Drei Tage, drei Nächte

Literarische Nischenrolle

Aus dem umfangreichen Œuvre der hierzulande unbekannten, kanadischen Schriftstellerin Marie-Claire Blais liegt nun seit kurzem unter dem Titel «Drei Tage, drei Nächte» erstmals ein Roman in deutscher Übersetzung vor. Der in französischer Sprache geschriebene Band trägt im 1995 erschienenen Original den Titel «Soifs», was dem Sinn nach ‹durstig› bedeutet. Der deutsche Titel hingegen spielt auf die Erzähldauer dieses polyfonen Romans an, der das Chaos des Lebens im Verlauf dreier Tage zum Inhalt hat.

Auf einer tropischen Insel lebt ein buntes Völkchen verschiedenster Charaktere zwischen bitterer Armut und obszönem Reichtum. Gleich zu Beginn wird von Jacques erzählt, einem Professor der Literatur, der in palliativer Pflege dem Ende entgegendämmert und sich an verschiedene Ereignisse in seinem Leben erinnert. Dazu gehört vor allem auch seine letzte homosexuelle Affäre mit Tanjou, einem einheimischen jungen Mann, von dem er sich getrennt hat und der nun immer wieder tränenüberströmt an seinem Sterbebett erscheint. Eine weitere, häufig auftauchende Schlüsselfigur des Romans ist Renata, ehemals Frau eines Komponisten, die sich als Rechtsanwältin besonders für straffällige Jugendliche einsetzt. Sie ist mit einem Richter liiert und will sich auf der Insel von einer Operation erholen. Durch ihre schwere Erkrankung hat sich ihre latent vorhandene Lebensgier noch gesteigert, sie fühlt sich jünger als sie ist. Ihre Lebensfreude bezieht sie einzig aus dem Begehren der Männer, obwohl sie sich andererseits auch als kämpferische Feministin definiert. Zur Feier der Geburt des gerade zehn Tage alten Vincent geben dessen Eltern ein großes Fest, bei dem sein kleiner Bruder wie wild durch den geschmückten Garten rennt und der illustren Gästeschar laut schreiend verkündet: «Meine Mutter hat ihr Baby fertig!» Melanie, die glückliche Mutter, strebt scheinbar eine politische Karriere an, ihr Mann Daniel ist mit seinem neuen Roman beschäftigt. Zu Gast ist auch Julio, der bei der Flucht in die USA seine gesamte Familie verloren hat, das junge Paar kümmert sich seither rührend um ihn.

In einem 1995 schon deutlich auf den Jahrtausendwechsel hinzielenden, dystopischen Szenario werden die Risiken einer anhaltend unguten Entwicklung verdeutlicht. Gewalt, Macht, Rassismus, Missbrauch und Sexismus, aber auch unverhüllter Hedonismus, Lust und Begehren bestimmen das Geschehen. Das Figuren-Ensemble wird auch von Verrückten, Künstlern und Philanthropen bevölkert, Verbrecher, Dealer und Kleinkriminelle gehören ebenfalls dazu, jeder versucht sein Glück auf seine Weise. Soziale Ungerechtigkeit, Krankheit und Tod sind weitere Themenschwerpunkte, die Marie-Claire Blais mit ihrer scharfen Beobachtungsgabe anschaulich und in einer treffsicheren Sprache beschreibt.

Wie sie das tut ist zweifellos das Besondere an diesem apokalyptischen Roman, es handelt sich hier um eine absolut eigenständige, experimentelle Literatur. Stilistisch extrem eigensinnig, in einer konsequent durchgehaltenen, formalen Strenge, ist dabei letztendlich ein wahres Textungetüm entstanden. Völlig ungegliedert nämlich, ohne Kapitel oder Absätze vom ersten bis zum letzten Wort durchlaufend, werden über ganze Seiten hinweg reichende Sätze aneinander gereiht. In denen sich auch noch die Perspektiven manchmal kaum nachvollziehbar ändern, alles fließt ineinander. Das erfordert bei der Lektüre einen ebenso geduldigen wie aufmerksamen Leser. Es gibt zudem kaum so etwas wie Handlungsfäden, an denen diese monströsen Satzgebilde sich nachvollziehbar entlang hangeln könnten. Man ist quasi gezwungen, sich aus den sprunghaft vorgetragenen Textfragenten eine eigene Geschichte zusammenzureimen. Eine derart experimentelle Literatur jedoch ist allenfalls für eine elitäre Minderheit von Lesern goutierbar. Mit Fug und Recht lässt sich deshalb bezweifeln, dass dieses Buch an der literarischen Nischenrolle dieser kanadischen Schriftstellerin in Deutschland etwas wird ändern können.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

1000 Serpentinen Angst

Dreifach diskriminiert

Im Themenspektrum zeitgenössischer deutscher Belletristik hat inzwischen auch die Rassismus-Problematik einen festen Platz, Olivia Wenzel liefert mit ihrem Romandebüt «1000 Serpentinen Angst» einen vielbeachteten Beitrag dazu. Die junge, künstlerisch vielseitig tätige Schriftstellerin, als ‹Afrodeutsche› in Weimar geboren, bezeichnet ihren autofiktionalen Roman im Interview mit der taz als «Coming-out als Nicht-Weiße». Ein Entwicklungsroman also, dessen Protagonistin nicht sie selber sei, sondern eine «düstere Variante» von ihr, mit der sie allerdings die titelgebende ‹Angst› gemeinsam habe. Nachdem sie aus Thüringen weggezogen sei, spüre sie deutlich eine Entspannung, im Bus schaue sie sich nicht mehr «die ganze Zeit um, ob irgendwo Nazis sitzen. Und ich schaue auch nicht, wer mit mir aussteigt».

Dieser Roman behandelt die Konsequenzen, die sich aus der dreifachen Diskriminierung als Farbige, Frau und Ossi für die namenlose, 35jährige Protagonistin ergeben. Ihr Vater musste die DDR verlassen und ist nach Afrika zurückgegangen, es besteht nur ein loser Kontakt mit ihm per E-Mail. Einmal hat sie ihn in Angola besucht, als erfolgreicher Geschäftsmann unterstützt er sie seit einiger Zeit auch finanziell. Die Mutter hatte als aufmüpfige Punkerin im sozialistischen Arbeiter- und Bauernparadies viele Probleme, sie hat mehrfach versucht, ihre Zwillingskinder wegzugeben und auszureisen. Auch heute steckt sie scheinbar immer noch in nicht genannten Schwierigkeiten, jedenfalls versteckt sie sich vor irgendwem. Der Zwillingsbruder nahm sich 17jährig das Leben, die einst linientreue Großmutter hat sich politisch nach rechts orientiert und wird bei der nächsten Wahl ‹die Rechten› wählen. Nach diversen heterosexuellen Affären und Beziehungen hat die Protagonistin in der Vietnamesin Kim eine lesbische Lebensgefährtin gefunden, und zu guter Letzt wird sie dann auch noch schwanger und ist damit ziemlich überfordert.

All dies ist nicht in einen als Handlung zu bezeichnenden Plot eingebettet, der dreiteilige Roman berichtet vielmehr extrem fragmentarisch davon, und zwar in einer an das Theater erinnernden, dialogischen Erzählform. Diese Gedankensplitter sind weder chronologisch noch thematisch geordnet, sie folgen eher der chaotischen Weise, in der verschiedenste Reflexionen gedanklich spontan verarbeitet werden. Leitmotivisch erscheint dabei häufig ein Verkaufsautomat, der einerseits die materielle Gier des Kindes nach Kaugummis oder irgendwelchem Tinnef ausdrückt, den man mittels Taschengeld aus dessen Schublade entnehmen kann. Die Ich-Erzählerin imaginiert ihn aber auch in den verschiedensten Träumen als einen Zufluchtsort vor den Bedrohungen der Welt, in den sie sich dann immer wieder verkriecht. Wegen ihrer Angstpsychose ist sie bei drei verschiedenen Therapeuten in Behandlung, ohne dass man ihr wirklich helfen kann. Ihre Probleme lägen ja nicht in der Vergangenheit, heißt es, sondern sind gegenwärtig. «Sie sind in unserem Land eben eine Minderheit» lautet lapidar die wenig hilfreiche Diagnose.

