Der Nachtstimmer

Schwachsinn im Buch der Bücher

Der Roman des niederländischen Schriftstellers Marten ’t Hart mit dem seltsam anmutenden Titel «Der Nachtstimmer» ist sein bislang letztes, auf Deutsch erschienenes Buch. Der in Holland sehr beliebte Autor ist für seine originellen Themen und die unkonventionelle Art seines Erzählens bekannt. Er nimmt auch in diesem Roman kein Blatt vor den Mund, wenn er geradezu lustvoll Gesellschaft und Religion kritisiert, was in stoischer Beharrlichkeit zu oft komischen, den Lachmuskel strapazierenden Dialogen und Szenen führt. Der selbst Orgel spielende Schriftsteller dringt in diesem Porträt eines professionellen Stimmers von Kirchenorgeln tief ein in die konstruktiven Details und die akustischen Eigenschaften dieser riesigen, sehr besonderen Musikinstrumente. Zahlreich sind aber auch seine durchaus bereichernden erzählerischen Ausflüge in die klassische Musik, die im Roman als die definitiv einzig wahre Form von Musik bezeichnet wird.

Gabriel Pottjewijd, der etwa fünfzigjährige Ich-Erzähler des Romans, reist im Auftrag seiner Firma in eine kleine Hafenstadt Südhollands, um dort eine der seltenen Garrels-Orgeln zu stimmen. Vor Ort muss er feststellen, dass die Kirche in unmittelbarer Nähe zu einer Schiffswerft liegt, aus der an allen Wochentagen ein Höllenlärm dringt, zu dem auch noch Geräusche aus dem lebhaften Betrieb im Hafen hinzukommen. Unter diesen Umständen ist ein Stimmen der Orgel beim besten Willen nicht möglich, er muss auf die Nacht ausweichen und auf Wochenenden, an denen der Betrieb ruht. Der Küster weist ihn darauf hin, dass meist ein junges Mädchen aus dem Ort als Helferin beim Stimmen fungiert, was die Arbeit erheblich erleichtert, weil sie mit großer Geduld stundenlang die jeweils gewünschten Töne anschlägt. Dadurch kann er sich in dem riesigen Instrument seiner zum Teil artistischen Arbeit widmen und muss nicht immer zur Tastatur zurück, um ein Bleigewicht auf die nächste Taste zu legen, deren Pfeife er jeweils anschließend stimmen will.

Tatsächlich ist Sanna pünktlich zur Stelle, begleitet von ihrer brasilianischen Mutter Gracinha, der attraktiven Witwe eines Schlepper-Kapitäns, deren Schönheit den drögen Gabriel fast umhaut. Sanna wird von den Leuten als geistig zurückgeblieben bezeichnet, sie spricht kaum mal ein Wort, vor allem aber absolut kein Holländisch, obwohl sie es in der örtlichen Schule gelernt hat. Gabriel hält sie für sehr begabt, und als er mit seinem älteren Bruder telefoniert, der Kinderpsychiater ist, vermutet der per Ferndiagnose eine autistische Störung. Das sei typisch für hochbegabte und kontaktarme Menschen, könne sich bei ihr mit dem Älterwerden aber bessern oder auch total verschwinden. Die Mutter erweist sich von Anfang an als Femme fatal, atemberaubend schön, von allen Männern begehrt, andererseits ist sie aber auch eine wahre Xanthippe, oft schlechtgelaunt und aggressiv. Denn Gracinha hadert mit dem Schicksal, ihrem Mann in die triste holländische Hafenstadt mit dem immergleichen, schlechten Wetter gefolgt zu sein. Durch die Arbeit in der Kirche treffen sie sich nun täglich, und schon bald sagt sie Gabriel ganz unverblümt auf den Kopf zu, dass sie ihm ja wohl offensichtlich den Kopf verdreht habe, sie ihn aber keinesfalls sexy finde, er sei einfach nur ein stink-langweiliger Nerd. Und als er einen anonymen Drohbrief bekommt, jemand ihn in das Hafenbecken schubst und zu guter Letzt in der Kirche auf ihn geschossen wird, erweist er sich auch noch als ziemlicher Angsthase.

Vordergründig wird in diesem in den 1980er Jahren spielenden Roman eine Liebesgeschichte voller Hindernisse erzählt, bei der sich Gefühl und Verstand diametral gegenüber stehen. Genau so steht auf der gesellschaftlichen Ebene eine dumpfe Fremden-Feindlichkeit dem frömmelnden Christentum entgegen. Der Autor rechnet in seiner umgangssprachlich üppig angereicherten Geschichte unverblümt mit der Bigotterie der Leute ab, wenn er seinen bibelfesten Protagonisten – erkennbar genüsslich – Schwachsinn und Widersprüche im Buch der Bücher darlegen lässt.

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

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