Der Sommer meiner Mutter

Eine Art Rosetta-Mission

Mit einem narrativen Paukenschlag beginnt «Der Sommer meiner Mutter», der neueste Roman von Ulrich Woelk. «Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben» lautet der angeblich oft ja schon die ganze Geschichte enthaltende erste Satz. Der promovierte Astrophysiker hat recht listig durch diese scheinbare Vorwegnahme des narrativen Kulminationspunktes schlagartig Spannung beim Leser aufgebaut.

Ich-Erzähler dieser Coming-of Age-Geschichte ist der elfjährige Tobias, der als Einzelkind mit seinen Eltern in einem Dorf bei Köln lebt. Als für Raumfahrt begeisterter Junge fiebert er der ersten Mondlandung entgegen, die im Fernsehen übertragen werden soll. Im Nebenhaus zieht ein Ehepaar mit ihrer dreizehnjährigen Tochter ein, man freundet sich schnell an mit den neuen Nachbarn, obwohl sie in vielerlei Hinsicht anders sind. Während der konservative Vater von Tobias ein realitätsbezogener, nüchterner Ingenieur ist, ist Rosas Vater als Philosophie-Dozent ein intellektueller Freidenker und überzeugter Kommunist. Auch die Frauen unterscheiden sich deutlich, die unbekümmerte, emanzipierte Nachbarin weckt bei der in ihrer Hausfrauenrolle gefangenen Mutter den allzu lang unterdrückten Wunsch nach Selbstverwirklichung. Zwischen den beiden Kindern entwickelt sich eine innige, auch sexuell konnotierte Beziehung, der naive, ahnungslose Tobias erlebt, ohne es richtig einordnen zu können, durch Rosa, die ihm geistig und entwicklungsmäßig deutlich voraus ist, seine Initiation. Auch die kreuzweise Sympathie der Paare ist unübersehbar, ein Bäumchen-wechsle-dich-Spiel findet aber nicht statt. Mehr sei hier fairerweise nicht verraten, nach dem Suizid der Mutter jedoch, an dem Tobias nicht ganz unschuldig ist, zerbricht auch die nachbarliche Idylle.

Raffiniert hat Ulrich Woelk diesen Plot einer sich anbahnenden Tragödie konzipiert und zu einem nachdenklich machenden Finale geführt. Eine wichtige Rolle spielt dabei die kindliche Erzählperspektive, die geschickt, mit dem epochalen Raumfahrt-Ereignis als Hintergrund, die zu ahnende Entwicklung mit den sich ändernden Konstellationen sehr naiv schildert. Nach einem Zeitsprung von vierzig Jahren erzählt schließlich der als Astrophysiker bei der ESA tätige Tobias von seiner Mitarbeit bei der Rosetta-Mission, der erstmaligen weichen Landung einer Raumsonde auf einem Kometen. Ferner berichtet er von einer Lesung auf der Frankfurter Buchmesse, wo seine Jugendliebe Rosa, an die er über dreißig Jahre lang nicht mehr gedacht hat, ihren neuen Roman vorstellt. Sie erkennt ihn nicht, als er am Signiertisch mit ihr spricht, und er gibt sich auch nicht zu erkennen, obwohl es viele Fragen gäbe, die er ihr hätte stellen können, «… aber musste irgendeine davon nach all den Jahren noch zwingend beantwortet werden?» Und so ließ er in sein Buch als Widmung «Für Rosetta» schreiben. Später hat er dann aber die Geschichte jenes Sommers doch noch aufgeschrieben, eine schöne ‹Roman im Roman›-Fiktion. «Ich habe das Manuskript in einen Umschlag gesteckt und an Rosa adressiert. Ich nehme an, dass ihr Verlag den Brief an sie weiterleitet. Morgen werde ich ihn abschicken». Mit diesen Worten endet der Roman, – und lässt alles offen.

Völlig unartifiziell und mit viel Zeitkolorit erzählt Ulrich Woelk in einer nüchternen, schnörkellosen Sprache seine Geschichte der technischen, politischen, gesellschaftlichen und persönlichen Um- und Aufbrüche. Er spiegelt die gescheiterte Emanzipation der Mutter an der erwachenden Sexualität des Sohnes, stellt dem rigiden Konservatismus in dessen Elternhaus die liberale, unkonventionelle Modernität im Nachbarhaus gegenüber. Über dem gesamten Plot schwebt als emotionale Grundlage ständig eine leise Melancholie, die sich dann in einer so vom Leser nicht voraussehbaren Eskalation entlädt, wobei insbesondere der geschickt aufgebaute Spannungsbogen und das ergreifende Finale diesen Roman auszeichnen.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by C.H. Beck München

Die Habenichtse

Kein Wohlfühlroman

Mit dem Roman «Die Habenichtse» von 2006 hat Katharina Hacker eine ungewöhnlich konträre Rezeption ausgelöst, den fast durchweg positiven Buch-Besprechungen des Feuilletons stehen überwiegend negative, fast wütende Bewertungen der Leserschaft gegenüber. Nicht zuletzt hat dieser Roman ja den Frankfurter Buchpreis gewonnen, und die Jury hatte damals dazu ausgeführt: «In einer flirrenden, atmosphärisch dichten Sprache führt Katharina Hacker ihre Helden durch Geschichtsräume und in Problemfelder der unmittelbarsten Gegenwart, ihre Fragen sind unsere Fragen: Wie willst du leben? Was sind deine Werte? Wie sollst und wie kannst du handeln? Die Qualität des Romans besteht darin, diese Fragen in Geschichten aufzulösen, die sich mit den plakativen Antworten von Politik und Medien nicht zufriedengeben». Wer hat denn nun recht, die Profis oder die Laien?

Die in 39 Kapiteln mit wechselnden Handlungssträngen erzählte Geschichte vom Haben und Sein bildet soziologisch drei Gesellschaftsschichten ab, das verwahrloste Prekariat, die kleinkriminelle Unterwelt und den gutsituierten Mittelstand. Handlungsorte sind London und Berlin, der Zeitrahmen wird durch die Zäsur von 9/11 und den Beginn des Irakkrieges geprägt. Recht plakativ steht gleich zu Beginn des Plots der Angriff auf das World Trade Center, der 33jährige Berliner Jurist Jakob hätte just an diesem Tag einen Termin mit einem Kunden dort gehabt. Den hat aber auf seinen Wunsch ein Kollege kurzfristig für ihn wahrgenommen, der dann bei dem Anschlag umgekommen ist. Jakob wollte unbedingt eine gleichzeitig in Berlin stattfindende Party besuchen, auf der er seine frühere Freundin und große Liebe Isabelle wieder zu treffen hoffte. Er findet tatsächlich erneut mit ihr zusammen, sie heiraten bald darauf, der verhängnisvollen politischen Zäsur zeitgleich ist dies also ein ebensolcher Einschnitt in sein bisheriges Privatleben. Der in New York umgekommene Kollege war für einen Wechsel in eine Londoner Kanzlei vorgesehen, die sich auf komplizierte Restitutionsbegehren spezialisiert hat, die in die DDR und bis in die Nazizeit zurückgreifen. Nun bekommt Jakob den Posten und zieht mit seiner Frau nach London, Isabelle kann als Mitinhaberin einer Grafikagentur problemlos auch per Heim-Office kreativ in ihrer Firma mitarbeiten. Die neuen Nachbarn sind eine Proletarier-Familie mit zwei Kindern, der Vater ein brutaler Säufer, es geht oft laut zu nebenan. In der Nachbarschaft gibt es aber auch den Dealer und Kleinkriminellen Jim, der von einem Ausbruch aus seinem Milieu träumt, wenn er seine verschwundene Freundin Mae wiedergefunden hat.

Über die verschiedenen Figurengruppen wird in diversen Rückblicken aus Sicht der Handelnden berichtet, wobei die Vielzahl der Figuren die Leser vor ziemliche Probleme stellt. Einerseits, weil sie ohne Einführung quasi hineingeschubst werden in die Handlung, andererseits aber auch, weil sie kaum Empathie zu erzeugen vermögen, man weiß fast nichts von ihnen. Nach etwa einem Drittel des Romans beginnen die Handlungsstränge allmählich aufeinander zuzulaufen, es kommt zu ersten Begegnungen und auch Konfrontationen, man begreift allmählich, worauf das hinaus soll.