Stilistisch ungewöhnlich ist die verhörartige Erzählweise, mit der die Autorin ihr Thema rassistischer Ausgegrenztheit literarisch umsetzt, eine der Stimmen stellt immer wieder übergriffige Fragen. Die Sprache dabei ist lässig, ein flippiger, betont heutiger Jugendslang, der häufig mit englischen Einschüben angereichert ist und in seiner Lakonie oft zum Schmunzeln Anlass gibt. Wer da jeweils spricht bei diesen funkelnden Wortgefechten, das ist ungewiss, die Stimme aus dem Off beeinträchtigt jedoch weder Lesefluss noch Verständnis. «Woran denke ich, was unterschlage ich?» ist alles, was die Autorin vermitteln will. Und sie findet dafür in einer Art Katharsis eine versöhnliche Formel, indem sie bekennt, dass es ihr gut geht in Berlin und auch, dass sie ihre Identität keinesfalls verdrängen darf. Also versucht sie selbstbewusst, sich gesellschaftlich zu emanzipieren, – ihr als Leser dabei zu folgen, lohnt sich.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Inniger Schiffbruch

Grandios gescheitert

Als ein Erzählexperiment der besonderen Art erweist sich Frank Witzels neuer Roman «Inniger Schiffbruch», wirkt darin doch die psycho-therapeutische Aufarbeitung seiner eigenen Kindheit direkt auf den eigentlichen Schreibprozess zurück, er kommentiert sich permanent selbst. In ständigen Selbstzweifeln wird in dieser kaum fiktionalisierten Autobiografie immer wieder auch die Frage nach der Erzählbarkeit dessen aufgeworfen, wovon der Autor in Form einer breit angelegten Vergangenheits-Bewältigung berichtet. Die Figur des von Selbstzweifeln geplagten Ich-Erzählers in dieser literarischen Psychoanalyse vereint also Therapeut und Patient in einer Person. Ein schwieriges Unterfangen, das zum Scheitern verurteilt ist, und prompt erleidet der Autor denn auch literarisch «innigen Schiffbruch» mit seiner seelischen Tiefenlotung. Statt ‹Roman› nämlich, der als Narrativ ohne jede Handlung nur falsche Erwartungen weckt, wäre ‹Sachbuch› die angemessene literarische Form gewesen für diesen intellektuell recht anspruchsvollen und zudem auch interessanten Stoff.

Nach dem Tod des Vaters ist der Sohn mit dessen Nachlass beschäftigt, die Mutter war schon zwei Jahre zuvor verstorben. Er sichtet einen Riesenbestand an Fotoalben, Diakästen, Super8-Filmspulen, Briefen, Tagebüchern und anderem mehr, wozu auch bis zu vier, jahrzehntelang parallel geführte, Kalender des pedantischen Vaters gehören. Bei dieser Recherche wird eine Unzahl an Erinnerungen geweckt, die nicht nur auf den materiellen Nachlass gestützt sind, sondern ergänzend auch auf Erzählungen der Eltern und Großeltern. Beide Eltern waren vom Krieg traumatisiert, die aus wohlhabendem Hause stammende Mutter wurde als 16Jährige aus Schlesien vertrieben, der Vater machte nach dem Krieg notgedrungen eine Lehre als Kaufmann. Er wandte sich dann jedoch der Musik zu, musste aber seine Hoffnungen auf eine Karriere als Pianist und Komponist schon bald aufgeben, wurde Musiklehrer und fungierte außerdem auch als Organist und Chorleiter seiner Kirche. Das Elternpaar ist auf seine Weise also nazigeschädigt und verdrängt in den Jahren des Wirtschaftswunders, wie so viele andere auch, die unrühmliche Vergangenheit. Fast alle Erinnerungen des Autors beziehen sich auf den ebenso bigotten wie strengen Vater mit seinem brutalen Erziehungsterror, die Mutter hat kaum verwertbare Spuren für seine Erinnerungsarbeit hinterlassen, und auch sein Bruder kommt so gut wie gar nicht vor. Auffällig ist zudem die scheinbare Bindungslosigkeit des Autors, Frauen werden allenfalls mal in einem Halbsatz erwähnt. Äußerst befremdlich, aber zudem auch symptomatisch erscheint seine Feststellung, dass er einfach nicht trauern könne um seine Eltern, er kommt ihnen auch posthum nicht nahe.

Eine Stärke dieses zutiefst meditativen Buches ist die anschauliche Beschreibung der Lebenswirklichkeit in der BRD, die materiell mit dem Stichwort ‹Nierentisch› und kulturell mit ‹Beatclub› umschrieben werden kann. Ergänzend zu seinen zahlreichen Träumen und endlosen Grübeleien zieht der Autor auch jede Menge Sekundärliteratur heran, seine Zitierliste umfasst 22 Bücher von Adorno bis Vittorini, und auch der Buchtitel ist ein Zitat aus Rilkes Übersetzung von Leopardis berühmtem Gedicht «L’infinito».

Auf seiner rastlosen Suche nach dem Unausgesprochenen, dem schamhaft Verdrängten im Labyrinth der Vergangenheit, verwendet der Autor eine Technik, bei der er eigene Erinnerungssplitter assoziativ mit materiell gespeicherten Memorabilien vermischt. Dabei werden allerlei Diskrepanzen zu Tage gefördert, Erinnerungen lassen sich nun mal nicht objektivieren. Durch das ständig wiederholte Hinterfragen, das letztendlich ja zu nichts hinführt, wird die Lektüre nicht nur beschwerlich, sondern allmählich auch immer langweiliger. Und viele der Details und Assoziationen, in die er sich verliert, mögen für Frank Witzel wichtig sein, nicht aber für den geplagten Leser. Dieser Roman ist als solcher grandios gescheitert!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Matthes & Seitz

Ich an meiner Seite

Fragwürdige Resozialisierung

Mit ihrem zweiten Roman packt Birgit Birnbacher das schwierige Thema der Resozialisierung von jugendlichen Straftätern an. Die österreicherische Soziologin sei, wie sie im Nachwort schreibt, «der realen Vorlage für die Hauptfigur dieses Romans für die geduldige und beständige Gesprächsbereitschaft» sehr zu Dank verpflichtet. Ihr Buch schaffte es auf die Longlist des diesjährigen Frankfurter Buchpreises, zu Recht?

Arthur wird im Juni 2010 nach 26 Monaten aus dem Gefängnis entlassen und kommt zur Resozialisierung in eine WG in Wien, ein Projekt, das von einer wissenschaftlichen Studie begleitet ist. Sein Therapeut Dr. Konstantin Vogl, den alle nur Börd nennen, fällt durch seine unkonventionellen Methoden auf. Er verkörpert in Auftreten und Kleidung genau das, was man einen ‹schrägen Vogel› nennt. Unter Depressionen leidend wäre der Alkoholiker eher selbst behandlungsbedürftig, er übt jedoch auf Arthur einen erfreulich positiven Einfluss aus. Unter anderem dadurch, dass er ihn dazu anhält, ihm auf Tonband über sein Leben zu berichten. Diese protokollartigen Selbstauskünfte des personalen Erzählers werden, kursiv und in anderer Schrift, immer wieder kurz in die 33 auktorial erzählten Kapitel dieser tragischen Geschichte eingeblendet. Der Protagonist kommt aus prekären Verhältnissen, denen seine Mutter beherzt entflieht, indem sie mit seinem Stiefvater und ihren beiden Söhnen von ihrer österreichischen Kleinstadt nach Andalusien auswandert, um dort eine Palliativklinik für Wohlhabende zu leiten. Arthur beginnt dort schon bald eine offenbar homo/bisexuelle Dreiecksbeziehung mit Milla und Princeton. Der vermeintliche Freund aber versucht ihn bei einem Bootsausflug zu ertränken, während gleichzeitig Milla spurlos verschwindet und irgendwann für tot erklärt wird. Mit einer Patientin schließlich, die er einmal reglos daliegend antrifft und um die er sich sofort rührend bemüht, entwickelt sich schnell eine innige Beziehung. Grazetta, die alte Frau, die hier zum Sterben hergekommen ist, war früher mal eine bekannte Schauspielerin. Schließlich geht Arthur aber dann doch zurück nach Wien, findet dort jedoch keine Arbeit und wird in seiner Not mit einer raffinierten Internet-Abzocke straffällig.

Man ist an Alfred Döblins Figur Franz Bieberkopf in «Berlin Alexanderplatz» erinnert, wenn Arthur sich nach der Entlassung in einem ähnlichen Circulus vitiosus als ehemaliger Häftling um Wohnung und Arbeit bemüht. Dem intelligenten 22Jährigen fehlen die nötigen Referenzen, um eine Wohnung zu mieten, und er kann auch keine Zeugnisse vorweisen, so dass alle seine Bewerbungen erfolglos bleiben, selbst wenn er die Haft als ‹Auslandsaufenthalt› deklariert. Er scheint das Unglück geradezu magisch anzuziehen, sein Online-Konto wird geplündert und ein Mitbewohner seines armseligen möblierten Zimmers stiehlt ihm aus Rache, weil er ihm kein Geld leihen wollte, einen Umschlag mit Dokumenten. Die waren auf wohlwollendes Betreiben von Grazetta professionell gefälscht und hätten ihm bei seiner Suche nach Arbeit und Wohnung sehr nützlich sein können. Was Arthur auch anpackt, es geht schief, dabei ist er sich sicher, «dass ich ein nützlicher Mensch bin», was er Börd so auch aufs Band spricht. Ihm fehlt der familiäre Rückhalt, die Mutter ist voll eingespannt bei ihrem sozialen Aufstieg aus dem Prekariat, sie kann und will sich nicht um ihn kümmern.

Der Plot ist mit vielen zeitlich ungeordneten Sprüngen vom kitschigen Ende im Jahre 2011 bis zurück zu Arthurs Geburt 1988 alles andere als leicht lesbar. Er ist aber auch oft schwer nachvollziehbar, sei es in Szenen wie der brutalen Gewaltorgie im Knast, Arthurs technisch fragwürdigem Phishing-Fischzug oder der völlig unmotivierten Boots-Episode. Völlig deplaziert ist schließlich auch die Figur der Grazetta, und die Schilderung einer zu vermietenden Messi-Wohnung ist wohl kaum als Satire gemeint. Als was aber dann? Buchpreiswürdig jedenfalls ist dieser Roman keinesfalls!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Zsolnay Wien

Mission Pflaumenbaum

Reise zu den Wutbürgern

«Mission Pflaumenbaum», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman von Jens Wonneberger, liefert dreißig Jahre nach der ‹Wende› eine schonungslose Bestandsaufnahme dessen, was politisch als ‹Blühende Landschaften› prognostiziert worden war. Geschildert wird in einer kammerspielartigen Inszenierung eine ganz andere Realität, die von Verlusten gekennzeichnet ist, von Entfremdung und von Hilflosigkeit. Ein Stimmungsbarometer ostdeutscher Befindlichkeiten also, hier erzählt als Wochenendbesuch eines Vaters bei seiner Tochter in einem sächsischen Dorf. Eine ländliche Idylle, in die sich die kinderlose Dreißigjährige mit ihrem in der IT-Branche beschäftigten Mann auf ihrer Stadtflucht erst vor wenigen Wochen zurückgezogen hat.

Kramer, ihr Vater, überzeugter Großstadtmensch und Bibliothekar von Beruf, ein großer Skeptiker, nicht nur was die Wiedervereinigung anbelangt, ist mit dem Bus angereist. Er wird gleich beim Weg von der Haltestelle zum Haus seiner Tochter von einem ebenso leutseligen wie verbitterten Kauz namens Rottmann angesprochen. Der macht aus seinem Herzen keine Mördergrube, redselig überschüttet er Kramer geradezu mit seinen pessimistischen Ansichten über sein Dorf und dessen Bewohner. «Es wird gemeckert und lamentiert, und jeder weiß sowieso alles besser, aber ich fürchte, irgendwann wird ihnen dieses Meckern und Motzen nicht mehr reichen, und dann wird’s hier gewaltig krachen» lautet seine düstere Vorahnung. Der zeitlich auf zwei Tage begrenzte Plot besteht im Wesentlichen aus Gesprächen, die auf Spaziergängen durchs Dorf und bei nicht immer zufälligen Begegnungen zwischen den beiden Männern geführt werden. Jeder im Dorf kennt den von niemandem wirklich ernst genommenen Schwätzer, der wie die trojanische Kassandra für die Zukunft immer nur schwarz sieht. Rottmanns grenzenloses Mitteilungsbedürfnis bekommt damit für Kramer zunehmend etwas ziemlich Beklemmendes.

Immer mehr erfährt er von den alten Zeiten, als im Dorf noch eine Gurtweberei existierte, in der fast alle Bewohner gearbeitet haben. Die aber wurde nach dem Krieg enteignet, nach der Wende von der Treuhand als unrentabel billig verscherbelt und bald darauf platt gemacht, sogar die Fabrikgebäude wurden abgerissen. Auch die ehemalige Villa des Fabrikanten wurde nach dem Krieg lange Zeit zweckentfremdet und war dann dem Verfall preisgegeben, ehe sich schließlich ein Wessi fand, der sie aus dem Dornröschenschlaf erweckt und zu seinem pompösen Landsitz ausgebaut hat. Verwaist ist auch der Dorfkrug, einst gesellschaftlicher Mittelpunkt der Gemeinde, und es gibt auch keinen Friedhof mehr. Die Toten aber seien doch, klagt Rottmann, die Seele einer dörflichen Gemeinschaft, man müsse sie besuchen können an ihren Gräbern, sonst sei das Dorf auch tot. Als örtliches Faktotum ist er ehrenamtlich für die schäbige Kirche zuständig, er scheint von allen alles zu wissen. In seiner nicht abreißenden Suada beklagt dieser unverbesserliche Wutbürger, dass schon bald «Fremde» in die verfallene Waldsiedlung einquartiert würden, Hottentotten nennt er sie, und wie zur Mahnung sieht Kramer im Vorgarten eines Hauses prompt die Reichskriegsflagge fröhlich flattern.

«Eher Sprachverdichtung, das sehr knappe Erzählen» spiele für ihn eine Rolle beim Schreiben, hat Jens Wonneberger im Interview erklärt. Und so lebt auch dieser schmale Band weitgehend von der Sprache, es passiert nichts wirklich Erzählenswertes auf dieser Reise ins rätselhafte Unterbewusstsein dauerbeleidigter, sächsischer Provinzler. Der Plot fungiert nur als Gerüst für lange Gespräche, mit denen hier en passant die schwierige Thematik ostdeutscher Lebenswirklichkeit verdeutlicht wird. Wobei diese Dialoge überzeugend und unaufgeregt beschreiben, was wirklich schwer zu begreifen ist nach dreißig Jahren. Vielleicht hilft dieser sprachlich exzellente, angenehm zu lesende, stille Roman mit seiner Reise zu den Wutbürgern ja auch, einen Autor zu entdecken, der noch wenig bekannt ist.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Müry Salzmann

Johnny Ohneland

Ein Narrativ als Selbstgespräch

Nach zehn Jahren hat Judith Zander mit «Johnny Ohneland» kürzlich ihren zweiten Roman veröffentlicht, ein Werk, das in vielerlei Hinsicht überrascht. Da ist zunächst der Vorname im Titel, der sich als angenommener Name eines Mädchens mit dem schönen Namen Joana erweist, der Nachname Ohneland spielt auf den unglücklichen Bruder von Richard Löwenherz an. Das Mädel hat schon früh ihre Weiblichkeit durch diesen Vornamen zu verdrängen versucht, für alle ist sie nur noch Johnny, es geht folglich um die Gender-Problematik als zentralem Thema. Ungewöhnlich ist neben dem, ‹was› erzählt wird, aber auch, ‹wie› erzählt wird, denn die Geschichte ist bis auf wenige Seiten am Schluss komplett in Du-Form erzählt. Johnny spricht also im Präteritum zu sich selbst, in einem endlosen inneren Monolog. An diesen zunächst irritierenden Erzählstil gewöhnt man sich allmählich als Leser, was aber nicht darüber hinweghilft, dass die auf diese Art entstehenden, komplizierten und zuweilen stilblütenverdächtigen Satzgebilde den Lesefluss oft erheblich stören. Weiter im Du-Ton:

Von früh an, schon im Kindergarten, führst du ein Außenseiter-Dasein. Du bist extrem introvertiert, zudem äußerst kontaktscheu und folglich immer allein, sieht man mal von deinem zwei Jahre jüngeren Bruder Charlie ab, mit dem du dich meistens gut verstehst. Ihr werdet oft für Zwillinge gehalten, so sehr gleicht ihr euch äußerlich, besonders seit du deine Haare jungenhaft kurz geschnitten hast und dir nur noch knabenhafte Klamotten anziehst. In diesem typischen Entwicklungsroman bist du ein unangepasstes Mädchen auf der Suche nach deinem wahren Ich, deine Lieblingsbeschäftigung ist Nachdenken, hast du erkannt. Du kommst aus einer namenlosen Kleinstadt in MeckPom, dein Vater ist Bäcker, deine Mutter arbeitet in einem Blumenladen, eine bildungsferne Herkunft mithin. Orte der Handlung sind neben der pommerschen Provinz auch Finnland, wo du in Helsinki studiert hast, außerdem Australien, dort hast du nach dem Studium deinen ersten Arbeitsplatz am Goethe-Institut von Sydney gefunden. Vom Kindergarten angefangen über Grundschule, Gymnasium und Studium ist dein Leben von den Schwierigkeiten deiner Selbstfindung bestimmt gewesen, geradezu analytisch schilderst du als Protagonistin dein Seelenleben in allen Details. Eine Zäsur stellte dabei das plötzliche Verschwinden deiner Mutter dar, die der Familie in einen Zettel auf dem Küchentisch lapidar mitgeteilt hat, dass sie ein neues Leben ohne euch begonnen habe, sie würde nie mehr zurückkommen, und ihr sollt nicht nachforschen.

Nach deiner Entjungferung, durch ein maskulines Wesen immerhin, wirst du geradezu magisch zum eigenen Geschlecht hingezogen, mehr als Herumknutschen findet dabei aber nie statt. Zwischendurch hast du dann sogar noch den einen oder anderen Lover, als One-Night-Stand, nie für länger. Bis du am Ende deines Australien-Aufenthalts schließlich doch noch mit einer Frau intim wirst, – was dich dann aber auch nicht recht überzeugen kann. Jedenfalls, wird dir da endlich klar, bist du ja tatsächlich bisexuell, du sitzt quasi zwischen den Stühlen!

Diese Geschichte, die eher einer Meditation gleicht, ist mit Intertextualität üppig angereichert, im Anhang sind fast hundert Quellen benannt. Außerdem finden sich unzählige Redensarten, Sprüche, Zitate und Songtexte, viele auf Englisch. In klugen Selbstreflexionen werden metaphernreich Johnnys Seelenleben, ihre genderspezifischen Probleme und manch anderes Ungemach in der Welt beleuchtet. Beste, aber leider einzige amüsante Episode ist ein Discobesuch, bei dem der DJ gnadenlos die Tanzfläche leer fegt, indem er plötzlich, zur Ankurbelung des Getränkekonsums, nur noch öde Schnulzen auflegt. Zweifellos ist die Sprache das erfreulichste Merkmal dieses Narrativs, ein wortmächtiger, sehr spezifischer Stil. Dabei wird allerdings selbstverliebt oft weit über das Ziel hinausgeschossen, was den Text gewaltig aufbläht, weniger wäre hier mehr gewesen!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Triceratops

Beklemmende Lektüre

Mit «Triceratops» von Stephan Roiss scheint sich eine Tradition österreichischer Psychiatrie-Romane zu verstetigen, denn prompt landete heuer auch dieses Debüt auf der Longlist des Frankfurter Buchpreises, so wie im Vorjahr schon «Vater unser» von Angela Lehner. Aber damit enden auch schon alle Gemeinsamkeiten der beiden Romane, denn was wir hier zu lesen bekommen, das ist vergleichsweise schwere Kost. Er habe fünf Jahre an seinem autobiografisch inspirierten Roman geschrieben, hat der Autor erklärt, zum einen wegen der extrem komprimierten Erzählweise, andererseits aber auch wegen der schwierig durchzuhaltenden, ungewöhnlichen Wir-Perspektive, aus der heraus erzählt wird. Und es handelt sich beileibe nicht um den Pluralis Majestatis dabei, diese spezielle Erzählform verdeutlicht als Selbstschutz des Protagonisten vielmehr seine hoffnungslose Einsamkeit. Der titelgebende Dinosaurier wiederum, ein wehrhaftes Urzeit-Nashorn mit einem mächtigen Nackenschild und drei Hörnern, ist ein beredter Hinweis auf seine Sehnsucht nach Geborgenheit.

Erzählt wird die traumatische Geschichte eines namenlos bleibenden Jungen, der in einer psychisch gestörten Familie aufwächst. Die Mutter war schon fünfmal in der geschlossenen Psychiatrie, sie sei gemütskrank, seit sie ihren Vater aufgefunden habe, der sich in der Scheune erhängt hat. Die psychisch labile, ältere Schwester wiederum glaubt, ihre Verhaltensstörung von der Mutter geerbt zu haben. Gebetsmühlenartig wiederholt sie den Satz «Alles wird gut», der sich wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht. Dem frömmelnden, eher weichlichen Vater gelingt es trotz aller Bemühungen nicht, Normalität herzustellen in seiner Familie, auf der ein Fluch zu liegen scheint, er flüchtet sich resigniert in den Alkohol. Und der Sohn schließlich, der in solch trostloser Umgebung aufwächst und all dem nicht gewachsen ist, weicht in die Sprachlosigkeit aus. Er bleibt meist stumm und rettet sich in Traumwelten hinein. Und zu denen gehören eben auch die Dinosaurier, um deren Stärke und Unverwundbarkeit er sie beneidet, sie sind immer wieder Motive seiner kindlichen Malereien. Trotz aller psychischen Probleme jedoch gibt es auch ein ‹normales› Familienleben, zu dem die altersbedingt zeitweise demente Großmutter beiträgt.

Sprunghaft und in kleinste Abschnitte unterteilt wird mit «Triceratops» eine bedrückende Coming-of-Age-Geschichte erzählt, die in den 1980/90er Jahren angesiedelt ist. Angefangen vom achtjährigen Schulkind bis in die späte Adoleszenz hinein reiht sich da, geradezu lakonisch, ein Erinnerungssplitter an den anderen. Das reicht vom plötzlichen Versagen in der dörflichen Schule, diversen Streichen und Missgeschicken, dem Ausbrechen auch aus familiären Pflichten bis hin zur Initiation durch ein Punk-Mädchen und dem Abtauchen in den städtischen Untergrund. Zu einer Zäsur kommt es, als die seelisch gestörte Schwester ihr wenige Monate altes Baby erstickt, weil sie ihm ein Schicksal wie das ihre nicht zumuten will.

Stephan Roiss hat mit seinem Roman nicht nur eine eindringliche Darstellung der Verzweiflung geschaffen, er hat cool und emotionslos das Psychogramm einer Familie beschrieben, mit allen ihren seelischen Vorbedingungen und Abhängigkeiten. Die seltsame Wir-Perspektive, die immer wieder die Frage aufkommen lässt, von wo aus da erzählt wird, trägt mit ihrer ungewohnten Tonalität einiges bei zur düsteren Stimmung dieser Erzählung, sie wirkt geradezu beschwörend auf den Leser ein. Erst auf der letzten Seite wechselt die Perspektive, plötzlich ist von dem ‹Jungen› die Rede, der da seine Schwester in der geschlossenen Anstalt besuchen kommt. «Ich heiße Konrad. Wie heißen Sie?» lautet der letzte Satz, mit dem ein seit Jahrzehnten weg gesperrter Insasse, den er aber schon jahrelang kennt, sich ihm vorstellt. «Triceratops» ist eine gekonnt erzählte, beklemmende Lektüre, narrativ durchaus bereichernd, aber inhaltlich völlig inkonsistent, und recht unerfreulich obendrein!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kremayr und Scheriau

Ein Tag wird kommen

Mit persönlichem Bonus

«Ein Tag wird kommen», der erste auf Deutsch erschienene Roman der jungen italienischen Schriftstellerin Giulia Caminito, ist von der eigenen Familiengeschichte inspiriert. Ihr Urgroßvater war Anarchist und liefert damit die Vorlage für einen der beiden Protagonisten dieses politisch geprägten Romans. Den religiösen Widerpart dazu bildet als ebenfalls historische Figur die aus dem Sudan verschleppte Zeinab Alif, sie hatte als Nonne den Namen Maria Giuseppina Benvenuti angenommen, das Volk nannte sie nur La Moretta. Die Erzählung mit dem neugierig machenden Titel ist in der italienischen Region ‹Marken› angesiedelt und schildert das Leben der vom Unglück verfolgten Familie des Bäckers Luigi Ceresa in der kleinen Ortschaft Serra de’ Conti. Den historischen Hintergrund bilden Anfang des 20ten Jahrhunderts Ereignisse wie der Erste Weltkrieg, die anarchistische Bewegung von Errico Malatesta und das Aufkeimen des Faschismus unter Mussolini.

Ein Roman über zwei ungleiche Männer, zum einen der kämpferische Anarchist Lupo, dem die Autorin allegorisch gleich zu Beginn den auf dem Titel abgebildeten Wolf zugesellt. Der von ihm verletzt aufgefundene und großgezogene Welpe wird, symbolisch leider deutlich überzogen, ‹Cane› genannt, künftig sein treuer Begleiter. Zweiter Protagonist ist sein schwächlicher und ängstlicher Bruder Nicola, der zum Arbeiten absolut nicht taugt. Die ungleichen Brüder lieben sich inniglich, sie bilden ein unzertrennliches Paar mit dem Kraftprotz Lupo als unermüdlichem Beschützer, der seinerseits von der Bildung des introvertierten jüngeren Bruders profitiert. Im Prolog legt Nicola das Gewehr auf Lupo an und schießt, ein gekonnt Spannung erzeugender Beginn, dem allerdings eine anfangs ziemlich verwirrende Geschichte folgt, die erst ab der zweiten Buchhälfte geläufiger lesbar wird. In getrennten Handlungsfäden wird, mit diversen Rückblenden und Vorgriffen, die Geschichte der Familie Ceresa erzählt, die in ärmlichsten Verhältnissen lebt. Nach vielen Totgeburten sind dann auch noch zwei ihrer überlebenden fünf Kinder früh gestorben, außer den beiden Söhnen gibt es nur noch die rebellische Nella, die aber als junges Mädchen ins örtliche Kloster gehen musste. Hinter all dem verbirgt sich, das wird dem Leser schon bald klar, ein düsteres Familiengeheimnis, auf das ja schon der Buchtitel hindeutet.

In dieser elegischen Geschichte der Hungerleider geht es sehr rau zu, alle fristen ihr karges Dasein in dem zutiefst ungerechten Halbpächter-System Italiens. Der Widerstand gegen dieses verhasste Relikt aus feudalen Zeiten eskaliert in der «Settimana Rossa», den Unruhen und Streiks in Ancona im Juni 1914, an denen auch Lupo in vorderster Front beteiligt ist. Sein Bruder Nicola wird als 1899-Geborener blutjung in den sinnlosen Krieg geschickt, dessen Grauen die Autorin eindrucksvoll schildert. Ebenso eindrücklich sind die Beschreibungen des Klarissinnen-Klosters, in dem die unglückliche Nella wie eine Gefangene lebt. La Moretta hat dort als Äbtissin unerbittlich ein strenges Reglement etabliert, zu dem besonders das unbedingte Schweigegelübde gehört, aber auch die ausnahmslose Klausur. Was der Krieg nicht geschafft hat, das vollendet die Spanische Grippe, die weite Teile der Bevölkerung dahinrafft und ganze Landstriche entvölkert, weitaus schlimmer als das, was wir zur Zeit mit Corona erleben.

Diese in dreizehn Kapitel sowie Prolog und Epilog gegliederte Geschichte wird in einer dem freudlosen Geschehen angepassten, schlichten Sprache erzählt, wobei die verwendeten Metaphern manchmal alles andere als überzeugend sind. Vom Plot her reizvoll ist der gut herausgearbeitete Gegensatz zwischen politischer Anarchie und naivster Religiosität. Der Roman erscheint thematisch jedoch ziemlich überfrachtet, Giulia Caminito hat sich regelrecht verzettelt mit ihrem multi-thematischen Sujet. Wer lange in den ‹Marken› gelebt hat wie ich, wird ihr das aber, als persönlicher Bonus quasi, gerne nachsehen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Wagenbach

Aus der Zuckerfabrik

Unikat der Postmoderne

Das dritte Buch von Dorothee Elmiger mit dem Titel «Aus der Zuckerfabrik» verdeutlicht durch die fehlende Genrebezeichnung die Probleme bei der Definition der Gattung Roman. Bei Wikipedia wird dieses Buch nonchalant als ‹Roman› klassifiziert, eine literarische Form, die von Georg Lukács als «Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit» bezeichnet wurde, die Schweizer Autorin selbst hat ihr Buch als Recherchetagebuch bezeichnet. Auf potentielle Leser kommt also ein ungewöhnliches, verwirrendes Stück Prosa zu, soviel sei vorab schon mal gesagt.

Als Leitthema fungiert, dem Buchtitel entsprechend, der Zucker als Metapher für Begehren und Genuss, die Zuckerfabrik dient als Sinnbild der Gesellschaft. Ferner sind Gewalt, Kolonialismus, Ökonomie, Verteilungsgerechtigkeit, Glückssuche, Sexismus und anderes mehr markante Themen dieses konsequent abstrakt bleibenden, literarischen Sammelsuriums. Aber auch die Literatur ist, oft mit längeren Zitaten, breitgefächert vertreten. Peter Kurzeck wird genannt und Max Frisch, aber auch Joseph Roth, Marie Luise Kaschnitz oder Heinrich von Kleist. Zu den absonderlichen Geschichten, die häufig wiederkehrend im Buch thematisiert werden, gehört auch die des ersten Schweizer Lottokönigs von 1979 Werner Bruni. Der Titel seines Buches «Einmal Millionär und zurück» veranschaulicht besonders deutlich die Gedanken von Dorothee Elmiger zum Thema Geld. Mit Ellen West wiederum, berühmte Patientin des Schweizer Psychiaters Ludwig Binswanger, wird das Thema Suizid aufgegriffen, und der Russe Vaslav Nijnsky schließlich steht als begnadeter Tänzer für Ruhm, aber auch für ein tragisches Ende in geistiger Umnachtung. Die im Buch durch Karl Marx und Adam Smith vertretene Ökonomie wird, ihre Maßlosigkeit betreffend, mit einer köstlichen, filmreifen Szene beschrieben: Während einer Teestunde nimmt Adam Smith, ganz in Gedanken verloren, ein Stück Zucker nach dem anderen aus der Zuckerschale und isst es auf, bis die verstörte Gastgeberin die Schale vom Tisch nimmt und in Sicherheit bringt.

All diese vielen Textfragmente sind scheinbar ziemlich zusammenhanglos aneinandergereiht, ihr tieferer Sinn erschießt sich oftmals nicht. Die Ich-Erzählerin, in der die Autorin unschwer zu erkennen ist, gibt offen zu, sie sei nicht in der Lage, «ihr Material in eine Erzählung zu fügen». Man hat es quasi mit einem prall gefüllten Zettelkasten in Buchform zu tun. In dem sind weder Zeit noch Ort konkret fassbar. Von allen Zwängen befreit, wie die Grübeleien ihrer phantasiebegabten Schöpferin auch, werden vielmehr in wilden, unkoordinierten Sprüngen mühelos sämtliche realen Dimensionen überwunden. Was hier erzählt wird sind Schnappschüsse und Szenen aus den Gedanken und Visionen einer Schriftstellerin, die sich verzweifelt bemüht, die Gegenwart zu verstehen. Dabei landet ihre Ich-Figur erzählerisch sehr häufig in einem «Gestrüpp», Sinnbild für Weglosigkeit und Unbehaustheit.

Dieses Buch ist eine berührende Anklage gegen die himmelschreiende Ungerechtigkeit und die unvermindert anhaltenden, eklatanten Fehlentwicklungen des 21ten Jahrhunderts. Sprachlich umgesetzt wird dieses Lamento durch ein brüchiges, inkonsistent erscheinendes Narrativ mit einer ausgesprochen eigenwilligen Syntax, die durch häufige fremdsprachige Einsprengsel und Zitate noch zusätzlich sperriger wird. Allein die sechs Seiten mit Quellenangaben zeugen davon, dass von flüssigem Lesen in diesem Buch wahrlich nicht die Rede sein kann. Dass die Autorin sich dieser Schwierigkeiten bewusst ist, wird an mehreren Stellen deutlich. Während sie am Schreibtisch sitze, sagt die Ich-Figur einmal selbstreflexiv, passiere gleichzeitig um sie herum alles Mögliche, «und das muss dann natürlich alles auch erzählt werden, weil das ja die Bedingungen sind, unter denen der Text entsteht». Kaum vorstellbar, dass diese experimentelle Prosa, ein Unikat der Postmoderne, den diesjährigen Frankfurter Buchpreis gewinnt, – aber man soll ja nie Nie sagen!

Fazit: lesenswert

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Illustrated by Hanser Verlag München

Was Nina wusste

Der Whisky bringt’s

Der neue Roman «Was Nina wusste» von David Grossmann basiert auf der Lebensgeschichte der kroatischen Kommunistin Eva Panic-Nahir, die als jüdische Partisanin zusammen mit ihrem serbischen Mann gegen die Nazis gekämpft hat. Als das Tito-Regime sie später als Stalinisten verfolgte, beging ihr Mann im Gefängnis Selbstmord, sie selbst wurde zur Umerziehung auf die berüchtigte Insel Goli Otok gebracht. Im Roman ergänzt der Autor diese Fakten vor allem durch psychologische Tiefenlotungen seiner Figuren, er entwickelt in seinen fiktionalen Ergänzungen detaillierte Psychogramme von ihnen, Freudianer dürften begeistert sein.

Vera, zentrale Figur des Romans, feiert im Kibbuz ihren 90ten Geburtstag. Ihre Tochter Nina, die ihr geradezu feindlich gegenübersteht und mit der sie seit vielen Jahren kaum Kontakt hatte, kommt von einer Insel am Polarkreis angereist, auf die sie sich in ihrer Weltflucht zurückgezogen hat. Die 39jährige Enkeltochter Gili, die wie ihr Vater Rafi beim Film arbeitet, hat beschlossen, die Feier filmisch zu dokumentieren, anschließend sollen alle gemeinsam nach Kroatien reisen, zu den Stätten von Veras Geschichte. Es geht dabei um die Leerstellen in deren Vita, vieles ist rätselhaft geblieben. Denn sie hatte sich, als sie von der Geheimpolizei verhört wurde, strikt geweigert, ihren toten Mann als stalinistischen Verräter zu denunzieren, was ihr die Freiheit gebracht hätte. Man hatte ihr angedroht, dass ihre sechseinhalbjährige Tochter Nina unbetreut auf der Strasse landen würde, wenn sie nicht unterschreibt. Aber Vera blieb stur, ihr verstorbener Mann war die große Liebe ihres Lebens, ihn zu verraten wäre für sie gleichbedeutend damit, ihr eigenes Leben auszulöschen, er war nun mal ihr Ein und Alles. Nina hat diese Entscheidung niemals akzeptiert, sie wurde zu einer schwierigen Einzelgängerin, hat sich von ihrer Familie gelöst und ist entwurzelt in der Welt herumvagabundiert, jahrelang war sie unauffindbar. Auf der Feier offenbart die total verbitterte Nina plötzlich, dass sie seit einigen Monaten unheilbar an Demenz erkrankt ist. Sie bittet, die Dokumentation über Veras Leben perspektivisch in einen Film für die ‹Demente Nina› abzuändern, so als würde man alles nur der erzählen. Später könne man der Patientin immer wieder mal diese Aufnahmen vorspielen, um sie in die reale Welt zurückzuholen.

Es ist ein weites Feld, das David Grossmann da bearbeitet, mit der Liebe in den verschiedensten Intensitätsgraden als zentralem Thema vor dem Hintergrund der Verwerfungen des 20ten Jahrhunderts. Krieg, Nationalismus, Völkermord, Kommunismus, Diktatur, Verbannung, Holocaust und Zionismus sind Themen, die in den Plot hineinwirken und die Schicksale seiner Figuren bestimmen. In all dem schrecklichen Geschehen sind es die Frauen dreier Generationen aus dieser Familie, die beherzt gegen die politischen Pressionen ankämpfen, allen voran Vera. Mit viel Empathie gelingt es dem israelischen Autor, seine Protagonisten menschlich überzeugend zu beschreiben, eine beinahe vorbehaltlose Nähe des Lesers zu ihnen herzustellen. Vieles erschließt sich in dieser Geschichte aus den Dialogen, bei denen besonders Veras kroatisch/jüdisch gefärbtes Idiom ebenso zum Schmunzeln reizt wie ihre eigensinnige, manchmal verblüffende Sicht der Dinge. Was Vera im Roman nur zögernd preisgibt, ihr vermeintliches Geheimnis, ist genau das, «Was Nina wusste», wie ja schon der Titel verrät.

Es ist nicht weniger als eine zutiefst moralische Frage, die dieser Roman aufwirft. Ist Veras Entscheidung vertretbar, die Ehre ihres – ja bereits toten – Mannes höher zu bewerten als die schlimme Zukunft, die ihre alleingelassene Tochter in einem mörderischen System zu erwarten hat? Leider gelingt es dem Autor nicht, sein schwieriges Thema ohne Pathos zu behandeln, was erheblich stört beim Lesen. Und wirklich peinlich wird es, wenn am Ende das Trauma einer jahrzehntelangen Entfremdung einfach mit einer Flasche Whisky hinweg gespült wird.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Kokoschkins Reise

Solitäre lakonische Diktion

Mit «Kokoschkins Reise» hat Hans Joachim Schädlich einen Jahrhundertroman geschrieben, nicht der Bedeutung nach, sondern inhaltlich. Der in breiten Leserkreisen kaum bekannte Schriftsteller schlägt darin zeitlich einen weiten Bogen, der die politischen Umbrüche und Katastrophen des Jahrhunderts in Europa abhandelt und schließlich sogar 9/11 mit einbezieht. In Anlehnung an die reale Figur des 1918 von Bolschewisten ermordeten, der Demokratischen Partei angehörenden Ministers Kokoschkin ist dessen fiktionaler Sohn Fjodor der Protagonist dieser Geschichte. Seine historische Tour d’Horizon sei quasi ein Nebeneffekt seines narrativen Vorhabens, hat er im Interview erläutert. «Ich wollte wirklich nur eine Geschichte erzählen, in deren Mittelpunkt die Konfrontation eines Einzelnen mit den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts steht».

Dieser ‹Einzelne› ist der 95jährige Exilrusse Fjodor Kokoschkin, der sich am 8. September 2005 in Southampton auf den Luxusliner ‹Queen Mary II› einschifft. Der rüstige Pensionär, ein emeritierter Professor aus Boston, kehrt nach einer Europareise zu den Stätten seiner Kindheit und Studentenzeit nach Hause zurück. Die wechselvollen politischen Verhältnisse und materielle Nöte hatten ihn früh von seiner Mutter getrennt. Nach dem Internat ging er nach Berlin, begann ein Biologie-Studium und flüchtete dann vor den Nazis nach Prag. Glückliche Umstände verhalfen dem mittellosen jungen Studenten durch Vermittlung der dortigen Botschaft 1933 schließlich zu einem Stipendium in den USA, er durfte dorthin auswandern. In Boston schloss er sein Studium ab und gelangte als Spezialist für Gräser und Halme zu akademischen Ehren. 1968 lernte er dann bei einem ersten Europa-Besuch in Prag den deutlich jüngeren Jakub Hlaváček kennen. Dieser Freund hatte Kokoschkin nun auf auch seiner mutmaßlich letzten Europareise begleitet.

Der Roman ist, in der nur wenige Tage dauernden Erzählebene der Gegenwart, neben der Prozedur zur Einschiffung in fünf nach Tagen auf See gegliederte Kapitel unterteilt und endet mit der Ankunft in New York. In Tischgesprächen mit anderen Passagieren, Begegnungen bei den verschiedensten Veranstaltungen an Bord und so manchem Barbesuch erzählt Kokoschkin in der zweiten Erzählebene aus seiner bewegten Vergangenheit. Dabei fungieren seine verschiedenen Gesprächspartner zumeist als reine Zuhörer oder Stichwortgeber, er berichtet in langen Passagen aus seinem Leben. Diese in direkter Rede erzählten Rückblicke enthalten neben den politischen Themen einiges an Intertextualität, vor allem Iwan Bunin wird häufig genannt und in längeren Passagen auch zitiert. Wladislaw Chodassewitsch und seine Frau Nina Berberowa gehören ebenfalls mit zu den engen Freunden von Kokoschins Mutter, sie folgt ihnen schließlich sogar nach Paris. Häufig geht der Protagonist in seinen Erzählungen auf besonders schöne Bauwerke ein, bewundert Kunstwerke und genießt ganz bewusst den Luxus, den er sich als renommierter Wissenschaftler im Alter leisten kann.

Auffallend ist die große Gelassenheit, mit der Kokoschkin aus seinem durchaus nicht immer erfreulich verlaufenen Leben berichtet, ein derartiger Gleichmut den politischen Zumutungen gegenüber ist allenfalls durch die Milde des Alters zu erklären. Hans Joachim Schädlich erzählt seine Geschichte in einer für ihn typischen, hoch verdichteten Sprache, die von der schnörkellosen Verkürzung auf das Nötigste lebt, die bei allem, was sie sagt, vermeidet, es direkt auszusprechen. Der Text wirkt dadurch natürlich eher als nüchterner Bericht denn als mitreißende, angenehm unterhaltende Erzählung. Diese lakonische Diktion, im Feuilleton und in Kollegenkreisen als solitär bewundert, versteckt ihre Botschaft quasi zwischen den Zeilen. Sie erfordert damit einen stets aufmerksam mitdenkenden und sensiblen Leser.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Die Unschärfe der Welt

In ihrem vierten Roman «Die Unschärfe der Welt» erzählt die aus Siebenbürgen stammende Schriftstellerin Iris Wolff auf gerade mal zweihundert Seiten die vier Generationen umfassende Geschichte einer Familie, deren starke Bindungskräfte die Zeiten überdauern. Bereits der Buchtitel kündet ein narratives Verfahren an, das vieles nur andeutet und in ‹Unschärfe› belässt, während ‹Welt› andererseits auf ein breit gestreutes Themenspektrum verweist. Mit einer wunderbar bilderstarken Sprache gelingt dieser literarische Spagat auf beeindruckende Weise, der Autorin verleiht ihrem Text damit etwas geradezu poetisch Schwebendes. Erinnerung sei «ein Raum mit wandernden Türen», heißt es im Roman dazu.

Es beginnt gleich dramatisch. Die schwangere Frau des Pfarrers einer dörflichen Gemeinde im rumänischen Banat, die beinahe ihr Kind verliert, wird mit der Kutsche eiligst ins nächste Krankenhaus gefahren. Dort verdächtigt man sie zunächst mal, eine in Rumänien strafbare Abtreibung eingeleitet zu haben, nichts jedoch liegt ihr ferner als das. Wochen später bringt sie schließlich dann Samuel zur Welt, der auch die folgenden sechs Episoden als rätselhafte Figur lose miteinander verbindet. Samuels Großmutter gehört als Tochter aus reichem Hause zu den ewiggestrigen Monarchisten, die sich sehnlich den rumänischen König zurückwünschen, sie wird sich mit dem verhassten Sozialismus niemals abfinden können. Hannes, der glückliche Vater, als evangelischer Seelsorger dazu verdonnert, die Gastfreiheit katholischer Klöster in seinem Pfarrhaus weiterzuführen, muss sich nach der Beherbergung zweier schwuler Lehrer aus der DDR bei der verhassten Securitate verpflichten, künftig Berichte über seine jeweiligen Gäste abzuliefern. Es ist ein bunter Reigen von Figuren aus der Familie und ihrem Umfeld, über die da, vor dem Hintergrund sich wandelnder politischer Verhältnisse, von den sechziger Jahren an bis in die Umbruchjahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs berichtet wird. Die Liebe spielt dabei eine wichtige Rolle, auch die zwischen Männern, Freundschaften zerbrechen, tragische Unfälle ereignen sich. Religion, Krankheit und Tod sind ebenfalls Themen, die die Menschen permanent beschäftigen. Aber auch ein Husarenstück wie die Flucht nach Österreich in einem gestohlenen Agrarflugzeug wird erzählt.

Immer wieder sind stimmig die verschiedensten Symbole in diese Geschichte eingebaut, wird mit Metaphern verdeutlicht und komprimiert zugleich. Von der Suche nach Glück wird berichtet, welches oft in der Natur zu finden sei, aber auch im friedlichen Miteinander bescheidener, genügsamer Menschen und im unverdrossenen Neubeginn nach Enttäuschungen und Verlusten. Die ethnische Vielfalt und Vielsprachigkeit bildet dabei kein Hindernis, selbst bei Familienfeiern unterhält man sich oft wie selbstverständlich in drei verschiedenen Sprachen. Auf die Frage, wer denn in dem kleinen Dorf, in dem es «mehr Schafe als Einwohner gibt», heute noch eine einheimischer Suppe zu kochen vermag, fragt die Pfarrersfrau schnippisch zurück: «Was meinst du mit einheimisch? Schwäbisch, slowakisch, ungarisch, rumänisch, tschechisch, jüdisch oder vielleicht serbisch»? Amüsant ist auch ein Intermezzo in einer Buchhandlung, in der ein dort beschäftigter, ehemaliger Lehrer nur das Lesen von gekauften Büchern statthaft findet: «Geliehene Bücher zu lesen war wie Sex mit angelassenen Klamotten» lautete seine Erkenntnis.

Vieles wird nur angedeutet in diesem komplexen Plot, dessen Prinzip die extreme Komprimierung ist, Iris Wolff vermeidet konsequent jede Vertiefung des historischen Geschehens, Stichworte dazu müssen reichen. Ein sprachliches Kennzeichen dafür sind unter anderem die kurzen Sätze, die den Text flüssig lesbar machen und ihn zuweilen geradezu musikalisch schwingend erscheinen lassen. Bei alldem muss der Leser ständig wachsam sein, um nachvollziehen zu können, wie die einzelnen Episoden zusammenhängen, worauf das alles denn hinausläuft in diesem leisen Roman.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Bis wieder einer weint

Ein schreckliches Kind

Eine der frühen Neuerscheinungen dieses Jahres, der zweite Roman von Eva Sichelschmidt, spielt mit seinem Titel «Bis wieder einer weint» auf die Warnung der Erwachsenen an, wenn Kinder übermütig herumalbern. Weil ja, wer kennt das nicht, oft das Kichern und Getobe plötzlich umschlägt. Die nach Bekunden der Autorin autobiografisch gefärbte Geschichte, beginnend in der Adenauerzeit und bis in die frühen neunziger Jahre hineinreichend, schildert Aufstieg und Fall einer westdeutschen Unternehmerfamilie am Rande des Ruhrgebiets.

«Am 29. Juni 1971 hat niemand fotografiert» heißt es zu Beginn des Romans, es war der Tag, an dem die Mutter der damals knapp zehn Monate alten Ich-Erzählerin beerdigt wurde. An diesen Tag glaubt Suse sich später erinnern zu können, sie hatte eine Blumenvase umgerissen und ihren Laufstall damit unter Wasser gesetzt. Diese nonverbale Erinnerung bezeichnet ein Kinderpsychologe, dem sie am Ende privat von ihrem verkorksten Leben erzählt, als das bekannte Phänomen ‹emotionaler Erinnerung› in Bildern. In permanentem Wechsel zwischen personalem und auktorialem Erzähler wird zunächst die Geschichte von Inga und Wilhelm erzählt, dem glamourösen Elternpaar von Suse. Schönheit und Reichtum kamen da zusammen, die siebzehnjährige Tochter eines praktizierenden Augenarztes eine geradezu strahlende Erscheinung, der zwölf Jahre ältere Bräutigam glamouröser Dressurreiter und erfolgreicher Geschäftsmann. Inga stirbt bald nach Suses Geburt an Leukämie, das Baby wird zu den mütterlichen Großeltern gegeben, ihre sechs Jahre ältere Schwester bleibt beim Vater. Der holt dann aber auch die inzwischen achtjährige Suse wieder zu sich, sie kommt damit unter die Fuchtel der pietistischen Großmutter und leidet sehr darunter. Was sich dann in einer permanenten Widerborstigkeit im familiären Umgang ausdrückt und ebenso in einem eklatanten schulischen Versagen. Sie entwickelt sich zu einer allerseits gemiedenen Außenseiterin und weist keinerlei erkennbare Talente auf, ihre Zukunft bleibt bis zum Ende ungewiss.

Das chronologisch erzählte Geschehen nimmt seinen Anfang in den Jahren der zunehmend prosperierenden BRD, deren wirtschaftlicher Aufschwung auch Wilhelms mittelständische Maschinenfabrik mitreißt. Ein Erfolg, den er in vollen Zügen genießt, er wirft geradezu um sich mit dem reichlich vorhandenen Geld, verwöhnt seine junge Frau und nach deren Tod auch die beiden Töchter. Mit einer überbordenden Fülle an Details, vor allem aus der schillernden Konsumwelt, erzählt die Autorin, den Leser damit auf Dauer ermüdend, Alltägliches aus jener Zeit, – vieles davon ist unübersehbar klischeehaft. Diese materielle Dominanz beeinträchtigt narrativ leider allzu sehr das Seelenleben ihrer Figuren. Deren Psyche bleibt auffallend blass, es wird auch nicht angemessen differenziert beim Blick auf die verschiedenen Charaktere. Denn auch Wilhelm hat seine dunklen Seiten. Vor allem hat er eine heimlich ausgelebte homosexuelle Prägung, er ist mit der ahnungslosen Inga einmal sogar als Gast geladen zu einem Empfang von Arndt von Bohlen und Halbach in der Essener Villa Hügel.

In der zweiten Hälfte kommt endlich ein wenig Schwung in die bis dahin eher langweilige, deutlich zu breit ausgewalzte Geschichte, die Lebenslügen werden entlarvt, die glamouröse Fassade bekommt zunehmend Risse. Denn irgendwann endet auch Wilhelms Firma im Konkurs, die Zeiten haben sich geändert, für ihn eine harte Landung nach den Höhenflügen der glorreichen Vergangenheit. Wilhelm ist zum Alkoholiker geworden, leidet an verschiedenen Krankheiten, er lässt sich nahezu willenlos von seinem Liebhaber finanziell ausnehmen. Den Töchtern bleibt nur die Flucht aus dieser Misere in ein selbstbestimmtes Leben, das für sie ganz bei Null anfängt. Dieser Gesellschaftsroman endet mit dem an Suse gerichteten, resignierenden Satz ihrer Tante: «Du warst wirklich ein schreckliches Kind». Und das ist es auch schon, was sich dem Leser eingeprägt hat am Ende, mehr ist da nicht.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Herzfaden

Weil Puppen ehrlicher sind

Es ist mehr als ein Blick hinter die Kulissen eines berühmten Theaters, den uns Thomas Hettche mit «Herzfaden» beschert, seinem «Roman der Augsburger Puppenkiste». Geschickt verknüpft er in seinem neuesten Werk, mit dem er dem Theatergründer ein wohlverdientes Denkmal setzt, durch zwei auch typografisch getrennte Erzählebenen Realität und Märchen miteinander. Blau gedruckt ist die fiktional ausgeschmückte Geschichte der Theatermacher, in roter Farbe wird abwechselnd immer wieder aus dem Schattenreich von Hatü erzählt, der 2003 verstorbenen Hannelore Marschall. Deren Vater Walter Oehmichen gründete während des Zweiten Weltkriegs ein Marionettentheater, das 1944 im Bombenhagel zerstört wurde. Nach dem Krieg baute er es als Reisebühne neu auf, dabei diente eine umgebaute Transportkiste der Deutschen Reichsbahn als provisorische erste Spielstätte und gab dem Puppentheater dann auch seinen Namen.

