Book of Games

Book of Games. 336 herrlich absurde Gedankenspiele, die man allein oder in der Gruppe und ohne jegliches Material spielen kann. Gerade zu Weihnachten eine wohl unentbehrliche Lektüre für jeden Gabentisch. Der Autor erklärt die Regeln, während Werke von Künstlern wie August Sander, Rineke Dijkstra und Salvador Dalí illustrieren, wie man spielerisch aus seiner Komfortzone tritt. Ein kühnes Abenteuer für mutige Konquistadoren des Gehirns.

Höller’s Book of Games

Eine frische Brise für den Alltag versprechen diese Spiele des Künstlers Carsten Höller auf dem Meer der Weihnachtsgeschenke. Seine Spiele, Experimente und Herausforderungen machen die Welt und das Leben im Handumdrehen spannender und unterhaltsamer. Allesamt stammen aus den Bereichen Kunst, Psychologie oder skurrile Mutproben und können überall in den Alltag integriert werden: auf der Straße, im Bett oder im Zug. Denn benötigt werden keine Requisiten und keine Vorbereitung, dafür aber der eigene Körper, die Sinne und der Mut, sich auf etwas völlig Neues einzulassen. Unterschiedliche Herangehensweisen machen aus den Spielen u.a. auch paradoxe Interventionen, etwa wenn merkwürdige Phrasen in Gespräche gestreut werden oder dem stoischen Gegenüber ein Haar ausgezupft wird. Andere Spiele fordern wiederum den Kopf, manche den Körper. Einige Partien sind gewagt – wie etwa ein spontaner Aufschrei als Beifahrer mitten in einem Parkmanöver oder plötzlich (und untrainiert) einen Salto zu vollführen. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Nur der Geduld und dem Wohlsinnen der Mitanwesenden.

Gedankenexperimente und -spiele

Mit wissenschaftlich geschärftem Blick verbindet Höller Kunst, Psychologie und Forschung zu immersiven Erlebnissen, die das Denken herausfordern und nicht nur an gedankliche Grenzen führen. 1992 entstand spontan, aus purer Langeweile, beim zähen Dinner einer Ausstellungseröffnung, Höllers erstes Spiel. Inspiriert von Freunden, dem Leben, den Surrealisten und Arthur Rimbaud sammelt er seither Ideen. In vorliegendem Buch werden 336 davon mit einer Vielzahl visueller Assoziationen illustriert. Auftragswerke von Christine Sun Kim und Anri Sala stehen neben bekannten Fotografien von August Sander, Nan Goldin und Inez van Lamsweerde & Vinoodh Matadin. Filmstills von Chantal Akerman und Zitate von Shakespeare folgen auf Gemälde von Salvador Dalí. Schnappschüsse von Joseph Beuys mit Sohn und Donna Haraway mit Hund finden sich ebenso wie Schätze aus Höllers eigenem Archiv – und dem seiner Mutter.

Carsten Höller, Hans Ulrich Obrist, Stefanie Hessler
Book of Games
Hardcover, 17 x 22.1 cm, 1.54 kg, 760 Seiten
ISBN 978-3-8365-8223-0
Ausgabe: Mehrsprachig (Deutsch, Englisch)
TASCHEN Verlag
€ 40


Genre: Denkaufgabe, Spiele
Illustrated by Avant Verlag

Die Krake im Nacken

Die Krake im Nacken. Zerocalcare ist einer der bestverkauften zeitgenössischen Comiczeichner Italiens. Sein neuestes Werk ist wieder autobiografisch und autofiktional zugleich. Nach seinem autobiografischen Reisebericht im syrisch-türkischen Grenzgebiet, “Kobane Calling” (2017) und der Fortsetzung “No sleep Till Shingal” (2022), thematisiert er in “Vergiss meinen Namen” und “Die Krake im Nacken” wieder seine Familiengeschichte.

Die Krake (der Reue) im Nacken

Drei Freunde, ein Schulhof, ein dunkles Geheimnis. In “Die Krake im Nacken” führt uns Zerocalcare, bürgerlich Michele Rech aus Arezzo, zurück in seine Schulzeit, in der Mutproben, langweilige Unterrichtsstunden und die erste Liebe den Alltag prägten. Zerocalcare und seine Freunde machen außerhalb des Schulgeländes einen mysteriösen Fund. Dieser sorgt alsbald nicht nur in der Schule für Durcheinander, sondern bringt auch Zero selbst in Schwierigkeiten. Aber: “Die Zughörigkeit zu einer Gemeinschaft basiert u.a. auf geteilten Grunderfahrungen”, da gehören Taufe, Kommunion und andere Rituale eben eindeutig dazu. Und dazu kommt noch der Gruppendruck, die seltsame Dynamik die sich zwischen Jugendlichen in der Pubertät entwickelt. Nicht nur eine Menge Progesteron wird hier von den Halbwüchsigen im Putzmittel vermutet, sondern auch eine Menge Testosteron wabert in einer Holzhütte herum, wo sich ziemlich “stereotype Frauenbilder” an den Wänden befinden. Natürlich spielt dies auf die weit verbreitete Selbstbefriedigung an, die nicht nur in den 80er als “wichsen” bezeichnet wurde. Im Leben jedes Jugendlichen gibt es diesen “Sliding Doors Moment”, in dem man sich entscheiden muss.

Die Krake der Gewissensbisse

Die “Krake im Nacken” steht – so viel darf verraten werden – sinnbildlich für die Reue. Nicht unbedingt für die Reue über die Selbstbefriedigung, vielmehr über die Reue an sich. “Calcare nicht rennen, wer rennt zeigt Begeisterung”, maßregelt ihn ein Kumpel und bremst seine Begeisterung gleich ein. Denn wer will in dem Alter nicht cool rüberkommen? Eine Notlüge später sind sie dann da, die Gewissensbisse, die Zerocalcare von nun an für den Rest seines Lebens begleiten werden. Seine Jugendlichen hat Zerocalcare mit spitzem Stift sehr gut getroffen, er porträtiert aber auch vermenschlichte Tiere und die Helden seiner Kindheit wie etwa Kurt Cobain, Che Guevara u.a. Zerocalcare macht die emotionalen Turbulenzen und Beklemmungen der Adoleszenz fühl- und greifbar. In drei Episoden erzählt Zerocalcare ehrlich und humorvoll vom Erwachsenwerden, von der Grundschulzeit, den turbulenten Jahren der Mittelstufe und seinen Anfängen als Blogger und von den Herausforderungen, die jede dieser Lebensphasen mit sich bringt. Die im Titel angesprochene Krake im Nacken wird zum Symbol für Schuldgefühle, die einem den Hals zuschnüren, wenn man am wenigsten damit rechnet.

Auf Netflix sind zwei von Zerocalcare gezeichnete Serien erschienen, die zu den meistgesehenen italienischen Serien überhaupt aufstiegen. Eine Entdeckungsreise in die eigene Adoleszenz und ein Moment der Rückschau, der uns allen vielleicht wieder einmal gut tut, besonders natürlich in so unterhaltsamer Form wie in einem Comic.

Zerocalcare
Die Krake im Nacken
Text & Zeichnungen: Zerocalcare
Übersetzung aus dem Italienischen von Myriam Alfano
2024, 192 Seiten, Hardcover, 17 x 24,5 cm, schwarzweiß
ISBN: 978-3-96445-125-5
avant-verlag
25,00 €

 


Genre: Autobiographie, Comic
Illustrated by Avant Verlag

Der Götzendiener

Der Götzendiener. “Ich werde von nichts anderem reden als von mir“, kündigt eines der Alter Egos großspurig an. Der Texter und Zeichner des Bestsellers “Die Katze des Rabbiners“, Joann Sfar, legt mit der “Götzendiener” sein bisher persönlichstes Werk vor. Denn es geht um nichts weniger als Idolatrie, den Götzendienst, eigentlich eine Sünde in vielen Glaubensgemeinschaften.

Lust an der Teilhabe

Auch im Judentum, dem seine Familie angehört, ist es eigentlich verboten, ein Bild anzubeten oder sich Bilder zu machen. “Die Götzenanbetung! Wenn du ein Bild mehr liebst als die Wirklichkeit, dann bist du verloren”, gibt ihm eine seiner Freundinnen zu bedenken und wie der Protagonist aus eigener leidvoller Erfahrung weiß, kriegt man auch keinen hoch, wenn man beim Sex Bilder im Kopf hat. Zumindest als Zeichner. Der junge Alter Ego von Joann Sfar lebt in Nizza und liebt die Pizzeria der Cresci-Brüder, weil sie Cantal-Käse statt Mozzarella verwenden. Als er das erste Mal Bilder von Chagall im Museum hängen sieht, wird er inspiriert, denn gerade die Einfachheit der Bilder ermuntere auch Kinder, den Zeichenstift zur Hand zu nehmen: “Das kann ich auch!” Chagall lade eben zur Teilhabe ein, anders als etwa Asterix: “Die Lust an der Teilhabe. An der Imitation: Meine Kinder-Kritzeleien zerbröselten angesichts der Perfektion von Asterix. Vor Asterix blieb mir der Zugang zur Kunst verschlossen. Einige Jahre später hat sie sich dank Chagall geöffnet.”

Zeichnen als Überlebenselixier

“Genau deswegen sind Fotos auf jüdischen Gräbern verboten. Man soll die Erinnerung an einen Verstorbenen nicht erstarren lassen”, erklärt ihm ein Rabbi. Götzenanbetung sei, wenn man sich lieber einem Bild anvertraut als der Welt. “Sieh nicht mehr das Bild an”, rät er ihm beim Betrauten eines Fotos seiner Mutter, “Sag ihren Namen und sprich mit ihr! Ein Bild verwehrt den Dialog. Es ist wie eine verschlossene Tür. Ein Foto, das ist der Grabstein.” Lustig wird es, wenn sich der kleine Joann Fragen zur Regel stellt, denn im Französischen ist es dasselbe Wort wir für Lineal. “Nichts existiert außerhalb des Bildes“, meinte schon Fritz Lang. Sein Vater unterstützt die Zeichenversuche seines Sohnes halbherzig, denn er weiß, dass es nie ein ökonomisches Modell um vom Zeichnen zu leben existiert hat. Joann schickt nichtsdestotrotz alle seine Zeichnungen an die unterschiedlichsten Verlage, bis er endlich bei Castermann arbeitet, allerdings in einer anderen Abteilung als gewünscht. Dennoch reicht der Hinweis auf den Verlag schon, um das Selbstbewusstsein zu steigern: “Es ist sehr wichtig zu lügen! Zunächst animiert es dazu, sich auf die Höhe unserer Märchen zu schwingen.”

Kindheitserinnerungen einer Halbwaise

Der Götzendiener” beschäftigt sich mit der Abwesenheit der Mutter des Autors, denn diese starb, als er noch ein Kleinkind war. Vielleicht hat dieser (zu) frühe Verlust seinen Werdegang als Künstler beeinflusst. Joann Sfar blickt zurück auf seine Kindheit und die prägendsten Momente und Begegnungen auf seinem Weg zum gefeierten Comicautor. Joann Sfar wurde mit dem Max und Moritz-Preis für sein herausragendes Lebenswerk beim Comic-Salon Erlangen 2024 geehrt.

Joann Sfar
Der Götzendiener
Text & Zeichnungen: Joann Sfar
Übersetzung aus dem Französischen von Marcel Le Comte
2024, Hardcover, 208 Seiten, 21 x 28 cm, vierfarbig
ISBN: 978-3-96445-107-1
avant-verlag
30,00 €


Genre: Autobiographie, Comic
Illustrated by Avant Verlag

Erstkontakt

Erstkontakt. Nach “Falsche Fährten” erscheint “#Erstkontakt_” (sic) beim renommierten Comic Verlag Avant, Text & Zeichnungen: Bruno Duhamel. Dieses Mal widmet er sich dem Mythos von Nessie, besser bekommt als das Monster von Loch Ness, das sich irgendwo in den schottischen Highlands rumtreiben soll. Ein Hipster wider Willen, Doug, schießt zufällig ein Foto und löst damit eine Katastrophe für den kleinen Ort aus.

Erstkontakt: Monster kommt selten allein…

Die Folgen von social media werden von Bruno Duhamel eindringlich, aber nicht ohne Humor, thematisiert. Der schottische Einsiedler Doug, ein ehemaliger Fotograf mit großen Selbstzweifeln, hat sich in die schottischen Highlands zurückgezogen. Als er an einem See vor seiner Haustür ein Foto schießt, entdeckt er bei Prüfung des Schnappschusses, dass noch etwas anderes als nur der See auf dem Foto zu sehen ist. Da er es für einen Zufall hält oder seinen eigenen Augen nicht trauen will, veröffentlicht er die Räuberpistole auf im sozialen Netzwerk „Twister“. Aber das “Monster” auf dem Foto entpuppt sich als echt und alle Metadaten, die von Sachverständigen geprüft werden, ebenfalls. Doug hat mit seiner harmlosen Geste des Veröffentlichen auf einem social media Kanal die Büchse der Pandora geöffnet. Denn nun ist es vorbei mit dem frohen Einsiedlerdasein und der Ruhe in der Zurückgezogenheit der schottischen Highlands. Die Hysterie der social Media Abhängigen und Internetsüchtigen macht aus dem kleinen Ort einen Jahrmarkt der Eitelkeiten, wo sich Journalist:innen, Umweltschützer:innen, misstrauische oder auch einfach nur neugierige Menschen die Klinke in die Hand geben. Erstkontakt.

Im Fadenkreuz der Kritik: social media in Erstkontakt

Jetzt hör mir mal zu, Burraidh!Wir sind vielleicht nur kleine Bullen, die deine Story überfordert, aber halt uns deswegen bloß nicht für Brownies! Du wirst nochmal froh sein, dass wir dir zur Seite stehen und du nicht als Haggis endest“, gibt eine der beiden Polizisten Doug zu bedenken. Zum Glück sind die Begriffe in den Fußnoten erklärt! Als sich auch noch ein russischer Internettroll in die Loch Affäre einmischt, wird es für Doug ganz schön brenzlig, seine selbstgewählte Heimat zu verteidigen. “Die Medien sind an allem Schuld! Alle auf die Journalisten!” lautet dann der unverhohlen geäußerte Schlachtruf der Meute, die sich auf die eigentlichen Gerechten stürzt. Zudem mischt sich dann auch noch das Militär ein und das Monster verkrümelt sich bald wieder in seinen See. “Soziale Netzwerke zwingen uns zu schnellen Reaktionen, oft unter dem Einfluss von Emotionen, und das öffnet Tür und Tor für Verwirrungen aller Art“, meint der Autor und Zeichner Bruno Duhamel in einem Interview und macht darin auch gleich neugierig auf sein nächstes Werk. Denn Duhamel liebt es, sein Publikum zu überraschen, was ihm mit “#Erstkontakt_” sicherlich gelungen ist.

Bruno Duhamel
#Erstkontakt_
Übersetzung aus dem Französischen von Lilian Pithan
2024, 72 Seiten, Hardcover, 24 x 32 cm, vierfarbig
ISBN: 978-3-96445-045-6
avant-verlag.de
22,00 €


Genre: Comic
Illustrated by Avant Verlag

Bring mich noch zur Ecke

Bring mich noch zur Ecke – Anneli Furmark

Bring mich noch zur Ecke. “Menschen trauern auf unterschiedliche Art“, meint der Psychotherapeut der 56-jährigen Elise und will damit ihr Verständnis für Henrik, ihren Mann, verbessern. 25 Jahre waren sie verheiratet, aber dann hat sich Elise in Dagmar verliebt. Und Dagmar in sie. Auch sie hat eine andere Partnerin und Familie.

Familiar Feeling

Ein plötzlicher Anflug von Sehnsucht durchfuhr sie, die Erinnerung an das Gefühl von etwas im Fernsehen völlig gefesselt zu sein.” Das Leben kann ganz schön kompliziert sein. Henrik und Elise haben sich etwas aufgebaut und sie lieben sich noch immer, nach einem Vierteljahrhundert Ehe. Doch Elise zieht es zu Dagmar. Als auch Henrik eine andere Partnerin findet, wird aus der Vermutung Gewissheit: Scheidung. Die Kinder sind schon alt genug es zu verdauen. Aber wird Elise es schaffen? Sie macht sich Vorwürfe. Erst recht, als Dagmar einen Rückzieher macht. Liebgewonnene Gewohnheiten abzulegen, die Vertrautheit eines Ehepaares, der Duft seines Pullovers. In seiner Abwesenheit schnuppert sie daran, sehnt sich nach dem alten Gefühl und vielleicht auch etwas nach ihrer eigenen Vergangenheit und Jugend. Elise hört gerne Musik und lebt in den Texten etwa von Joni Mitchell “A case of you” oder “Both Sides Now“, Leonhard Cohen u.a. Dagmar mag das. Aber wird sie es lieben?

Ein neue Erzählung

Elise ist zum ersten Mal in ihrem Leben wieder auf sich allein gestellt. Zumindest das erste Mal seit langem. Sie will nicht Teil der Erzählung von Dagmars Ehekrise werden. Sie will wieder zurück und doch wieder voran. Beim Packen eines Kartons liegt sie am Boden und nur ihre Katze kommt, sie zu trösten. Eine Entwicklung geht oft in kleinen Schritten und nicht in großen Sprüngen. Anneli Furmark, die sowohl Text als auch Zeichnungen verfasst hat, weiß um die Traurigkeit und Melancholie des Endes einer Beziehung und zeichnet einfühlsam den Weg Elises zu ihrer neuen Selbständigkeit nach. Gelungen ist auch die Anspielung auf “Die Absinthtrinkerin” (Edgar Degas), als Elise vor ihrem Weinglas sitzt und zunehmend verfällt. Ihre Freundinnen freuen sich aber für sie, für die “vielen Gefühle”, das muss doch schön sein, meinen sie. Aber es ist nicht nur schön. Es erfordert auch ganz schön viel Mut, alle bisherigen Sicherheiten aufzugeben und ein neues Leben zu beginnen. Mit oder ohne neuen Partner. Und bald fasst Elise wieder neue Pläne.

Anneli Furmark
Bring mich noch zur Ecke
Text und Zeichnung: Anneli Furmark
Übersetzung aus dem Schwedischen von Katharina Erben
2022, 232 Seiten, Klappenbroschur, Format 16 x 21,5 cm, vierfarbig
ISBN: 978-3-96445-066-1
avant-verlag
25,00 €


Genre: Comics, Erzählung, Frauenliteratur, Graphic Novel, Liebesroman
Illustrated by Avant Verlag

Der Duft der Kiefern

Eine wahre Geschichte über eine Mutter. In Liebe erzählt von ihrer Tochter. So lautet die Widmung in dieser Familienchronik der Kriegsgeneration als graphic novel inklusive Familienstammbaum im Anhang. Aber es ist nicht nur die Geschichte ihrer Familie, die Bianca Schaalburg hier erzählt, sondern auch ein großes Stück deutsche Geschichte. Die Geschichte eines Landes und eines Volkes repräsentativ dargestellt anhand einer typisch deutschen Familie.

Der Duft der Kiefern

Das Erbe, das die Protagonistin übernimmt, besteht zunächst in schweren Holzkästen und einer Spiegelkonsole aus den Dreißigern, in der Bianca sich und ihre Familie erkennt. Wie war das, eine Kindheit unter den Nazis? Kann sie die Erinnerungen an diese Zeit bald ebenso mit Kreide überschreiben wie die alten Türen des Nussholzkastens, auf den sie Worte der Schönheit und der Träume schreibt? Die Kienäpfel (Berlinerisch für Kiefernzapfen), die sie als Kinder in der Siedlung Onkel Toms Hütte unter den Kiefern einsammeln vermitteln schöne Erinnerungen und doch ist das eigentliche Erbe der Eltern und Großeltern schwer zu (er)tragen. Opa Heinrich war schon 1926 (!) in die NSDAP eingetreten, aber die noch lebenden Familienmitglieder wissen nichts mehr davon. Das Mantra „Wir. Wussten. Von. Nichts.“ Bekommt sie in ihrer Familie und Verwandtschaft öfters zu hören. Also macht sie sich selbst auf die Suche nach Antworten und rekonstruiert die Familiengeschichte der Bewohner ihres Hauses. „Diese Menschen können ihre Geschichte nicht mehr erzählen. Deshabl will ich ihnen eine Stimme geben.“, schreibt sie und tut es sodann.

Zeitgeschichte für jede Generation

Aber sie erzählt auch von den anderen ermordeten MitbürgerInnen, den ZwangsarbeiterInnen, den Erschießungskommandos und Hinrichtungen, die oft in drei bis sechs Stunden 2-400 Menschen ermordeten. „Dazu gab es Wodka, manchmal auch einen Imbiss“, ergänzt sie, denn das Morden war tatsächlich organisiert wie eine Kaffeefahrt. Die Toten wurden zu Tausenden aufeinander gestapelt und im Wald vergraben. Und was war Onkel Heinrichs Aufgabe in Riga? Auch diese Frage bleibt unbeantwortet. Aber wer damals auf einem Pferd vor einem Holzhaus saß, dem konnte es wohl nicht so schlecht gehen. Der war aber auch nicht unschuldig. „Wenn wir gewinnen, müssen wir nichts erklären, wenn wir verlieren, gibt es nichts zu erklären“, lautete die bizarre Logik des Zweiten Weltkrieges. Darüber hinaus erzählt die Autorin auch von der Teilung der beiden deutschen Staaten, der Stasi, dem Kalten Krieg und 1968. Ein deutsches Lesebuch also, das in einfachen Worten und Bildern den Schrecken unseres Jahrhunderts nacherzählt, ohne etwas zu beschönigen. Vielleicht kann man gerade durch so eine graphic novel auch die junge Generation für die Geschichte ihrer (Groß-)Eltern interessieren und so die Erinnerung wachhalten, damit das, was passiert ist, nie mehr passiert. Ein wichtiger Beitrag also!

Bianca Schaalburg
Der Duft der Kiefern
Text & Zeichnung: Bianca Schaalburg
2021, 208 Seiten, Hardcover mit Lesebändchen, 19,5 x 26,5 cm, vierfarbig
ISBN: 978-3-96445-058-6
Avant Verlag
26,00 €


Genre: Biographie, Deutschland, Familiengeschichte, Graphic Novel, Zeitgeschichte, Zweiter Weltkrieg
Illustrated by Avant Verlag