Der Reiz dieses raffiniert konstruierten, zeitkritischen Romans liegt in der Konfrontation dieser verschiedenen Lebensformen in stimmigen Szenen, mit dem verblüffenden Ergebnis, dass auch das junge Paar zu den «Habenichtsen» gehört, – nicht materiell, sondern seelisch. Denn sie sind menschlich verarmt, ihr Leben ist völlig aus den Fugen geraten, sie haben sich allzu schnell auseinandergelebt und scheitern an ihrer Gedankenlosigkeit. Jakob ist von seinem charismatischen, homosexuellen Chef fasziniert, Isabelle fühlt sich zu dem verwahrlosten Junkie hingezogen, wird von ihm aber verachtet und gedemütigt. Minutiös und hoch verdichtet wird hier lakonisch über Desillusionierung berichtet, kein Wohlfühlroman also, eher ein ambitioniertes Sprachkunstwerk, wie man es selten zu lesen bekommt.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Flammenwand

Starker Tobak für arglose Leser

In Dantes göttlicher Komödie ist die «Flammenwand» der Übergang vom Fegefeuer ins Paradies, im gleichnamigen Roman von Marlene Streeruwitz wird man mit diesem Bild im Kopf als Leser auch gleich auf die richtige Spur gesetzt. Der Untertitel «Roman mit Anmerkungen» weist auf eine zweite Erzählebene hin, im Anhang berichtet die streitbare österreichische Autorin von politischen Geschehnissen in ihrer Heimat während der Entstehung ihres Romans, beginnend am 19. März 2018 und endend am 9. Oktober des gleichen Jahres. Parallel zu ihrer aus feministischer Sicht geschilderten Geschichte einer gescheiterten Beziehung gleicht die zweite Erzählebene einem süffisanten, 83teiligen journalistischen Report über die österreichische Politik dieser Zeit, – ein Mann namens Strache lässt grüßen!

Adele, die Protagonistin, ist eine geschiedene, kinderlose Frau Anfang fünfzig, sie lebt in Wien und arbeitete als erfolgreiche Sprachlehrerin für Migranten. Um mit Gustav, einem auf das Großkapital spezialisierten Berliner Steuerfahnder, zusammen zu sein, hat sie ein Karenzjahr eingelegt, sie wohnt mit ihrem Lover während seines längeren beruflichen Ausland-Aufenthalts in Stockholm. Ihre sexuelle Beziehung ist durch seine mutmaßliche Impotenz problematisch geworden, nach anfänglich für sie beglückenden Koitus-Erlebnissen befriedigt er die äußerst sinnliche Frau inzwischen nur noch manuell. Bis ihr der Anruf einer anderen Frau plötzlich die Augen öffnet, in einem machohaften Versteckspiel genießt Gustav nämlich ganz offensichtlich seine manipulative Macht über die masochistisch veranlagte Adele. Verstört verlässt sie die Wohnung und läuft ziellos durch Stockholm.

Dieses odysseeartige Herumirren bei minus 15 Grad ist ein einziges Sinnieren der Heldin über ihre Beziehung, ein permanentes Rekapitulieren der gemeinsam verbrachten Zeit und der von Gustav dominierten Gespräche miteinander. Immer wieder zwischen Verlustängsten und Befreiungswunsch schwankend kreisen ihre Gedanken auch um frühe Kindheitserlebnisse mit den unbeirrt faschistisch orientierten Eltern, wobei besonders die häufig brutale Bestrafung ihres Bruders durch den sadistischen Vater tiefe seelische Spuren in ihr hinterlassen hat. Sie leidet seither zutiefst unter jeder Form maskuliner Allmacht, deren reale Entsprechungen sich im journalistischen Anhang häufig widerspiegeln. Insoweit ist der Roman ein Versuch von Marlene Streeruwitz, patriarchalische Machtfantasien zu demaskieren, wobei offen antifeministische Einstellungen nach Erscheinen des Romans dann ja eindrucksvoll und kaum widerlegbar durch das Ibiza-Video bewiesen wurden. «Bist du deppert, die ist schoaf» äußert sich der spätere Innenminister da proletenhaft im schönsten Schmäh. Und das scheint durchaus auch exemplarisch zu sein für das fragwürdige Frauenbild der neuen Rechtspopulisten im Geburtsland des Führers!

Adeles ruhelose Gedankenspiele um Verdammnis und Läuterung bilden den gesamten Plot, ein ständig von Kontrollverlust bedrohter, endloser Selbstfindungstrip, dessen Ausgang der Roman offen lässt. Erzählt wird dieses Um-sich-selbst-Kreisen als Bewusstseinsstrom im typischen Streeruwitz-Sprech, ein unverwechselbarer, stakkatoartiger Sprachfluss in Kurzsätzen jenseits aller Dudenregeln. Der ist außerdem noch, – bewusst, wie die Autorin im Interview gesagt hat -, mit österreichischem Idiom authentisch angereichert und bildet somit wirklichkeitsnah die Gedankensprünge ihrer gequälten Heldin ab. Sprachlich konventionell hingegen wird in der politischen Chronik berichtet, deren Sinn es sei, an der Realität der gesellschaftlichen Situation zur Zeit der Handlung keinen Zweifel zu lassen, wie die Autorin erklärt hat. Und diesem Fußnotentrick verdanken wir zuweilen auch einige denkwürdige Momente beim Lesen, so wenn zum Beispiel der «Kanzlerbub» das Kopftuchverbot verkündet. Ansonsten aber ist dieser unendlich eintönige Roman einer hysterischen Masochistin starker Tobak für arglose Leser!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Keyserlings Geheimnis

Besser das Original lesen

Mit seinem Roman «Keyserlings Geheimnis» hat der in vielen literarischen Genres tätige Schriftsteller Klaus Modick die Reihe seiner Künstlerromane fortgesetzt, schon der Buchumschlag ist dem Vorgänger «Konzert ohne Dichter», der schnell zum Bestseller avancierte, auffallend ähnlich. Auch hier bilden wieder Dichtung und Malerei die Kulisse für eine Geschichte um den «baltischen Fontane», wie Eduard von Keyserling oft bezeichnet wird. Ähnlich den anderen Romanen aus gleicher Feder weist auch der jüngste, pünktlich zum hundertsten Todestag 2018 erschienene Band eine sonst eher bei amerikanischen Autoren anzutreffende, erzählerische Leichtigkeit auf. Zu deren Kennzeichen zählen eine einfache Diktion und ein unkomplizierter, leicht nachvollziehbarer Plot, aber auch Realitätsnähe und sorgfältig arrangierte Motiv-Vielfalt. Eigenschaften mithin, die eine angenehm unangestrengte Lektüre und gute Unterhaltung verheißen.

Der Schriftsteller Max Halbe und seine Frau laden im Sommer 1901 ein paar Freunde aus der Schwabinger Boheme in ihr Landhaus am Starnberger See ein. Dazu gehören der Maler Lovis Corinth und der Dichter Eduard von Keyserling, ein adeliger Dandy, der, schon von Natur aus hässlich, nun zusätzlich auch noch durch die Spuren der Syphilis entstellt ist. Gleichwohl lässt er sich von seinem Malerfreund überreden, ihm für ein Porträt Modell zu sitzen. In den Gesprächen während dieser Sitzungen in Bernried versucht der Maler, von Keyserling mehr über seine von wilden Gerüchten umrankte Studentenzeit an der estnischen Universität Dorpat zu erfahren, aber er bekommt nichts aus ihm heraus. Der Skandal vor mehr als zwanzig Jahren hat den Dichter in den heimatlichen Adelskreisen zur ‹persona› non grata› werden lassen. Von der Universität exmatrikuliert musste er Hals über Kopf nach Wien fliehen. Er hat dort ein neues Leben als Dichter begonnen, das ihn später dann nach München führte. Bei einem gemeinsamen Konzertbesuch mit Frank Wedekind, ebenfalls Mitglied der Schwabinger Clique, der zu Besuch an den See gekommen ist, begegnet er einer Sängerin, die damals in den Skandal verwickelt war.

In Rückblicken erzählt Klaus Modick von der Jugend seines Protagonisten auf dem estnischen Schloss Tels-Paddern, von dessen Studentenzeit und der durch den Skandal ausgelösten Zäsur, die ihn dann endgültig auf den immer schon angestrebten Weg zur Schriftstellerei geführt hat, seiner wahren Berufung. Dabei taucht der Autor tief ein in die Zeit des Fin de Siecle und das Leben des ostelbischen Junkertums, beschreibt die Streifzüge seines Helden durch Wiener und Schwabinger Kneipen und Bordelle und die hitzigen Diskussionen beim Künstlerstammtisch. Geschickt hat der Autor das wenige Verbürgte aus dem Leben seines Helden fiktional aufgepusht und damit einen Spannungsbogen geschaffen, der die Frage nach dem «Geheimnis» in seiner Erzählung sehr lange offen lässt. Letztendlich erweist sich das allerdings als Lappalie, die gleichwohl von einem Widersacher benutzt wird, um ein Duell zu provozieren.