Im Foyer der Augsburger Puppenkiste stößt ein kleines Mädchen nach der Vorstellung auf eine versteckte Tür, die sie neugierig öffnet. Plötzlich befindet sie sich in einer Schattenwelt, auf einem geheimnisvollen, ewig dunklen Dachboden. Dort trifft sie eine illustre Schar von Marionetten, allesamt wohlbekannte Figuren aus dem Märchen, die sie freudig begrüßen, einzig der ‹Böse Kasper› verhält sich ihr gegenüber feindlich. Und plötzlich steht dann auch noch eine schöne Frau vor ihr, die genießerisch ihre Zigarette raucht und sich als Hatü vorstellt, jene schon vor siebzehn Jahren verstorbene Puppenschnitzerin und langjährige Theaterleiterin. Sie selbst hatte die meisten dieser Figuren geschaffen und erzählt, in der ‹blauen› Ebene des Buches, ihrer kleinen Besucherin nun die eng mit ihrer Familie verknüpfte Geschichte dieses besonderen Theaters. Und dessen dramatische Anfänge waren nicht nur äußerlich vom Dritten Reich geprägt. Als die kleine Hatü nämlich ihre erste Puppe, einen Kasper, geschnitzt hatte, wirkte sein Gesicht seltsam böse, sie hatte regelrecht Angst vor ihm. «Mir war peinlich», erklärt sie nun dem Mädchen, «dass ich als Kind einen Kopf geschnitzt hatte, der genau so aussah wie die furchtbaren Gesichter der Juden, die die Nazis überall zeigten».

Es ist berührend zu lesen, wie Thomas Hettche den Zauber beschreibt, den Marionetten auch auf Erwachsene ausüben, selbst auf völlig desillusionierte Frontsoldaten. Er betont dabei das Schwerelose, den schwebenden Gang der Holzpuppen oder deren blitzschnelles Verlöschen und Wiederbeleben einzig durch die Fäden. Das Besondere aber sei die innige Beziehung zwischen den Figuren und dem Herzen des Zuschauers, und dieser «Herzfaden» sei eben nicht sichtbar wie die Fäden zur Steuerung der Bewegungen. Er verbinde vielmehr unsichtbar die Figuren und ihr Publikum zu einer seelischen Einheit, die mühelos Zeit und Raum überwindet.

Es sind aber nicht die Puppen, die im Mittelpunkt dieses Romans stehen, sondern die Menschen, die diese wunderbare Spielstätte geschaffen und weltberühmt gemacht haben, nicht zuletzt durch die von ihnen produzierte erste deutsche Fernsehserie im Hessischen Rundfunk. «Wir müssen die Herzen der Jugend erreichen, die von den Nazis verdorben wurden. Und die Fäden, mit denen wir sie wieder an Kultur anknüpfen, das sind die Fäden meiner Marionetten» erklärt der Theatergründer seine Motive. Der Roman bietet gerade auch durch die Märchen vielfältige Deutungsmöglichkeiten, die allegorischen Verweise auf die Schuld eines ganzen Volkes sind unübersehbar. Einmal kommt da sogar Thomas Mann zu Wort, der in einer von der Familie heimlich abgehörten BBC-Sendung aus dem Exil zu den Deutschen spricht und sie auf die in ihrem Namen verübten Verbrechen hinweist. Im Interview hat Thomas Hettche den ehemaligen Schauspieler und Theatergründer Walter Oehmichen wie folgt zitiert: «Er wolle nicht mehr mit Menschen spielen, sondern mit Puppen, weil die ehrlicher seien». Treffender kann man kaum ausdrücken, um was es letztendlich geht in diesem Roman.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Serpentinen

Der Schwarze Gott

Mit seinem neuen Roman «Serpentinen» hat der Schriftsteller Bov Bjerg eine düstere Thematik aufgegriffen, es geht um scheinbar schicksalhaft von Generation zu Generation weitervererbte Depressionen, die im Suizid enden. Kein Wohlfühlroman also, sondern eine bedrückende Schilderung des verzweifelten Versuchs eines Vaters, der unheilvollen familiären Prägung durch einen intensiven Prozess des Erinnerns zu entgehen und damit auch seinen Sohn aus dieser vermeintlichen Teufelsspirale zu befreien.

Der Ich-Erzähler Höppner ist ein auf Statistik spezialisierter, hoch angesehener Soziologie-Professor aus Berlin, der mit der deutlich jüngeren Rechtsanwältin M verheiratet ist und mit ihr einen namenlos bleibenden, siebenjährigen Sohn hat. In seiner Familie haben die väterlichen Ahnen allesamt Suizid begangen. «Urgroßvater, Großvater, Vater. Ertränkt, erschossen, erhängt. Pioniere zu Wasser, zu Land und in der Luft» heißt es im Roman. Er leidet selbst unter schweren Depressionen, hat seine Therapie aber als nutzlos abgebrochen. Stattdessen reist er mit seinem Sohn nun auf die Schwäbische Alb, zu den Schauplätzen seiner Kindheit. Diese Reise in die Vergangenheit, deren Sinn «der Junge», in der Geschichte ebenso unpersönlich wie die Mutter benannt, einfach nicht begreift. «Um was geht es?» lautet denn auch seine häufig wiederholte Frage. Was für Höppner als Rettungsanker aus seiner Psychose dienen soll, um diese fatale Schicksalskette zu durchbrechen, ist für den Sohn als so gar nicht kindgerechte Reise eher eine Zumutung, die er jedoch geduldig erträgt.

Bei Churchill und Chaplin, prominente Leidensgenossen des Ich Erzählers, der ‹schwarze Hund› genannt, das anfallartige Auftreten schwerer Depressionen nämlich, wird hier im Roman als «Schwarzer Gott» bezeichnet. Die Autotour mit dem Sohn soll dazu dienen, sich von diesem Familienfluch zu befreien, seine dadurch geweckten Erinnerungen sind jedoch eher dazu geeignet, ihn herunter zu ziehen als aufzurichten. Es kommt so weit, dass er völlig verzweifelt nach abrahamschem Vorbild sogar zur Opferung seines Sohnes bereit ist, ihn mit einem Kissen ersticken will. In 45 manchmal nur aus wenigen Zeilen bestehenden Kapiteln berichtet Bov Bjerg anekdotisch von vielen prägenden und zumeist unerfreulichen Ereignissen im Leben Höppners. Dabei wird oft unvermittelt zwischen verschiedenen Zeitebenen hin und her gependelt, der Buchtitel scheint sich damit eher auf den kurvenreichen Plot zu beziehen als auf die psychischen Verwerfungen bei der verzweifelten Identitätssuche, über die da berichtet wird. «Diese Scheißwut der Scheißväter, gegen sich, gegen alle. Die Kinder mussten für die Kindheit ihrer Väter büßen. Ich war auch nur ein Scheißvater» sinniert der selbstzweiflerische Ich-Erzähler in seinem permanenten Lebensschmerz. Seine ergebnislosen Grübeleien münden in den Satz: «Als ob ein Suizid das Ergebnis einer logischen Operation wäre», man kann ihn als Beweis für das ständige Ringen des Erzählers mit den Dämonen deuten, die ihn im Traum heimsuchen.

Die schonungslose Offenheit, mit der hier eine Familientragödie beschrieben wird, offenbart auf eindrucksvolle Weise die Bodenlosigkeit einer tückischen Psychose, die zur Obsession des Ich-Erzählers geworden ist und all sein Denken bestimmt. All das wird jedoch stilistisch unterkühlt in einer sperrigen Prosa ziemlich schleppend erzählt. Man muss sich als Leser besonders am Anfang geradezu quälen, um irgendwie hinein zu kommen in diese von weitgehender Emotionslosigkeit dominierte, melancholische Geschichte. Als beste Momente beim Lesen erweisen sich die giftigen Kommentare über die Nazivergangenheit des Vaters sowie die vehementen Ausfälle gegen eine zeitgenössische, akademische Bourgeoisie, die sich zum Stehempfang trifft und der Höppner als Professor ebenfalls angehört. Wenn da nur nicht immer auch der Schwarze Gott im Hintergrund lauern würde, den er mit viel Alkohol vergebens zu bekämpfen sucht, – wie schon seine Väter!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Ullstein Berlin