisse zu entlocken sucht. Er lebt im Wohlstand, ist mit einer Erbin der Wedgwood-Dynastie verheiratet, seine Bücher werden auf der ganzen Welt gelesen. Nur in den Adelsstand wurde er nicht erhoben, erhielt dann aber immerhin ein Staatsbegräbnis mit Beisetzung in der Westminster Abbey. Anders Karl Marx, «der Jude aus Trier», wie das Kapitel betitelt ist, in dem er in den Blickpunkt rückt, er lebt zu dieser Zeit, bespitzelt von preußischen Spionen, als Exilant unter bedrückenden Verhältnissen in London und ist ständig auf die Unterstützung seines wohlhabenden Freundes und Mentors Friedrich Engels angewiesen. Als Autor ist er nicht sonderlich erfolgreich, von seinem Standardwerk «Das Kapital» ist bisher nur der erste Band erschienen, an den zwei Folgebänden arbeitet er seit Jahren, sie wurden schließlich posthum von Engels fertig gestellt.

Ilona Jerger baut als Bindeglied zwischen ihren Protagonisten einen erfolgreichen Arzt mit ein, der die beiden alten Männer behandelt und mit ihnen viel über ihre Forschungsarbeiten spricht. Seiner Absicht aber, sie irgendwann einmal zusammen zu bringen, kommt ein glühender Vertreter der Evolutionstheorie zuvor, ein Freidenker, der dringend um ein Treffen mit Darwin nachsucht und bittet, auch seinen Schwiegervater mitbringen zu dürfen. Unter dem Titel «Tischgebet mit Ungläubigen» kommt es am 8. Oktober 1881 zu dem fiktiven Dinner, bei dem sich der avisierte Schwiegervater als Karl Marx herausstellt. Darwins frömmelnde Frau Emma hat als Beistand für die zu erwartenden Dispute auch den Dorfpfarrer hinzugebeten.

Diese vom Leser mit Spannung erwartete Schlüsselszene enthält zwar die verschiedenen Argumentationen, arbeitet aber weder den atheistischen Kernsatz «Religion ist Opium für das Volk» von Marx noch das «Gott ist tot» des Evolutionsbiologen stimmig heraus. Hier hatte ich funkelnde Wortgefechte erwartet statt eines zerfasernden, eher lauen Wortgeplänkels. Dafür thematisiert die Autorin in epischer Breite die Gebrechen der beiden alten Männer, lesen wir seitenlang von Flatulenz und anderem physischen Ungemach statt vom blühenden Unsinn der Genesis. Interessantestes Kapitel in diesem historischen Roman war stattdessen für mich die Rückblende auf die fünfjährige Weltreise des jungen Darwin mit dem Vermessungsschiff »Beagle», und zweifellos sind auch andere biografischen Schilderungen bereichernd. Aber das, was den Leser neugierig macht schon vom Titel her, das hat mich narrativ denn doch ziemlich enttäuscht. Die gute Idee allein macht noch keinen guten Roman!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Ullstein Berlin

Konzert ohne Dichter

Vorsicht Bestseller

Von Feuilleton und Leserschaft gleichermaßen positiv aufgenommen wurde 2015 der Künstlerroman «Konzert ohne Dichter» von Klaus Modick, er war schnell zum Bestseller avanciert. Sein Thema ist die Entstehung eines Gemäldes im Dunstkreis der Künstlerkolonie in Worpswede Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts, wobei der «Dichter» im Buchtitel für Rainer Maria Rilke steht. Der gehörte als Poet ebenfalls zu diesem Künstlerkollektiv und fehlt geradezu demonstrativ auf dem berühmten Jugendstilgemälde «Sommerabend» von Heinrich Vogeler, – die ungleichen Freunde hatten sich entzweit. Und Rilke wurde kurzerhand übermalt, der freie Platz auf der Gartenbank zwischen Paula Becker und Clara Westhoff ist jedenfalls ein unübersehbares Indiz dafür.

Überhaupt kommt Rilke nicht gut weg in diesem Roman, in dem der «Barkenhoff», das prächtige Anwesen des erfolgreichen Malers, als Zentrum einer Gruppe von Künstlern fungiert, zu denen neben den beiden schon erwähnten jungen Malerinnen eben auch der Lyriker gehörte, der eine Monografie über die Worpsweder Künstler geschrieben hatte, er war quasi das Sprachrohr nach draußen. Den äußeren Rahmen der Geschichte bilden die drei Tage vom 7. Juni bis 9. Juni 1905, in den entsprechenden Kapiteln wird vom Leben in der Künstlerkolonie erzählt und von der Reise des Malers nach Oldenburg, wo ihm am 9. Juni auf der Kunstausstellung vom Großherzog eine Goldmedaille für sein monumentales Gemälde übergeben werden soll. In Rückblenden breitet der Autor, gestützt auf die Tagebücher und Briefe Rilkes sowie die Lebenserinnerungen Vogelers, die Geschichte der berühmten Künstlerkolonie vor uns aus.

Wobei die problematische Freundschaft mit Rilke den roten Faden bildet, an dem entlang sich diese Erzählung von den zwei ungleichen Künstlerseelen rankt. Vogeler ist überaus erfolgreich, lebt auf großem Fuße, wird sowohl als Maler wie auch als Kunsthandwerker, Designer, Grafiker und Architekt geradezu hymnisch verehrt, während der junge Rilke mit seiner Literatur kaum beachtet wird, er lebt in prekären Verhältnissen, zumeist auf Pump, sein Malerfreund muss ihm öfter mal finanziell unter die Arme greifen. Während Rilke wie besessen arbeitet, sich in Gesellschaft aufdringlich in den Vordergrund schiebt, Gelegenheiten also geradezu herbeizwingt, um seine Lyrik vorzutragen, ist Vogeler eher ein selbstkritischer Künstler, der seine Mittelmäßigkeit erkennt, – am Ende sogar in seinem prämierten Gemälde. Das möchte er deshalb auch unbedingt von dem Mäzen zurückkaufen, der es ihm seinerzeit, noch während der fünfjährigen Arbeit daran, unfertig auf der Staffelei abgekauft hatte. Er will es nun vernichten, so peinlich ist ihm seine eher plakative Kunst inzwischen! Während er an seiner unglücklichen Ehe leidet und sich als Handwerker in einem goldenen Käfig fühlt, hat der lebenslustige Frauenheld Rilke scheinbar eine Ménage-à-trois mit den Malerinnen Clara und Paula, die ihn beide umschwärmen, – später heiratet Clara den Poeten und Paula wird die Frau von Otto Modersohn.

Wo liegt denn nun der Lesegenuss bei diesem Künstlerroman? Ist es die Idylle von Worpswede mitten im Teufelsmoor, die Klaus Modick da ebenso betulich wie ornamental schildert? Oder die Malerei, über die er kundig zu schreiben versteht? Von jedem ein bisschen, würde ich sagen, aber mir war das ein bisschen zu wenig. Die im Klappentext reißerisch angekündigte Amour fou Rilkes ist ebenso wie die Liaison mit der gleichfalls erwähnten, skandalumwitterten Lou Andreas-Salomé nur ein Reklametrick, der Roman schweigt sich dazu nämlich schamvoll aus. Eingeschworene Rilkejünger seien zudem gewarnt, ihr Lyrik-Idol wird als narzisstisches Monster beschrieben, als Unsympath also. Auch wenn die sauertöpfische Kritik von Bernd Stenzig in seinem Büchlein «Rilke und Vogeler» einfach nur lächerlich ist, den Hype um diesen eher langweiligen Künstlerroman kann ich in keiner Weise nachvollziehen!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln