Mendelssohn auf dem Dach

Die einzig wahre Verheißung

In seinem letzten, 1960 posthum erschienenen Roman «Mendelssohn auf dem Dach» beschreibt der heute weitgehend vergessene tschechische Schriftsteller Jiří Weil die Zeit nach der Annexion von Böhmen und Mähren durch die Deutschen. Der titelgebende jüdische Komponist stand neben vielen anderen als Statue auf dem Dach des zum «Haus der deutschen Kunst» umgewidmeten Konzerthauses Rudolfinum in Prag. Das war dem berühmt-berüchtigten Reichsprotektor Reinhard Heydrich natürlich ein Dorn im Auge, sie musste auf seinen Befehl hin umgehend entfernt werden. Als Leitmotiv zieht sich somit gleich von Beginn an die Musik durch die grauenvolle Geschichte der kleinen Leute, aus deren Opfer-Perspektive vom Wüten der Besatzer berichtet wird, ein Fanal geradezu menschlichen Schöngeistes auch in Zeiten dieser unsäglichen Barbarei. Der jüdische Autor hat Terror dieser Art nicht nur unter den Nazis selbst erlebt, er hat auch während der stalinistischen Säuberungen unter Verfolgung gelitten und war ab 1949 bis kurz vor seinem Tod mit einem Publikationsverbot belegt.

Im Stil eines Schelmenromans wird im ersten Drittel von der Entfernung des steinernen Juden erzählt, die sich insofern als unerwartet schwierig erweist, weil sich an den aufgestellten Statuen keine Namensschilder befinden. Der einfältige SS-Mann, der diesen Auftrag auszuführen hat, ist nicht schwindelfrei und traut sich nicht aufs Dach hinaus, seine beiden jüdischen Helfer aber, nicht minder ungebildet, sind nicht in der Lage, Mendelssohn Bartholdy zu identifizieren. Als er sie anweist, die Statue mit der größten Nase zu suchen, das müsse nach der herrschenden Rassenideologie der gesuchte Jude sein, hätten sie beinahe Richard Wagner umgerissen, der hatte nämlich die größte Nase unter den dort oben versammelten Musikern. Nach einigem Hin und Her und unter viel Gebrüll in den beteiligten NS-Dienststellen findet sich letztendlich dann eine tschechische Musikerin, die Mendelssohn eindeutig identifiziert. Die beiden Helfer beschießen spontan, die Statue nicht zu zerschlagen, sondern nur umzustürzen, so könne man sie später mal wieder aufstellen, wenn sich die Zeiten geändert haben, – ein verdeckter Akt des Widerstandes.

Schon in dieser einleitenden Episode dominiert neben der amüsanten, für die beteiligten NS-Schergen jedoch äußerst blamablen Aktion sinnloser Kunstschändung das bedrohliche Unheil für die tschechische Bevölkerung und die ständige Todesangst der von Deportation bedrohten Juden. In einem perfiden System werden Tschechen als Hilfskräfte in die Verwaltung mit einbezogen, müssen bei der Deportation der jüdischen Bevölkerung mitwirken, deren beschlagnahmten Besitz in Lagerhäusern sortieren und für das «Tausendjährige Reich» verwerten. Jiří Weil erzählt vom Wüten der Ursupatoren von Gestapo, SS und Wehrmacht, von dessen Auswirkungen auf das Leben in Prag, vom Widerstand beherzter Tschechen und von dem sensationellen Attentat, mit dem der vom «Führer» persönlich mit der «Endlösung der Judenfrage» beauftragte Massenmörder Reinhard Heydrich seine gerechte Strafe erhielt. Er erzählt vom Ghetto in Theresienstadt, das als KZ und als Transitstation für die Vernichtungslager im Osten gedient hat, und von den Hoffungen, die nach Stalingrad und dem Vormarsch der Roten Armee in all der Ausweglosigkeit aufzukeimen beginnt, auch wenn Prag schließlich als «judenfrei» nach Berlin gemeldet wird und das herbeigesehnte Ende noch lange auf sich warten lässt.

In einfach strukturierten, kurzen Sätzen entwirft Jiří Weil ein Bild des Grauens, bei dem Gut und Böse allzu klar unterschieden wird. Die Deutschen sind ausnahmslos brüllende Bösewichte übelster Sorte, Tschechen und Juden versuchen in ihrer Not, irgendwie zu überleben, wobei sie sich selbstlos gegenseitig beistehen. Tief betroffen von seiner Erzählung verzeiht man dem Autor diese arg idealisierende Darstellung in einem Roman, der die Kunst als einzig wahre Verheißung preist.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Wagenbach

Der tragikomische Kafka

Wagenbach, prononcierter Kafka-Kenner und ehemaliger Verlagsleiter des gleichnamigen Verlages hat sich Zeit seines Lebens über „die Schulweisheit vom dunklen Kafka geärgert“ und immer wieder einen Kafka voll hintergründigem Humor, unerwarteter Wendungen, mit einer Vorliebe für das Paradoxe und mit einer Neigung zur Ironie des Absurden ausgegraben und hervorgekehrt. Dies ist auch das Anliegen dieser Auswahl an Auszügen aus seinen Romanen und Kurzgeschichten, die der Herausgeber hier zusammengestellt hat.

Der tragikomische Kafka

In „Der Verschollene“ – besser bekannt unter dem Titel „Amerika“ kommt Kafkas Hang zu spitzbübischem Humor besonders gut zur Geltung handelt das Romanfragment doch von dem sechzehnjährigen Karl Roßmann, der einem modernen Simplicissmus gleich die Tücken der Neuen Welt kennenlernt. Ein Auszug aus „Der Verschollene“ ist in vorliegender Publikation unter dem Titel „Slapstick“ abgedruckt und erzählt die Episode von der Reinigung der Wohnung der Opernsängerin Brunelda in gewohnt süffisant-witzigem Ton, so wie wohl auch Wagenbach „seinen“ Kafka gerne sieht. Aber auch sonst gibt es mannigfaltige Beweise für Wagenbachs These von einem „lustigen Kafka“. Man erinnere sich nur an den „Ein Bericht für eine Akademie“ in dem Kafka – oder der Erzähler – in die Rolle eines Affen schlüpft, um von seiner Menschwerdung zu erzählen: „Verzicht auf jeden Eigensinn war das oberste Gebot, das ich mir auferlegt hatte; ich freier Affe, fügt mich diesem Joch.“

Kafka voller Humor

Eine andere Geschichte erzählt von der tragikomischen Sorge des Trapezkünstlers, dem die eine Stange nicht reicht und der sich zu viele Gedanken macht. „Erstes Leid“ ist eine Episode aus seinem Leben übertitelt, die von seiner Weigerung vom Trapez zu steigen erzählt und seinen Impresario ernsthafte Sorgen bereitet, selbst als er ihm endlich eine zweite Stange und Trapez besorgt. In einem Ministeriums- oder Versicherungsbüro wiederum spielt die Geschichte von dem Beamten, dem seine Kollegen die täglichen Aktenberge neiden. „Warum wurde er gerade hier so unbeherrschbar müde, wo niemand müde war oder wo vielmehr jeder und immerfort müde war, ohne das dies aber die Arbeit schädigte, ja es schien sie vielmehr zu fördern“. Wen diese Worte vom witzigen Kafka nicht überzeugen, der kann sich in vorliegender Anthologie mittels der anderen Auszüge aus Kafkas Werk gut Appetit machen auf das eigentliche große Werk Kafkas, das jeder einmal gelesen haben sollte.

Franz Kafka
Ein Käfig ging einen Vogel suchen
Komisches und Groteskes
Zusammengestellt von Klaus Wagenbach
SALTO. 2018
144 Seiten. 11 x 21 cm. Rotes Leinen. Fadengeheftet. Gebunden mit Schildchen und Prägung
18,– €
ISBN 978-3-8031-1335-1
Wagenbach Verlag


Genre: Anthologie, Humor, Komik, Kurzgeschichten
Illustrated by Wagenbach

Faber

Vom Wunsch nach intensivem Leben

Schriftsteller und Philosoph in einem ist der junge Franzose Tristan Garcia, dessen neuer Roman «Faber» nicht nur formal ein Meisterwerk ist als furioses Spiel mit Erzählperspektiven und Zeitebenen. Die in sechzig Kapiteln erzählte Story ist in ihren zwei retrospektiven Teilen die Coming-of-Age-Geschichte eines charismatischen Schülers und seiner beiden Freunde, die in ihrer Rebellion gegen die dröge Mittelmäßigkeit der Gesellschaft ein unzertrennliches Trio bilden. In die narrativ als Klammer fungierende, dreiteilige Gegenwartshandlung, deren fesselndes Thema eine späte Rache ist, schieben sich zunehmend phantastische Elemente hinein, der Unruhestifter mit immanentem Todestrieb mutiert zum Dämonen, er wird «Der Zerstörer», wie es im Untertitel heißt.

Mehdi Faber, ein Waise maghrebinischer Herkunft, kommt als Neuer in eine Klasse der Schule einer fiktiven französischen Kleinstadt. Der ebenso intelligente wie unnahbare Junge, der darauf besteht, nur Faber genannt zu werden, brilliert als Schüler und mischt völlig unerschrocken auch die Strukturen der herrschenden Hackordnung im Schulhof auf. Als Rebell, den eine geheimnisvolle Aura umgibt, wird er schnell zur unumschränkten, von allen bewunderten Führungsfigur unter den Pennälern, eine Lichtgestalt geradezu. Zwei Außenseiter, die toughe Madeleine und der schüchterne Basile, helfen ihm anfangs dabei, in ihrer Adoleszenzphase bilden sie mit ihm eine sich ergänzende und wie Pech und Schwefel zusammenhaltende Clique, ein Trio mit dem intellektuell deutlich überlegenen Faber als Mentor. Im zweiten der beiden retrospektiven Teile des Romans eskaliert das Geschehen in einer offenen Rebellion, bei der 1995 unter Fabers Führung die während längerer Streiks und öffentlichem Tumult von Schülern besetzte Schule zur «Autonomen Zone» erklärt wird. Als diese Unruhen ihr Ende finden und die Besetzung schließlich aufgegeben werden muss, flieht Faber für immer aus der Stadt.

Der in fünf Teilen zeitlich verschachtelt und abwechselnd aus der Ich-Perspektive seiner drei Protagonisten erzählte Plot beginnt mit «Er kommt zurück», in dem die inzwischen verheiratete Madeleine den seit fünfzehn Jahren verschwundenen, total verwahrlosten Faber aus seinem Versteck in den Pyrenäen zurückholt in ihre Kleinstadt. Basile und sie hatten Briefe mit einem geheimnisvollen Code von Faber erhalten, der einst zwischen ihnen verabredet wurde als Signal, wenn einer je Hilfe bräuchte. Im mittleren Teil «Er ist da» kommt es zu Problemen mit dem unzugänglichen, total verrückt wirkenden Faber, der sich nach dieser langen Zeit nicht mehr zurechtfindet in seiner Stadt, dem auch die inzwischen angepasst lebenden Gefährten von einst fremd geworden sind. Im letzten Teil «Er geht fort» kommt es zu einem rätselhaften, mystischen Showdown. Mehr soll hier aber nicht verraten werden von dieser äußerst spannenden Geschichte, – in der auch gemordet wird übrigens!

Am Ende tritt überraschend Tristan Garcia in persona auf und berichtet davon, dass er das Manuskript eines Romans von Basile gefunden habe, welches von ihm leicht überarbeitet genau den Text darstelle, den der Leser da gerade in Händen halte. Und er sinniert: «Wie der Gott der Christen eines Tages Mensch geworden ist, so hat vielleicht der Teufel eines Tages einen Körper und einen Geist gefunden. Er war nicht das Böse an sich, aber der Verfall und die Zerstörung, für die anderen und für sich selbst. Von diesem Standpunkt aus kann man annehmen, Faber sei ein Teufel wider Willen, eine vollkommen negative Macht, aber in menschlicher Gestalt». Das verfehlte Leben der Protagonisten ist Auslöser für ein bedrückendes Geschehen, das, im Stil der «Fantastischen Literatur» erzählt, von seinem Autor in einem Schwebezustand belassen wird. Der wiederum dem Leser viel Freiraum gibt beim Nachsinnen über das Gelesene, über Utopien, – und über den hoffentlich nicht ganz utopischen Wunsch nach intensivem Leben.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Wagenbach

Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens

Wenn Mauern sprechen könnten

Wer wie die junge deutsche Schriftstellerin Juliana Kálnay einen surrealistischen Debütroman vorlegt, geschrieben unter Hintanstellung so ziemlich aller narrativen Usancen, dem ist die Aufmerksamkeit einer kleinen, vom Mainstream übersättigten Leserschaft gewiss. Denn schon der Titel «Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens» macht ja neugierig, das Feuilleton zudem war ziemlich beeindruckt, alles Indizien dafür, die Lektüre könnte sich lohnen.

Ein vierstöckiges Mietshaus, von dem wir nur wissen, dass es die 29 als Hausnummer trägt, verkörpert das stilistische Ordnungsprinzip einer Sammlung von Prosaminiaturen, für die es außerdem auch als Stein gewordener, erzählerischer Kulminationspunkt dient. Im ersten Kapitel erfahren wir unter der Überschrift «Prolog einer Bewohnerin», das Rita an dem Tage geboren wurde, an dem ihre Eltern in dieses Haus gezogen sind. «Manch einer hat Dinge erlebt in diesem Haus, die andere vielleicht als ungewöhnlich betrachten würden», erzählt sie uns als eine der Erzählstimmen, als jemand, der «schon immer hier war», und in der Tat fungiert sie als eine Art ideelle Hauswartsfrau, die (fast) alles weiß, was Haus 29 betrifft.

Das hier zum Roman mutierte Skizzenbuch der Autorin ist ein Füllhorn surrealer Prosaschnipsel, die lose miteinander verbunden Phantastisches erzählen über das Geschehen in einem magischen Gebäude. In diesem Roman des Verschwindens ist Maia als erste verschwunden, wie ein Maulwurf hatte sie sich immer Löcher gegraben und darin versteckt, man musste oft nach ihr suchen, – diesmal allerdings taucht sie nicht wieder auf. Und Don verschwindet ebenfalls, er verwandelt sich nämlich ganz langsam in einen Baum, den seine Frau Lina irgendwann heimlich in einen Topf einpflanzt und auf den Balkon stellt, wo er prächtig gedeiht. Wo er Früchte hervorbringt, die sie einkocht, wo er Blätter abwirft, die sie als Füllung für ihre Bettbezüge benutzt, an den sie sich immer wieder liebevoll anschmiegt, mit dem sie sogar beglückenden Sex hat. Ein anderes Kind frisst immer wieder Löcher in die steinernen Wände und verschwindet schließlich für immer durch ein großes Loch in der Außenwand. Ein Mitbewohner richtet es sich im Fahrstuhl häuslich ein, er wohnt dort zufrieden auf engstem Raum, – zum Waschen darf er das Bad eines anderen Bewohners mitbenutzen. Zu diesem Panoptikum skurriler Figuren gehört auch der Fotograf im Souterrain, der mit seiner Familie in völliger Dunkelheit wohnt und von niemandem je gesehen wurde, die Besitzerin eines Aquariums außerdem, deren Goldfische immer wieder selbstmörderisch zu ihr ins Bett springen, oder auch die Zwillinge, von denen niemand weiß, ob es wirklich zwei sind oder doch nur einer. Die Gruppe der Kinder macht ständig hinter dem Haus ein großes Grillfeuer, sie bringen sich immer wieder trophäengleich Brandwunden bei. Und dann gibt es noch eine Gruppe besonderer Mitbewohner: «Die chronisch Schlaflosen haben einen Pakt. Sie zählen hundert Augen, sind leise und werden ungemütlich, wenn es sein muss. Selten schlafen sie ein, und sobald es dunkel wird, steht mindestens einer von ihnen am Türspion, ein anderer auf dem Balkon».

Das Vorstellungsvermögen der Leser wird ziemlich auf die Probe gestellt in diesem surrealen Roman, in dem sehr oft das Licht ausgeht als unheilvolle Metapher. Seine mit blühender Fantasie beschriebenen Schattenwesen lassen die Grenzen zwischen Mensch, Tier, Pflanze und unbelebter Natur, – hier also dem Haus 29 -, weitgehend verschwinden. Mit fein durchschimmernder Ironie eröffnet die Autorin weite Assoziationsräume für ihre rätselhaften Phänomene. Konventionell orientierte Leser werden sich mit Grausen abwenden, das Buch als Vexierbild verdammen, experimentierfreudige werden es als allfällige literarische Horizonterweiterung freudig goutieren. «Wenn Mauern sprechen könnten», diese Vorstellung hatte ja doch schon immer einen unwiderstehlichen Reiz, – hier scheinen sie es tatsächlich zu können!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Wagenbach

Berlin. Eine literarische Einladung

Berlin: Eine literarische Einladung

Berlin: Eine literarische Einladung

Ich gestehe zu, dass Libyen ausgenommen, wenige Staaten sich rühmen können, es uns an Sand gleich zu thun“, meinte Friedrich der Große 1776 über seine Hauptstadt.Das vorliegende Format, „die literarische Einladung“, ist aus Praktikabilitätsgründen für die reisenden BenutzerInnen stets auf 144 Seiten beschränkt, was sicherlich schwer fällt eingehalten zu werden, da es so viele spannende Geschichten um die jeweiligen Städte gibt. Inzwischen sind schon 23 solche literarischen Einladungen in die schönsten Städte Europas und auch der Welt ergangen und diesen Sommer ist auch endlich die deutsche Hauptstadt dran: der Zeitraum aus dem die Texte zu Berlin stammen umfasst 60 Jahre, also von der Teilung bis zur Wiedervereinigung. Die AutorInnen aus Ost-, West- und ganz Berlin haben teilweise sogar noch unveröffentlichte Texte beigesteuert, darunter welche von Fatma Aydemir, Jurek Becker, Wolf Biermann, Volker Braun, Jan Peter Bremer, Tanja Dückers, Günter Grass, dem GRIPS-Theater, Annett Gröschner, Durs Grünbein, Katharina Hacker, Christoph Hein, Monika Maron, Thomas Melle, Heiner Müller, Katja Petrowskaja, Tilman Rammstedt, Ingo Schulze, Anke Stelling, Ton Steine Scherben, David Wagner, Christa Wolf und anderen. Die Herausgeberin Susanne Schüssler ist seit 1991 beim Wagenbach Verlag und hat auch selbst schon Bücher im Verlag ihres Mannes publiziert.

Metropolis und Jericho

Für Brigitte Reimann ist Berlin eine „ziemlich unappetitliche Sorte Babel“, aber die Linden düften dort süß. „Metropolis. Metropole der Macht“ nennt Christa Wolf Berlin in ihrer „Hadesfahrt“, für Durs Grünbein ist Berlin „der ganz große Bluff, ein täglich gebrochenes Versprechen“, Metropolis und Jericho. Er sieht Berlin als „Paradies für Hochstapler und Händler der heißen Luft“, ist vielleicht deswegen dort alles so „dufte“? Schließlich ist sogar die gute Berliner Luft sprichwörtlich, weht dort doch immer ein leichter Wind. Tanja Dückers moniert die Leerstellen der Stadt und singt ein Loblied auf die „Brachen“, die heute – in der gesamtdeutschen Hauptstadt – leider zusehends verschwinden. Günter Grass berichtet von den Mauerspechten, Katja Petrowskaja macht sich Gedanken darüber, warum in Berlin ankommende Reisende mit „Bombardier Willkommen in Berlin“ begrüßt werden und für wen die „Bomben“ denn wohl bestimmt wären. Günter Kunert definiert ein- und für allemal, worum genau es sich bei einem „Berliner Zimmer“ handelt und Ingeborg Bachmann hat sogar 1965 schon darüber geschrieben. Auch zwei Lieder über die Mauerstadt werden zitiert, das eine aus 1972 von den berühmten Ton Steine Scherben, das andere aus den Achtzigern von Ideal, „Rauch-Haus-Song“ und „Berlin“ fangen zwei wundervolle Stimmungsbilder der Stadt ein und sind so typisch für Berlin wie die Stulle oder der Türkenmarkt am Maybachufer. Aufhorchen lässt ein Beitrag von Adolf Endler, der schon 1981 (!) über die Zugerasten in Prenzlberch (sic) schimpft, dass es „een ja kalt den Rücken runterlooft“. Einen köstlichen WG-Dialog führt Anke Stelling in „Gemeinschaftsfläche“ und auch Peter Schneiders „Mauerspringer“ ist zum Brüllen komisch, wenn es nicht tatsächlich genau so passiert wäre.

Exkursionen in das alte und neue Berlin

In Acht nehmen sollte man sich in Berlin übrigens von den Kellnerinnen, meint Jakob Hein, denn die ständen den Kellnern von Wien in ihrem schlechten Ruf in nichts nach. Am eindringlichsten ist aber die Geschichte von Ingo Schulze, dessen Protagonist eine „Exkursion nach Berlin West“ macht und schon hinter dem Brandenburger Tor Heimweh bekommt. Mit beissendem Spott und gleichzeitig voller Ernsthaftigkeit schildert er darin die Vorzüge des kommunistischen Systems und erinnert daran, was wir seither alles verloren haben. Und damit meine ich jetzt nicht den Sand. „und wenn man wieder hinaussteigt“, schreibt Tilman Rammstadt über das Ausflugsziel Flughafensee Tegel, „wartet am kleine Strand eine stattliche Wildsau und schaut einen teilnahmslos an.“

Susanne Schüssler (Hrsg.), Linus Guggenberger (Hrsg.)
Berlin. Eine literarische Einladung
SALTO. 2017
144 Seiten. 11 x 21 cm. Rotes Leinen. Fadengeheftet. Gebunden mit Schildchen und Prägung
ISBN 978-3-8031-1328-3
Wagenbach Verlag
17,– €


Genre: Erinnerungen, Kulturgeschichte, Kurzprosa, Reiseführer
Illustrated by Wagenbach

Terra!: Science Fiction aus Bella Italia

terraIm Jahr 2157 ist die Erde nach sechs Weltkriegen endgültig unbewohnbar geworden. Zumindest auf der Oberfläche, denn eine neue Eiszeit hat den Planeten überzogen. Doch dann gelangt eine mysteriöse Botschaft in die Kommandozentrale der sineuropäischen Föderation: es gibt eine „Erde 2“. Die überbordende und schaumkrönende Sprachfantasie und Fabulierei des italienischen Autors Stefano Benni in eine andere Sprach zu übersetzen ist sicherleich keine leichte Aufgabe, obwohl sich der 1983 erstmals erschienene Science Fiction Roman an einigen bekannten Vorbildern orientiert, die auch in der deutschsprachigen Literatur bekannt und verbreitet sind. In „Terra“ geht die Welt jedenfalls gleich im Prolog unter und Eiswürfel aus Coca Cola sind aus einem gezuckerten Schwarzmeer zu gewinnen, da die Welt daraufhin ein Riesendurst befällt: es gehe die Sage, daß manche Familie sogar ihren Swimmingpool leersoff. Radio „California über alles“ (Dead Kennedys) verkündet die Parole der Apokalypse „Schwitzt und tanzt!“ und es folgen Weltkrieg 3-6, nach denen die Welt endgültig unbewohnbar wird, nicht aber das Universum.

Terra: Freude an der Apokalypse

Das Gute an der Apokalypse: es gibt keine Arbeit mehr. Paris lebt – zwar unter der Erde in U-Bahn und Kanalisationsschächten, aber es lebt. Der Raumhafen Mitterrand und der Eiffelturm unter seiner Klarsichtkapsels sind immer noch weithin sichtbare Symbole der Macht, auch wenn über die Bildschirme der Metro Direktübertragungen von Morden zur Alltäglichkeit werden. Im Louvre, dem einst größten und schönsten Museum der Welt, gibt es nur mehr eine Snackbar namens „Mona Lisa“, in der die Kellnerinnen wie La Giocanda zurechtgemacht sind und die Kellner wie Tizians Mann mit dem Handschuh. Auf der einen Seite gibt es die Sineuropäische Föderation, auf der anderen das Aramerussische Reich, das aus Arabern, Amerikanern und Russen besteht. Es gibt natürlich auch immer noch das Milieu – in Sektor 17, genannt „Die Wolke“ herrschen harte Drogen und Prostitution. Die Gesetze der Föderation sind hier außer Kraft und das Publikum wird gebeten, sich nach dem „nächtlichen Überlebenskodex“ zu richten.

Kroko Rock mit Dylaniew

Deggu N’Gombo und der Kroko Rock und der alte chinesische Weisen Fang spielen in Stefano Bennis fantasievollem Weltraumabenteuer ebenso eine Rolle wie Van Cram der Wikinger oder das zwölfjährige Computergenie Frank Einstein. Die Piloten des Raumschiffs Calalbakrab, John Wassiliboyd und Igor Dylaniew, erklären sich einverstanden 20 Pingpongtische auf der Calalbakrab mitzunehmen, denn sie haben ohnehin schon einen Golfplatz, eine Discothek, Kinos mit 1000 Plätzen und drei Swimmingpools an Bord. Für Divertissements ist also auch bei diesem Weltraumabenteuer reichlich gesorgt. Die moderne Fabel „Terra“ von Stefano Benni ist Krimi und Märchen, Comic, Abenteuer und Science-Fiction-Roman, Fantasy und politische Satire zugleich. Ob es einem der drei ausgesandten Raumschiffe gelingen wird, den traumhaften Planeten „Erde 2“ zu entdecken, erfahren die Leserinnen und Leser nur dann, wenn sie die Zukunft in der Vergangenheit sehen. Mit „Terra!“ gelang Benni 1983 auch der internationale Durchbruch, denn seine Mischung aus Märchen, Fabel und Comic in einem satirischen Science Fiction Roman verpackt fand besonders in den von der Gefahr des Atomkriegs gezeichneten Jahrzehnt reißenden Absatz. Vier Jahre zuvor war Douglas Adams’ Hitchhikers Guide to the Galaxy erschienen und Bennis „Terra“ kann durchaus als europäische Version einer atomaren Apokalypse interpretiert werden.

Stefano Benni
Terra!
Aus dem Italienischen von Pieke Biermann
WAT [771]. 2017
432 Seiten. 12 x 19 cm
Buch 16,90 € / E-Book 14,99 €
ISBN 978-3-8031-2771-6
Wagenbach Verlag


Genre: Science-fiction
Illustrated by Wagenbach

Die Gärten der Finzi-Contini

bassani-1Alles verloren, nichts verloren

Von einer hohen Mauer umgeben liegt das hochherrschaftliche Anwesen mit dem als Domus magna bezeichneten Herrenhaus und seiner parkartigen Gartenanlage, auf deren gewaltige Dimensionen der Plural im Titel des Romans «Die Gärten der Finzi-Contini» schon hindeutet. Dieses Buch von Giorgio Bassani gehört zum Zyklus des «Romans von Ferrara», es trägt unverkennbar autobiografische Züge mit sehr vielen Parallelen in den Biografien von Ich-Erzähler und Autor.

Die Geschichte spielt sich in der Zeit des Faschismus ab, kurz vor dem Ausbruch des zweiten Weltkriegs, als durch die Rassegesetze von 1938 die Juden in Italien plötzlich verschiedenen Pressionen ausgesetzt sind, die zunächst nur vom Vorlesungsverbot an der Universität bis zum Ausschluss aus dem Tennisverein reichen. Daraufhin öffnet die bis dahin von der Öffentlichkeit weitgehend abgeschirmt lebende jüdische Familie Finzi-Contini ihren privaten Tennisplatz für Freunde ihrer erwachsenen Kinder, und so kommt der namenlos bleibende Ich-Erzähler wieder mit Micòl, der schönen und klugen Tochter des Hauses zusammen, mit der er einst nur eine kurze Begegnung im Schulkindalter hatte. Die beiden verstehen sich blendend, führen viele anregende Gespräche miteinander, als er aber verliebt ungeschickte Annäherungsversuche unternimmt, bleibt Micòl kühl und abweisend, einem zaghaften Kuss gar weicht sie aus. Wohin soll das denn führen, fragt sie irritiert, sollen wir uns etwa verloben? Standesunterschiede und wohl auch seine angestrebte Profession als Poet stehen dem, unausgesprochen allerdings, offensichtlich entgegen. Sie bleiben trotzdem gute Freunde, er aber leidet still an dieser unerfüllten Liebe, bis es ihm eines Tages gelingt, sich davon völlig zu lösen. Bei seinen Studien nämlich ist er auf ein englisches Zitat bei Stendhal gestoßen, «all lost, nothing lost», das ihn auf den Boden der Realität zurückholt. Daraufhin meidet er konsequent jeden weiteren Kontakt zu Micòl und ihrer Familie.

Die vier Teile des schwermütigen Romans werden von Prolog und Epilog eingerahmt. Bei einem Besuch der etruskischen Gräberstadt Cerveteri, erfahren wir im Prolog, beschließt der Ich-Erzähler, seinen langjährigen Wunsch, über die Finzi-Continis zu schreiben, nun endlich in die Tat umzusetzen. Er erinnert sich nämlich an die monumentale Familiengruft der Familie, in der aber außer dem frühverstorbenen Sohn niemand von den anderen ihm bekannten Angehörigen begraben liegt. Denn sie alle wurden im Herbst 1943 nach Deutschland deportiert, und keiner weiß, ob sie denn überhaupt ein Grab gefunden haben. Im Nachwort erinnert er sich an die prophetischen Worte von Micòl, der die Zukunft an sich eine entsetzliche Vorstellung sei, der sie, durchaus hedonistisch, die Gegenwart bei weitem vorziehe, und mehr noch «die geliebte sanfte, barmherzige Vergangenheit». Er endet mit den schönen Satz: «Und weil dies, – ich weiß – nur Worte waren, die üblichen trügerischen und verzweifelten Worte, die nur ein richtiger Kuss ihr vom Mund genommen hätte, sei gerade mit ihnen und nicht mit anderen Worten das wenige besiegelt, woran das Herz sich zu erinnern vermochte».

Mir wurde erst nach der Lektüre klar, warum diese einseitige Liebesgeschichte so seltsam blutleer geschildert ist. Für den Autor nämlich war Homosexualität, wie ich seiner Biografie entnehme, wohl zeitlebens ein Problemthema, seine Ehe könnte eine ähnlich camouflierende Funktion gehabt haben wie einst die von Thomas Mann mit seinen sechs Kindern. So jemand aber ist kaum in der Lage, die knisternde erotische Spannung zwischen Mann und Frau realitätsnah in Worte zu fassen, damit hatten beide Literaten gleichermaßen ihre Probleme. Aber das ist nun wirklich nur eine Facette dieses im Übrigen sehr berührenden, gefühlvoll und ruhig erzählten Romans, der einen in seiner Tragik zutiefst betroffen macht.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Wagenbach