Sprachlich unprätentiös findet der Autor immer wieder gelungene Metaphern, so wenn Lovis Corinth zum Beispiel dem neugierigen Keyserling einen Blick auf das gerade erst angefangene Gemälde verweigert: «Das ist noch kein Bild, sondern bestenfalls eine optische Absichtserklärung». Gelungen sind auch diverse intertextuelle Verweise wie dieser: «… dann erzählte Katharina Geschichten aus den alten Zeiten, in denen das Wünschen noch geholfen hatte und manche Fische sogar sprechen konnten, zum Beispiel der Butt». Verhoben aber hat sich der Autor mit seinem leichtfüßigen Capriccio, wo er literarisch den Vergleich mit Keyserling sucht, der als Erzähler von Rang inzwischen zum Kanon deutscher Literatur zählt. Klaus Modicks eher langweiliger Roman erreicht dessen Niveau weder sprachlich noch von der gedanklichen Tiefe her. Das Original mal selbst zu lesen, zum Beispiel Keyserlings Roman «Wellen», wäre die bessere Alternative!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Ur und andere Zeiten

Zauber als Narrativ

Mit ihrem dritten, im Original 1996 erschienenen Roman «Ur und andere Zeiten» hat die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk auch international den Durchbruch erreicht, er wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Die in ihrer Heimat aus national-katholischen, xenophoben Kreisen heftig befehdete Autorin wurde vor kurzem mit dem nachträglich für 2018 verliehenen Nobelpreis geehrt «für eine erzählerische Vorstellungskraft, die mit enzyklopädischer Leidenschaft Überschreitungen von Grenzen als Lebensform darstellt», wie die Jury erklärte. Insoweit kann der Preis auch als demonstrative politische Mahnung für ein weltoffenes, liberales Polen gedeutet werden. Als studierte Psychologin ist die Autorin erklärtermaßen eine Anhängerin von C. G. Jung, dessen Vorstellung von den «Archetypen» sie als universell gültig begreift und in ihre Erzählungen einbezieht. Dieses Bewusstsein für die Kontingenz von Identitäten ist prägend auch für diesen Roman.

Das fiktive Städtchen Ur im östlichen Polen steht unter dem Schutz der vier Erzengel. In einem breit angelegten Epos wird über einen Zeitraum von etwa achtzig Jahren, vom Beginn des Ersten Weltkriegs an bis in die Mitte der neunziger Jahre hinein, vom Leben einiger archetypischer Bewohner erzählt. Deren wechselvolles Schicksal in einer historisch derart ereignisreichen Periode mit ihren politischen Umbrüchen und den zwei Weltkriegen wird, vom Weltengetümmel auffallend abgehoben, ja geradezu entrückt, aus einer zutiefst humanen Perspektive beschrieben. Das üppige Figuren-Ensemble von durchweg urigen, exzentrischen Gestalten wird erzählerisch, über Generationen hinweg, patchworkartig in hunderten von kleinen Vignetten beschrieben. Momentaufnahmen quasi, deren Überschriften regelmäßig mit «Die Zeit von …» beginnen. Ein permanenter Hinweis also auf die Zeit als wissenschaftliches Phänomen, auf das an einigen Stellen des Romans dann auch in vertiefenden Reflexionen näher eingegangen wird.

«Ur ist ein Ort mitten im Weltall» lautet der erste Satz. Er deutet damit schon gleich auf die Symbolhaftigkeit dieser exemplarischen Erzählung hin, deren Thematik die ständige Wiederkehr ist, in der Natur ebenso wie im menschlichen Leben mit seinen Freuden und Leiden. Der rätselhafte Ort ist gleichzeitig auch ein Bekenntnis zur Randständigkeit. Diesem Verwurzeltsein mit der Heimat wird aber auch ein nicht nur geistiges Nomadentum entgegengesetzt. Ein berührendes Beispiel dafür ist die grandiose Schlussszene. Einer der Protagonisten, der Säufer Pawel, ist nach einem entbehrungsreichen Leben allein zurückgeblieben, Gevatter Tod hat in der Familie wie in der Nachbarschaft ganze Arbeit geleistet. Nach zwei Jahrzehnten ohne jedweden Kontakt bekommt er nun überraschend Besuch von seiner ins Ausland emigrierten Tochter. Sie haben sich aber rein gar nichts mehr zu sagen und gehen wie zwei Fremde verständnislos wieder auseinander. Zum Personal dieser gelungenen Parabel vom Ewigmenschlichen gehören auch märchenhafte Figuren wie der Böse Mann, der völlig der Kabbala verfallene Freiherr, die im Wald lebende, ehemalige Dorfhure, der Wassermann schließlich. Und natürlich Gott, der müde geworden ernsthaft überlegt, ob er noch länger Gott bleiben will.

Als ein «metaphysisches Märchen» hat Olga Tokarczuk ihr Buch von Geburt und Tod, Liebe und Hass, Glück und Leid bezeichnet, ihr Glaube sei «der Blick auf die zerfließenden Dinge», mit dem sie die Einheit von Ort und Zeit provokant negiert. Der mit christlicher Symbolik üppig angereicherte Roman voller Mythen und Wahngebilden ist trotz mancher Grausamkeiten in einer Sprache voller Zauber und Poesie erzählt, in der selbst drastische Begebenheiten im Krieg wie selbstverständlich eingebunden sind als unabänderliche Begleiterscheinungen menschlicher Existenz. Diese Reihung von Momentaufnahmen mit ihrem ständigen Wechsel zwischen Realität und Mythos ist eine mitreißend erzählte Geschichte voller Zauber, man kann sich ihr als Leser kaum entziehen.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Kampa Verlag Zürich

Bel Ami

Souverän erzeugter Lesesog

Zum Olymp der französischen Literatur gehört auch Guy de Maupassant, dessen Roman «Bel Ami», 1885 als Erstdruck in einer Zeitung erschienen, zu seinem erfolgreichstem Werk wurde, das bis heute in immer neuen Auflagen gelesen wird. Der dem Naturalismus zugerechnete Schriftsteller ist ja vor allem als Novellist berühmt geworden, hatte aber später als Romancier deutlich höhere Auflagen als mit den Novellenbänden. Der vorliegende, zu den Klassikern der Weltliteratur zählende Roman eines geglückten gesellschaftlichen Aufstiegs markiert auch eine Abkehr vom sonst vorherrschenden Pessimismus im Œuvre des Autors, er trägt zudem erkennbar autobiografische Züge.

In Paris trifft der ehemalige Unteroffizier Georges Duroy zufällig seinen Kameraden Forestier wieder, der im politischen Ressort einer Zeitung arbeitet. Der verhilft dem in ärmlichsten Verhältnissen lebenden jungen Mann zu einer Anstellung bei seinem Verlag und führt ihn in die Gesellschaft ein. Dank der Protektion seines Freundes macht der gut aussehende Duroy schnell Karriere, verfasst mit Hilfe von dessen Ehefrau Madeleine erste Artikel für sein Blatt und fängt schon bald ein Verhältnis mit ihrer verheirateten besten Freundin an, deren kleine Tochter ihn immer nur «Bel Ami» nennt. Durch einen Tipp seiner Geliebten, die ihn auch finanziell unterstützt, verdient er bei einer Börsenspekulation plötzlich viel Geld und kommt endlich aus seiner bedrückenden finanziellen Notlage heraus. Als Forestier plötzlich stirbt, heiratet er dessen junge Witwe, die inzwischen den größten politischen Salon von Paris führt und ihren neuen Ehemann nun nach Kräften unterstützt. Der steigt weiter die Karriereleiter hinauf und gewinnt schließlich sogar, nicht ohne Hintergedanken, die Frau seines Dienstherrn, Mutter zweier Töchter im heiratsfähigen Alter, zu seiner neuen Geliebten. Bei einem Dinner in deren neuerworbener, schlossartiger Villa keimt erneut quälender Neid in ihm auf, so möchte er auch gerne mal leben! Das Geld für das pompöse Domizil stammt zudem aus einem riesigen Spekulationsgewinn, den Tipp dazu bekam der Zeitungsboss durch eine streng geheime Information aus Kreisen der Regierung. Es reift schließlich ein perfider Plan in Duroy heran, in dem die älteste Tochter seiner neuen Geliebten die Hauptrolle spielt.

Der in der Belle Époque angesiedelte, satirisch gefärbte Roman über einen opportunistischen, charismatischen jungen Mann, dessen Attraktivität letztendlich jede Frau unwiderstehlich anzieht, schildert seine Entwicklung vom zielstrebigen, dankbaren Freund zum neidischen, geldgierigen und skrupellosen Emporkömmling. Maupassants Geschichte entlarvt auch die Doppelmoral einer Gesellschaft der Belle Époque, deren prüde Konventionen in den Beziehungen der Geschlechter penibel einzuhalten sind, die andererseits aber bedenkenlos im Geheimen missachtet werden. Genau so entlarvend wird auch die weitverbreitete, korrupte Ellenbogen-Mentalität in politischen Geschehen der Gründerzeit angeprangert. Neben der Charakterstudie des Parvenüs bekommt der Leser ebenso interessante Einblicke in das Zeitungswesen jener Zeit mit seinem kämpferischen Meinungs-Journalismus wie in das oberflächliche Pariser Gesellschaftsleben.

Deutlich kontemplativer ist hingegen meine Lieblings-Szene, ein mehrere Seiten umfassender Dialog eines desillusionierten, älteren Dichters, der dem jugendlichen Helden zu bedenken gibt: «Was erhoffen Sie sich von der Liebe? Noch ein paar Küsse, und Sie sind impotent … Und was weiter? Geld? Wozu? Um Weiber zu bezahlen? Ein hübsches Glück! Um viel zu essen, dick zu werden und nächtlich unter den Stichen der Gicht zu schreien? Und was weiter? Ruhm? Wozu, wenn man ihn nicht mehr in Gestalt der Liebe schlürfen kann? Und was weiter? Immer der Tod zum Schlusse!» Maupassants berühmte Geschichte vermag, ohne psychologische Tiefenbohrungen und moralisch zurückhaltend erzählt, äußerst souverän einen unwiderstehlichen Lesesog zu erzeugen. Chapeau!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Insel Frankfurt am Main

Als Gast

Langmut als Lesertugend

Nicht weniger als das Konservieren der Zeit war das ambitionierte Ziel von Peter Kurzeck, der Roman «Als Gast» erschien als zweiter Band eines «Das alte Jahrhundert» betitelten und auf zwölf Bände projektierten Zyklus, von dem insgesamt aber nur sieben Romane erschienen sind, der letzte posthum in diesem Jahr. Der proustsche Dimensionen erreichende Romanzyklus stellt einen absoluten Schwerpunkt dar im umfangreichen Œuvre des mit vielen Preisen ausgezeichneten Schriftstellers. In dem ehrgeizigen, autobiografisch angelegten Romanprojekt berichtet der Autor in einer ganz eigenständigen, stilistisch ungewöhnlichen Erzählweise vom eigenen Leben und den Ereignissen in seiner hessischen Umgebung.

Der vorliegende Band behandelt dem Titel entsprechend die Zeit des Ich-Erzählers als Gast bei wohlmeinenden Bekannten, die dem finanziell abgebrannten Schriftsteller, der, von seiner Freundin verlassen, unter erbärmlichsten Bedingungen lebt, vorübergehend eine neue Bleibe angeboten haben. Die örtlich in Frankfurt am Main und zeitlich 1984 angesiedelte Geschichte, in Rückblicken dann auch auf die Jugend in einem hessischen Dorf im Jahre 1948 ausgedehnt, ist eine breit angelegte, detailversessene Erinnerung an die gelebte Zeit. Wobei es sich ganz offensichtlich überwiegend um eigenes Erleben von Peter Kurzeck selbst handelt, ergänzt um fiktionale Erlebnisse seiner Romanfigur, dem an seinem dritten Buch schreibenden Schriftsteller. Sehr oft, wenn er von ihm in der dritten Person schreibt, folgt relativierend hinter dem Komma ein ergänzendes, den Leser irritierendes «also ich». Als Chronist seiner Zeit hat Peter Kurzeck einen beinahe mikroskopisch präzisen Blick auf die Nachkriegszeit, von der er, häufig örtlich und zeitlich abschweifend, minutiös berichtet. Seine geradezu fanatisch penible, detailgenaue Erzählweise ist eine direkte Folge seines Kampfes gegen das Vergessen, auch gegen das Verschwinden von Gewohntem, Liebgewonnenem. Diese ständige Selbst-Vergewisserung ist ein geradezu manisches Inventarisieren der Gegenwart. Bei allem chronistischem Eifer wird im Roman aber auch deutlich Gesellschaftskritik geübt, ein Anschreiben gegen immanent scheinende Verhaltensmuster zudem. Hinter den deprimierenden Beobachtungen und Erkenntnissen aber bleibt in dem assoziationsreichen Text immer auch die Hoffung erkennbar, manchmal keimt sogar Humor auf.

«Müsste nicht der Mann von Sybilles Mutter jetzt draußen vorbei? Er heißt Peter wie ich. Kommt jeden Samstag aus Oberrad in die Stadt. Einkaufen. Lottozettel. Auf der Zeil die Schaufenster. Die Sonderangebote alle Samstage und Preise vergleichen. Neue Schuhe. Jeden zweiten Samstag zum Friseur. Eine neue Jacke. Vollwaschbar. Kochfest. Trockner geeignet. Indanthren. Soll man als nächstes einen Trockner zur Jacke dazu? Aber besser bringt man sie doch in die Reinigung. Werbewoche. Dann ist es billiger. Chemische Reinigung. Kleiderpflege. Sicher ist sicher. Haarspray. Mundwasser. Niveacreme. Sonderpreis. Zwölf Paar Socken. Ein paar Jahre lang jeden Samstag ein Hemd». In diesem Duktus ist der gesamte Roman verfasst, von der ersten bis zur letzten Seite.

Der praktisch handlungslose Roman wird in einem ununterbrochenen Bewusstseinsstrom erzählt, der immer wieder in sinnfreie Assoziationen mündet. Als akribisches Protokoll seiner Zeitgenossenschaft verzichtet der Autor völlig auf Spannung zugunsten seiner zuweilen auch pathetisch geäußerten Beobachtungen. Im Stil heutiger Minimal-Kommunikation via Internet findet der Autor seinen ureigenen, unverwechselbaren Ton. Im Stakkato eilt der Text in Einzelwörtern, Satzfetzen und prädikatlosen Wortreihungen voran, dem Prinzip der permanenten Wiederholung folgend. Auch wenn ich Siegfried Unseld ausdrücklich widerspreche, der ablehnend von «Kneipenliteratur» sprach, ist diese Prosa kaum goutierbar für das Lesepublikum, wie die Rezeption überdeutlich zeigt. Es ist schlicht ein Übermaß an Langmut, das dem Leser hier abverlangt wird.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Kintsugi

Nicht bewältigtes, narratives Chaos

Unter den drei Debüt-Romanen auf der Shortlist des diesjährigen Frankfurter Buchpreises ist auch «Kintsugi» von Miku Sophie Kühmel, eine kammerspielartige Geschichte vom Zerbrechen langjähriger Beziehungen. Auf Brüche spielt schon der Buchtitel an, ‹kintsugi›, klärt das Nachwort auf, ist «das kunsthandwerk, zerbrochenes porzellan mit gold zu reparieren», wie dort in Kleinschrift? erläutert wird. Ein ästhetisches Zen-Prinzip, bei dem die Einfachheit und die Wertschätzung der Fehlerhaftigkeit im Mittelpunkt stehen, was, auf den Roman übertragen, auf die Brüche in langjährigen menschlichen Beziehungen verweist, eine ganz ähnlich schon von Goethe in seinen «Wahlverwandtschaften» thematisierte Problematik.

Das schwule Pärchen mit Max, einem charismatischen Archäologen, und Reik, einem nicht minder charismatischen und erfolgreichen Maler, beide im mittleren Alter, feiert das zwanzigjährige Bestehen seiner Beziehung in der Einsamkeit ihres kleinen Landhauses an einem See in der Uckermark. Als Gäste für das Wochenende haben sie nur den Klavierspieler Tonio eingeladen, ihren ältesten Freund, und dessen achtzehnjährige Tochter, für die sie seit ihrer Geburt liebevoll eine vaterähnliche Rolle übernommen haben. Pega, zweifache Ziehtochter also, hatte quasi drei Väter, aber keine Mutter. Sie ist das Ergebnis eines One Night Stands des damals noch völlig unerfahrenen Tonio mit einer älteren Frau, die er dann überredet hat, nicht abzutreiben und ihm das Kind zu überlassen, er wolle es allein aufziehen. Seither hat er sie nie wieder getroffen, und auch Pega kennt ihre Mutter nicht. Mit seinem Jugendfreund Reik hatte der bisexuelle Tonio früher ebenfalls eine Beziehung, bis der dann in Max seinen Partner fürs Leben gefunden hat.

Dem Figurenensemble entsprechend ist der Roman in vier Abschnitte aufgeteilt, mit jeweils einem anderen, sprachlich stimmig angelegten Ich-Erzähler, aus dessen Perspektive über das Geschehen während dieses Wochenendes und, in Rückblenden, über die gemeinsame Lebenszeit berichtet wird. Zwischen diese Kapitel eingeschoben sind jeweils kurze, drehbuchartige Szenen im Landhaus, welche die Gespräche des Quartetts beim gemeinsamen Essen zum Inhalt haben. Die Erzählung legt den Schwerpunkt auf das psychologische Geflecht des patchworkartigen Figurenensembles, welches mit seinen Makeln und Rissen in den Beziehungen Fragen und Zweifel heutiger Liebesbeziehungen und Lebenskonzepte aufwirft. Es geht dabei neben der dominanten, psychologischen Nabelschau um Sexualität, Eifersucht, Bindungsfähigkeit, Elternschaft und Karriere. Leitmotivisch für die Brüche in den Beziehungen der vier Protagonisten steht dabei das von Max in einem Wutanfall zertrümmerte, wertvolle Teeservice, über das es im letzten Satz, nach der kunstvollen Reparatur à la ‹kintsugi› heißt: «Und an den Stellen, wo die Risse waren, die Splitter, die Brüche, glänzt in verästelten Linien das Gold wie Adern aus Licht».

Die psychologische Dominanz in Miku Sophie Kühmels außerdem auch noch ziemlich redundanten Roman schmälert das Leseerlebnis erheblich, was insbesondere deshalb bedauerlich ist, weil sie ihre Figuren und deren seelische Deformationen durchaus stimmig zu beschreiben versteht. Die komplexe Konstellation der Beziehungen, – schwules Paar, kumpelhafte Vater/Tochter-Beziehung, Pegas Verführungsversuch an Max -, lassen diese spirituell aufgeladene Geschichte deutlich überkonstruiert erscheinen, weniger wäre hier mehr gewesen. Fraglich ist auch, ob man einer mutmaßlich überwiegend heterosexuellen Leserschaft die schwulen Geschlechtspraktiken derart drastisch vor Augen führen muss, wie es die junge Autorin hier tut, – aus welchen Gründen auch immer! Mit seiner ausufernden Komplexität landet dieser überambitionierte Roman, in dem alles auserzählt ist ohne jede Leerstelle, zudem adjektiv- und metaphernlastig mit einer blumigen Sprache und überladenen Symbolik, in einem nicht bewältigten, narrativen Chaos. Schade!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Mein Jahr in der Niemandsbucht

Nichts für «Lesefutterknechte»

Im riesigen Œuvre von Peter Handke stellt «Mein Jahr in der Niemandsbucht» mit dem Untertitel «Ein Märchen aus den neuen Zeiten» das Opus magnum dar. Das 1994 erschienene Buch ist autobiografisch geprägt, es beschäftigt sich mit dem mühsamen Selbstfindungsprozess eines Schriftstellers. Handke ist mit dem diesjährigen Nobelpreis geehrt worden «für ein einflussreiches Werk, das mit sprachlichem Einfallsreichtum Randbereiche und die Spezifität menschlicher Erfahrungen ausgelotet hat». Als Enfant terrible der österreichischen Literatur ist er wegen seiner politischen – um ein auf Tolstoi gemünztes Wort von Thomas Mann zu benutzen – «Riesentölpelei», die Balkankriege betreffend, erneut heftig umstritten. Was die Spannung vor der Bekanntgabe der diesmal ja zwei Preisträger anbelangt, hat Dennis Scheck erklärt, er nehme an, «dass sich Reinhard Mey in der Nähe seines Telefons aufgehalten habe», damit süffisant auf die umstrittene Preisvergabe an Bob Dylan anspielend. Rein literarisch ist Peter Handke allerdings unumstritten, er ist geradezu eine Lichtgestalt der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur, von niemandem übertroffen. Der vorliegende, als Märchen deklarierte Band aus der Mitte seiner Schaffenszeit ist ein eindrucksvoller Beleg dafür.

Gregor Keuschnig, der fiktive Ich-Erzähler, ist auf der Suche nach seinem Platz in der Welt. «Einmal in meinem Leben habe ich bis jetzt die Verwandlung erfahren», lautet der erste Satz, der verzweifelnde Held befindet sich in einer Lebens- und Schaffenskrise. In der nahen Zukunft 1997 angesiedelt, handelt es sich dabei in erster Hinsicht um ein zu schreibendes Buch, das der nahe Paris in einem Vorort allein wohnende, von seiner Frau verlassene Chronist zu schreiben gedenkt, er hat sich ein Jahr Zeit für diese Klausur über sein verfehltes Leben genommen. Als seine «Niemandsbucht» bezeichnet er das in einem Wald jenseits der Seine-Höhenzüge gelegene Tal, in dem der Österreicher sich vor Jahren ein Haus gekauft hat. In einem breit angelegten Erinnerungsprozess beschreibt der meist im Freien, an verschiedenen Plätzen im Wald sitzende Schriftsteller minutiös seine Suche nach dem Wesen der Dinge und Begebenheiten, dabei einer Ästhetik folgend, die den Prozess der Wahrnehmung als solchen im Fokus hat. Die erhabensten Momente sind für ihn die Augenblicke, in denen er sich mit dem, was er unermüdlich erschaut hat, in stillem Einklang befindet.

Im mittleren Teil dieses Buches vom Scheitern werden märchenartig die Geschichten seiner sieben auf der ganzen Welt herumstreunenden Freunde dargestellt, zu denen er auch seinen Sohn zählt. Auf die Kritik seiner Frau an seinem sehr speziellen, anspruchsvollen Schreibstil reagierte er gereizt: «Und wenn ich dann weiterwetterte gegen die Bücher, die keinen Erzähler mehr hätten, sondern einen Conférencier, gegen alle die Lesefutterknechte mit einem so aufbereiteten Stoff, dass daran mehr zu lesen bliebe, meinte sie, neidisch sei ich auch». Die Problematik dieser in sich selbst kreisenden, narrativen Form wird überreich kompensiert durch eine fast unglaubliche sprachliche Präzision, eine üppige, oft verblüffende Wortgewalt. Diese im Kern spröde Beschreibungskunst widmet sich gleichermaßen detailliert und gekonnt der Natur und den Dingen wie auch den Menschen und der Gesellschaft in ihrem Wesen, – Politik, Ökonomie oder Psyche werden dabei rigoros ausgeblendet. Letzteres aber gilt nicht für ihn selbst, als Solipsist beschäftigt er sich unablässig mit sich selbst, mit jeder noch so kleinsten Regung seines depressiv veranlagten Gemüts.

Diese Utopie des Erzählens ohne Handlung ist für den Leser ein strenges Exerzitium, in dem der langatmige Umweg das Ziel ist. Also nichts für «Lesefutterknechte», bei denen allein der Plot zählt und nicht eine Sprachkunst, welche die stimmigen Bilder im Kopf sinnlich durch Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken zu ergänzen vermag, – fürwahr eine selten anzutreffende narrative Fähigkeit!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Lavinia

Überstrapazierte Emotionslosigkeit

Den Romantitel «Lavinia» hat Dagmar Leupold, wie sie im Interview erklärte, dem Eneas-Roman des mittelalterlichen Schriftstellers Heinrich von Veldeke entlehnt. In dessen Geschichte wird die Figur der Lavinia, deren Minne in Form eines Monologs erzählt ist, einerseits als bezaubernd und rein, andererseits aber als selbstsicher und trotzig dargestellt. «Mein Roman ist sozusagen Echo auf diesen Minnemonolog», hat die Autorin erklärt.

«Wer ergründen will, muss herab» lautet beziehungsreich der erste Satz. Als Sturz durch die Zeit angelegt, enthält der Roman den «Fall» nicht nur im Wortstamm sämtlicher, rückwärts gezählter Kapitelüberschriften, beginnend mit «Überfallen» im 25. Stockwerk eines New Yorker Hochhauses und countdownartig endend bei «1. Wutanfall», sondern auch im Titelbild mit seinen senkrecht herab fallenden Buchstaben. Die solcherart Sprachspiele liebende Autorin benennt denn auch die Lebensstationen ihrer Heldin nicht mit Ortsnamen, sondern mit den Flüssen, an denen sie liegen. «Von der Lahn zum Neckar, vom Neckar zum Arno, vom Arno zum Hudson» heißt es da bei einem Resümee der Ich-Erzählerin. Das beherrschende Thema dieses Romans sind die Abgründe und Verluste im Leben von Lavinia, denen es sich zu widersetzen gilt, dargestellt als lawinenartiger – wenn mir dieses Wortspiel erlaubt ist – Rutsch durch die Zeit mit all den Spuren, die davon historisch zurückbleiben.

Gleich zu Beginn wird die Protagonistin zunächst aber erst mal von Besuchern um ihre preiswerte Sozialwohnung beneidet, mit traumhaftem «Blick über den Hudson im Westen und die Miss Liberty im Süden», sie sei ein Glückspilz, sagen alle. Dort im 25. Stock beginnt dann auch ihr Rückblick auf ein Leben, dessen berufliche Aspekte der Literatur-Wissenschaftlerin kaum Probleme bereitet haben, umso mehr aber die privaten. Dieser weit ausholende Prozess des Erinnerns schließt politische Ereignisse mit ein, die sich umso tiefer ins kollektive Gedächtnis einprägen, je stärker ihre Tragweite das Persönliche tangiert. Tiefwurzelnde Zeitgeschichte und allmählich formierte Lebensgeschichte verschmelzen hier quasi in einer Art körperlichem Prozess miteinander und bilden die Basis für den aufkeimenden und stetig anwachsenden Widerstandsgeist der Protagonistin. Als ein der Weiblichkeit gewidmeter Roman beschäftigt sich «Lavinia» mit den gefühlsmäßigen Zumutungen der ersten Liebe ebenso wie mit den folgenden, emotional bedeutungslos bleibenden, flüchtigen Liebschaften, aber natürlich auch mit der einen, der einzigen, großen Liebe. Die Pubertät der Heldin spielt sich in einem zeitbedingt prüden Umfeld ab, inmitten einer tendenziell frauenfeindlichen Gesellschaft, in der sie scheinbar unabwendbar Übergriffen der Männer ausgesetzt ist. Das setzt sich fort bis zum Schlusskapitel mit der Überschrift «Wutanfall», in dem es heißt: «Ihr Betatscher, ihr Zurauner, ihr Übergreifer. Ich suche euch heim». Die da bereits ältere Frau listet buchhalterartig in einem «Logbuch der Gewalt» all ihre Peiniger auf: den Pokneifer im Bus, den bösen ‹Onkel›, den übergriffigen Arzt, den ebenso übergriffigen Physiotherapeuten, die anzüglichen Kollegen, Chefs, Journalisten, den Busengrabscher und den geisteskranken Beinahe-Vergewaltiger in Syrakus. Als Belästigte ist sie in manche Fallen (sic!) immer wieder blindlings hinein getappt.

Erzählt wird dieser auch als Beitrag zur «Me Too»-Debatte anzusehende Roman äußerst distanziert in knappen Sätzen, in denen nicht alles ausbuchstabiert wird. Mit einem Übermaß an Andeutungen und einem permanenten Rückgriff auf das Assoziationsvermögen des Lesers, das auf gar manche schiefen Bilder trifft, wird die Lektüre ebenso erschwert wie durch die häufig eingeschobenen Minnesang-Verse aus dem 12ten Jahrhundert. Als Figur bleibt Lavinia zudem seelisch indifferent, sie verschwindet geradezu unter ihrem intellektuellen Habitus. An dieser überstrapazierten Emotionslosigkeit aber scheitert letztendlich der ganze Roman.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Jung und Jung

Gespräche mit Freunden

Geschichte ohne Fazit

Mit ihrem Debütroman «Gespräche mit Freunden» ist die Schriftstellerin Sally Rooney auf Anhieb zum Shootingstar der irischen Literatur avanciert. Sie könne nicht nachvollziehen, warum dieser ganze Hype um sie gemacht wird, hat sie erklärt. Die kürzlich erschienene deutsche Erstausgabe wurde hingegen von Feuilleton und Leserschaft deutlich weniger euphorisch aufgenommen als im englischen Sprachraum. Wie der Titel schon andeutet, handelt es sich um eine weitgehend dialogisch angelegte Erzählung, es wird also viel geredet in diesem Erstling der 28jährigen Autorin, die eine typische Vertreterin der im neuen Jahrtausend sozialisierten Millenium-Generation ist.

Der Roman wird chronologisch aus der Perspektive der 21jährigen Frances erzählt, einer Dubliner Literaturstudentin, die mit ihrer Freundin Bobbi als Schülerin mal eine lesbische Beziehung hatte. Die beiden nach wie vor geradezu symbiotisch verbundenen Studentinnen treten gemeinsam bei Spoken-Word-Events auf, wobei Frances alle Texte schreibt, während Bobbi die bessere Interpretin ist. Bei einer solchen Veranstaltung lernen sie die 37jährige Journalistin Melissa kennen, welche die Beiden anschließend spontan zu einem Drink zu sich nach Hause einlädt. Dort lernen sie ihren Mann Nick kennen, einen fünf Jahre jüngeren, charismatischen Schauspieler, der mit seiner auffallenden Präsenz auf Frances unwiderstehlich wirkt, – während Bobbi sofort mit Melissa zu flirten beginnt. Die sich andeutende Menage à Quatre ist denn auch das narrative Gerüst des Romans, der zeitweilig unter Depressionen leidende Nick und die noch jungfräuliche Frances landen im Bett und haben tollen Sex. Ob mit Melissa und Bobbi Ähnliches passiert bleibt offen. Der zweite Teil des Romans beginnt mit einer Zäsur, als Bobbi schließlich von der heimlichen Affäre mit Nick erfährt, es kommt irgendwann sogar zum offenen Bruch zwischen den beiden besten Freundinnen, die sich immer mehr entfremdet haben.

Die Adoleszenz der von Selbstzweifeln geplagten, introvertierten Ich-Erzählerin Frances steht im Mittelpunkt dieses modernen Entwicklungsromans, sie ist sich ihrer Gefühle nicht sicher. Ihre Beziehung zu Nick ist für sie ein intellektuelles Machtspiel. Er führt eine offene Ehe, hat Melissa irgendwann über seine Liaison informiert, kann von Frances aber ebenso wenig lassen wie sie von ihm. Emotional kommt sie nicht klar mit einer Situation, die nirgends hinführt, für die sich nicht mal andeutungsweise eine Lösung abzeichnet. Als Intellektuelle führen die vier Protagonisten endlose Gespräche über Literatur, Politik, Klassenunterschiede, Beziehungen, Freundschaften, Gleichberechtigung, – und über Liebe und Sex natürlich. Die sich selbst als Marxistin stilisierende Sally Rooney ist eine begnadete Rhetorikerin, die als 22Jährige den Debattier-Wettbewerb der europäischen Universitäten gewonnen hat. Entsprechend strotzt ihr für eine erklärtermaßen intellektuelle Leserschaft geschriebener, zeitgenössischer Roman geradezu von kämpferisch geführten, scharfsinnigen Diskursen.

Es sind diese endlosen Diskurse, die narrativ im Vordergrund stehen, die Figuren selbst bleiben charakterlich vage, sie irritieren oft durch ihr Verhalten in diesem komplizierten Beziehungsgeflecht. Die Autorin beschreibt detailliert dieses Verhalten, überlässt es aber dem Leser, sich in das psychische Profil der Figuren hineinzudenken, was bei Frances mit ihrem fatalen Hang zu quälendem Reflektieren schwierig ist. Die als literarische Stimme des Millennials apostrophierte Sally Rooney hat einen leicht lesbaren Roman voller Klischees vom Typ Pageturner vorgelegt, bei dem man den Eindruck hat, dass sie beim Schreiben nicht genau wusste, wohin sie den Leser denn nun eigentlich führen will. Ihre Protagonistin Frances bezeichnet an einer Stelle einen ihrer Tage als zu peinlich, um erzählt zu werden, als eine «Geschichte ohne Fazit», – der ganze Roman ist genau das, er ringt seiner uralten Thematik keine neuen Aspekte ab!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Brüder

Ein Symptom der Zeit

Mit ihrem zweiten Roman «Brüder» hat Jackie Thomae ein Epos geschrieben, das keines sein will, obwohl viele der Merkmale dafür vorhanden sind. Es ist die breit angelegte Geschichte zweier gleichaltriger, unehelich in der DDR geborener Halbbrüder mit einem gemeinsamen afrikanischen Vater, den sie nie gesehen haben. Sie wachsen getrennt auf, wissen nichts voneinander und könnten ungleicher gar nicht sein. Es ist auch die Geschichte zweier Epochen, der Zeit vor und nach der Wende in Deutschland, vor allem aber, wie die Autorin im Interview erklärt hat, eine Hommage an West-Berlin, an Leute, die keine Rassisten sind, und an Alleinerziehende. Die autobiografischen Bezüge sind also unverkennbar. «Wer das Buch liest, wird feststellen, dass meine ‹Brüder› viele Begegnungen haben, bei denen sie eben nicht diskriminiert werden. Das war mir wichtig» hat sie leicht genervt über die immergleichen Interview-Fragen hinzugefügt, und so lautet ihre Widmung denn auch «Für euch, schwarze Schafe», – und damit ist hier wirklich nicht die Hautfarbe gemeint!

Ein solches schwarzes Schaf nämlich ist in diesem zweiteilig aufgebauten Roman Mick, ein sympathischer Taugenichts, gutaussehender Womanizer und arbeitsscheuer Hedonist, für den Partyfeiern der Lebensinhalt ist, der mangels Berufsausbildung allerlei fragwürdige Geschäfte betreibt und schließlich mit zwei Freunden einen Club aufmacht. Auch als er Delia kennenlernt, eine angehende Juristin, die ihn selbstlos mit durchfüttert, ändert das nichts an seinem unsteten Leben mit seinen schrägen Kumpels. Eine leichtfertig eingefädelte Drogengeschichte nimmt beinahe ein schlimmes Ende, und Delia verlässt ihn schließlich, als sie herausbekommt, dass er sich heimlich hat sterilisieren lassen, obwohl sie sich doch so sehnlich ein Kind von ihm wünscht. Er landet ziemlich abgebrannt auf einer thailändischen Insel, beschließt dort eine radikale Wende in seinem Leben und begegnet uns am Ende als Yogalehrer wieder. Ganz anders im zweiten Romanteil Gabriel, sein von wohlhabenden Adoptiveltern großgezogener Halbbruder, ein humorloser Kontrollfreak, dessen Leben immer nach Plan verläuft. Er geht nach London, wird ein weltweit erfolgreicher Stararchitekt und führt mit Frau und lustlosem, schwierigem Sohn ein luxuriöses, straff durchorganisiertes Leben. Bis ein zu Unrecht rassistisch gedeuteter, Burnout bedingter Ausraster den Workaholic aus seinem rastlosen Leben herausreißt und er unfreiwillig eine längere Auszeit in Brasilien nehmen muss.

Beide umfänglich etwa gleichen Romanteile sind chronologisch erzählt. Der erste Teil von Mick umfasst die Jahre von 1985 bis 2000, gefolgt von einem «Intermezzo» genannten Zwischenteil über den Vater der beiden Protagonisten. Im zweiten Teil dann wechselt die Perspektive, in kurzen, getrennt erzählten Kapiteln von der Jahrtausendwende an, jeweils zwischen Gabriel und seiner Frau Fleur als Ich-Erzähler. Es folgt ein im Jahr 2017 angesiedelter Epilog, der, ohne in ein kitschiges Happy-End abzugleiten, eine Art friedlichen Showdown beschreibt.

Die Charaktere der beiden Frauen sind ebenso verschieden wie die der Männer, die auf der Suche nach ihrer Identität, nach ihrem Platz im Leben sind. Jackie Thomae enthält sich dabei aller moralischen Wertungen, vergleicht nicht die sich diametral gegenüberstehenden Wege der Halbbrüder. Sie zeigt uns, geradezu beiläufig erzählt und durchaus ironisch, ein auf bürgerlichem Niveau angesiedeltes soziales Gefüge, das spätestens nach der Wende unaufhaltsam in einen Konsumfetischismus einzumünden scheint. Ein glaubhaft beschriebenes Figurenensemble begegnet dem Leser in diesem vielschichtig angelegten Roman, der in einer lockeren, flockigen Sprache das Zeitkolorit stimmig einfängt und dabei gut unterhält. Mehr aber auch nicht, gedankliche Tiefe sucht man vergebens, Anlässe zu eigenem Weiterdenken finden sich ebenfalls keine, alles bleibt sehr oberflächlich und wirkt dadurch auch nicht nach. Ein Symptom der Zeit?

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hansa Berlin

Dubliner

Debüt eines literarischen Olympiers

Zu den drei bedeutendsten Werken des irischen Jahrhundert-Schriftstellers James Joyce, der als ein Wegbereiter der literarischen Moderne gilt, zählt «Dubliner». Die im Gegensatz zu den späteren Prosawerken noch konventionell erzählte Sammlung von fünfzehn Erzählungen fand erst 1914, nach Dutzenden von Ablehnungen und sieben Jahre nach ihrer Fertigstellung, schließlich doch einen Verleger. «Meine Absicht war es, ein Kapitel der Sittengeschichte meines Landes zu schreiben, und ich habe Dublin als Schauplatz gewählt, weil mir diese Stadt das Zentrum der Paralyse zu sein schien», hat er über seine Motive geschrieben. Die autobiografisch geprägte Hassliebe zu seiner Geburtsstadt, deren Mutlosigkeit er darin beklagt und deren Beengtheit er anprangert, spiegelt sich auch in dem später geschriebenen «Ulysses» wider, einige von dessen Romanfiguren tauchen hier schon auf.

Diese Schilderungen des Lebens in Irlands Hauptstadt seien in die Themenkomplexe «Kindheit, Jugend, Reife und öffentliches Leben» gegliedert, hat der Autor erklärt, soziologisch sind sie im Milieu des unteren und mittleren Bürgertums angesiedelt. Kaum eines der Probleme und Sorgen des Großstadt-Menschen fehlt in diesem psychologischen Panoptikum: Allzu strenge Erziehung, freche Lausbubenstreiche, unerfüllte Liebe, maßlose Prahlerei, verlorene Jungfräulichkeit, unstillbares Fernweh, ausbleibender Berufserfolg, späte Eheprobleme, zerstörerische Alkoholsucht, brutale Kindsmisshandlung, selbstlose Aufopferung, beengende Konventionen, politische Intrigen, überfürsorgliche Mütter, verlogener Klerus, die unehrliche Konversation auf dem Ball dreier Jungfern schließlich, und am Ende der Tod als Resümee des Lebens in der letzten und mit Abstand längsten Erzählung. Sie ist eine Art Epilog, der Motive der vorangehenden Geschichten erneut aufnimmt. Der Tod ist es auch, der kontrapunktisch als Klammer dient in der ersten und letzten Geschichte, beim Sterben eines alten Mannes und eines Jünglings.

Als «Karikaturen» hat James Joyce die «Dubliner» bezeichnet, sein Prosadebüt sei «von einer mit Bosheit gelenkten Feder geschrieben». Auffallend ist, dass die dominante letzte dieser Erzählungen ebenso wie im «Ulysses» und in «Finnegans Wake» mit einem Ausklang endet, bei dem ein Ehepartner über den neben ihm schlafenden anderen nachdenkt, was im vorliegenden Erzählband als durchaus versöhnlich interpretierbar ist. Man könnte die chronologische Anordnung der Geschichten inhaltlich auch als theologisch determiniert deuten: Als Verfall der Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe, als Exempel der sieben Todsünden Hochmut, Geiz, Wollust, Neid, Zorn, Völlerei und Trägheit, oder als Verstöße gegen Kardinaltugenden wie Tapferkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Weisheit.

Heute mag man sich wundern über die Skepsis des Autors seiner Heimatstadt und ihren Bewohnern gegenüber, die brutale Unterdrückung durch die Engländer und der erbitterte Kampf um die irische Unabhängigkeit als historischer Hintergrund machen diese Haltung jedoch verständlich. Die äußerlich handlungsarmen Geschichten mit ihren eher banalen Plots werden mit feiner Ironie aus einer skeptischen Distanz und aus wechselnden Perspektiven erzählt, oft in Form der erlebten Rede. Alle Erzählungen enden abrupt, vieles wird dabei offen gelassen, manches bleibt auch völlig unverständlich, – was dann natürlich reichlich Freiraum für die verschiedensten Interpretationen lässt. Narrativ prägend ist die detaillierte Zeichnung der vielen Figuren, deren physische Eigenschaften ebenso schonungslos – geradezu sezierend – beschrieben werden wie die jeweiligen psychischen Befindlichkeiten. Wobei sich James Joyce jedweder Moralisierung enthält, er ist der Chronist, mehr nicht. Neben der Paralyse als zentralem Thema erlebt jeder Protagonist seine ureigene Epiphanie in diesen Geschichten, – die dann seine Jämmerlichkeit offenbart. «Dubliner» ist ein idealer Einstieg in das Werk eines literarischen Olympiers!

Fazit: erstklassig

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Genre: Erzählungen
Illustrated by dtv München

Das flüssige Land

Schwarze Löcher als Metapher

Mit ihrem Roman-Debüt «Das flüssige Land» hatte Raphaela Edelbauer schon 2018 den Publikumspreis in Klagenfurt erhalten, nun kam sie damit sehr zu recht auf die Shortlist des diesjährigen Frankfurter Buchpreises. Als Jurymitglied hätte ich eher für sie als Preisträgerin gestimmt, aber das Migrations-Thema ist derzeit wohl gar zu übermächtig und verspricht wohl weit höhere Auflagen als ein surrealer Roman, auch wenn der literarisch besser gelungen erscheint und zudem deutlich unterhaltsamer ist.

Die 35jährige Wiener Physikerin Ruth steht kurz vor ihrer Habilitation, als sie die Nachricht erhält, ihre Eltern seien beide bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen. Deren schriftlich hinterlassener Wunsch, im Ort ihrer Kindheit beerdigt zu werden, bereitet der Ich-Erzählerin nun aber große Probleme, denn Groß-Einland ist nirgendwo in Österreich verzeichnet, obwohl doch ihre Eltern ihr viel erzählt hatten von ihrem früheren Leben dort. Irritiert macht sie sich mit dem Auto auf den Weg in die Gegend, wo nach den Erzählungen der Ort eigentlich liegen müsste. Und tatsächlich sieht sie nach tagelanger vergeblicher Suche, bei der ihr niemand irgendeinen Hinweis geben konnte, weil keiner je von diesem Ort gehört hat, im Vorbeifahren an einer Nebenstrasse plötzlich ein verwittertes Schild «Groß-Einland». Auf einem Feldweg, der irgendwann nur noch über Stock und Stein mitten durch den Wald führt, gelangt sie mit ihrem dadurch total ramponierten, werkstattreifen Auto tatsächlich in den Ort, den niemand kennt. Es stellt sich bald heraus, dass Groß-Einland auf einem riesigen Hohlraum steht, den ein ehemaliges Bergwerk hinterlassen hat. Dieses gewaltige Loch im Untergrund bewirkt ständige Erdabsenkungen, die gefährliche Schäden an den Häusern anrichten, manche sind schon unbewohnbar. Merkwürdig ist allerdings, dass die Bewohner kaum Notiz davon nehmen, die ständig auftretenden und immer breiter werdenden Risse werden einfach zugespachtelt, niemand verliert ein Wort darüber.

In diesem Szenarium stößt Ruth bei den Vorbereitungen für die Beerdigung der Eltern auf Einwohner, die sie zwar freundlich aufnehmen, die aber allesamt seltsam verschlossen sind und ihren Fragen ausweichen. Je tiefer sie in die eigene Familiengeschichte einzudringen versucht, desto verwirrender wird sie. Ruth beschließt, neugierig geworden, länger als geplant zu bleiben und die geheimnisvollen Hintergründe aufzudecken. In einer an Kafka erinnernden, surrealen Geschichte eines merkwürdigen Ortes gerät die Protagonistin immer tiefer hinein in die rätselhaften Strukturen der Einwohnerschaft, die von einer geheimnisvollen, alles beherrschenden Gräfin regiert wird. Ruth nimmt schließlich sogar deren Auftrag an, eine Lösung für das «Loch» zu finden, obwohl sie als theoretische Physikerin dazu überhaupt nicht qualifiziert ist. Die Habilitation rückt völlig in den Hintergrund, so sehr nimmt sie ihre Recherche in Anspruch, sie vermutet nämlich einen Massenmord der Nazis hinter dem hartnäckigen Schweigen der Bewohner, den sie partout aufdecken will. Und aus den paar Tagen, die sie ursprünglich zu bleiben gedachte, werden schließlich drei Jahre, in denen sie dieser merkwürdigen, kollektiven Verdrängung nachspürt!

Listig führt die kreative Autorin im Stil der unzuverlässigen Erzählerin den zunächst arglosen Leser, sprachlich souverän, ständig auf falsche Spuren. Sie brennt dabei ein wahres Feuerwerk ab an skurrilen Einfällen, die sie zuweilen mit komplizierten physikalischen Anmerkungen garniert, was dem surrealen Plot einen realistischen Anstrich gibt. Die Figuren erscheinen allesamt sympathisch, Landschaft und Ort sind bilderbuchartig als idyllisch beschrieben, womit das Thema Heimat als eine weitere falsche Fährte gelegt ist. So steht in dieser parabelhaften Traumwelt den Schwarzen Löchern der Astrophysik das mysteriöse «Loch» in Groß-Einland gegenüber als Metapher für ein auf schwankendem Boden errichtetes soziales Gefüge.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Tagebuch eines Lesers

Geschmälerte Lesefrüchte

Wie kein zweiter hat der argentinische Schriftsteller Alberto Manguel sich mit dem Wesen des Buches auseinandergesetzt, «Das Tagebuch eines Lesers» gehört in eine Reihe mit ähnlichen Werken wie «Eine Geschichte des Lesens» oder «Eine Stadt aus Worten». Im vorliegenden Tagebuch nun verdeutlicht der Autor die Wirkung des Lesens am Beispiel seiner Eindrücke und Reflexionen beim Wiederlesen von zwölf seiner Lieblingsbücher. Jeden Monat, vom Juni 2002 bis Mai 2003, liest er eines dieser Bücher und hält tagebuchartig seine Gedanken dabei fest, es entsteht also gleichzeitig eine ergänzende Sammlung von «Notizen, Reflexionen, Reiseeindrücken, Charakterskizzen, öffentlichen und privaten Ereignissen». Jeder ernsthaft mit Literatur befasste Leser dürfte gespannt darauf sein, welche Wirkungen das Lesen bei diesem polyglotten Schriftsteller hervorzurufen vermag, und welche Bücher er denn aus seiner riesigen, mehr als 30.000 Bände beherbergenden Bibliothek für sein Vorhaben ausgewählt hat.

«Manche Bücher durchqueren wir im Fluge. Schon beim Umblättern vergessen wir, was auf der vorigen Seite stand.» schreibt Manguel im Vorwort. Andere lese man mit Ehrfurcht, manche dienten lediglich zur Information, einige wenige aber seien einem ans Herz gewachsen. Und er beginnt mit «Morells Erfindung» von Adolfo Bioy Casares, es folgt «Die Insel des Dr. Moreau» von H.G. Wells, «Kim» von Rudyard Kipling, «Erinnerungen von jenseits des Grabes» von Chateaubriand und «Das Zeichen der Vier» von Doyle. Extra für die deutsche Ausgabe geschrieben ist das Kapitel «Peter Schlemihls wundersame Geschichte» von Chamisso, womit deutlich wird, dass dieses Tagebuch nicht wirklich chronologisch angelegt sein dürfte, sondern wohl eher als fiktional anzusehen ist. Weiter geht es mit «Der Wind in den Weiden» von Kenneth Grahame, «Don Quijote» von Cervantes, «Die Tartarenwüste» von Dino Buzzati, «Das Kopfkissenbuch» von Sei Shonagon, «Der lange Traum» von Margaret Atwood, und zum Schluss «Die nachträglichen Memoiren des Brás Cubas» von Machado de Assis.

Neben den Anmerkungen zu diesen Lieblingsbüchern findet man eine Fülle von Querverweisen und Anekdoten zum jeweiligen Autor und seinem Werk, Vergleiche mit ähnlichen Büchern und anderen Schriftstellern, Berichte von Begegnungen mit Kollegen, aber auch jede Menge Zitate aus und Hinweise auf andere literarische Werke von Rang. Der nichtliterarische Teil des Tagebuches bezieht sich auf politische Ereignisse, Alltagsgeschehen, Reiseerlebnisse, Träume, eigene Erkenntnisse und philosophische Fragen. Bei Chateaubriand beispielsweise, der Lektüre des Monats September, fügt er anlässlich der Ereignisse von 9/11 erregt eine Tirade auf den Terrorismus ein. Mehrfach auch weist er auf den bevorstehenden Irak-Krieg hin und auf dessen fadenscheinige Begründung. Man erfährt aber wenig aus seinem Privatleben, er erwähnt nur beiläufig mal ein Gespräch mit seinem Sohn und versteckt hinter dem Kürzel C. verschämt seinen Lebenspartner Craig Stephenson.

Manguel bezeichnet sich selbst als eklektischen Leser, sein Tagebuch folge keiner Denklinie, sondern sei «fragmentarisch, ungeordnet», was ihm erlaube, «ohne vorgefasstes Ziel zu denken». Als leseversessener Buchnarr, der nebenbei auch schreibt, nimmt er insoweit eine Sonderstellung ein in der gehobenen Literatur. Ob sein Tagebuch allerdings inspirierend wirkt und eine Folgelektüre anzuregen vermag, das ist angesichts der eigenwilligen Buchauswahl mehr als fraglich. Neben einer kurzen Erwähnung von Thomas Mann und Kafka ist die deutsche Literatur mit Chamisso für ihn nämlich bereits abgehandelt. Der einzige moderne Autor im Buch ist Jonathan Littell mit dem Roman «Die Wohlgesinnten», – wie Manguel in einer kurzen Notiz schreibt, musste er den Auftrag für eine Übersetzung ablehnen. Diese einseitig einem südamerikanischen und angelsächsischen Literatur-Kanon folgende, rückwärts gewandte Buchauswahl schmälert leider die Lesefrüchte aus dieser speziellen Lektüre erheblich.

Fazit: lesenswert

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Genre: Sachbuch
Illustrated by Fischer Verlag