Oracle

Ursula Poznanski schickt ihren Protagonisten Julian, einen gehemmten und von nebulösen Visionen heimgesuchten jungen Mann in ein Studentenheim, wo er auf Gleichaltrige stößt, die ihm teilweise Angst machen. Seine besondere Fähigkeit und zugleich auch seine Last ist, an seiner Umwelt »Marker« festzustellen, die ihn auf ein mögliches zukünftiges Risiko aufmerksam machen. Julian sieht betroffene Menschen nur teilweise, Nebel quillt aus ihren Augen, auf einem Hinterkopf klafft eine Wunde, manche Teile des Körpers der Markierten sind vollständig farbig umwolkt und geben ihm Rätsel auf. Weiterlesen


Genre: Jugendbuch, Thriller
Illustrated by Loewe Bindlach

All Our Hidden Gifts

all our hidden giftsMaeve Chambers hat im Gegensatz zu ihrer intelligenten Familie keine besonderen Talente. Als sie aber eines Tages in ihrer Schule ein altes Tarot-Kartenset findet, ändert sich ihre Situation grundlegend: Sie kann ihren Mitschülerinnen genau ihre Situation beschreiben und exakte Voraussagen treffen. Die Kartensessions bei ihr sind sehr beliebt – bis sie mit ihrer ehemaligen besten Freundin Lily in Streit gerät und Lily daraufhin spurlos verschwindet. Lilys nichtbinärer Bruder Roe, der wegen Maeves schlechtem Verhalten Lily gegenüber ihr erst einmal skeptisch gegenübersteht, nährt sich ihr aber im Laufe der Zeit. Es entsteht eine nicht unkomplizierte Beziehung zwischen den beiden, in der sie über ihre Gefühle zueinander klar werden müssen. Und beide wollen Lily wiederfinden. Unterstützt werden sie von Maeves neuer Freundin Fiona, die durch ihre asiatische Herkunft Vorurteilen ausgesetzt ist. Sie finden Hilfe in einem esoterischen Laden, dessen Besitzerin Maeve das zweite Gesicht und damit paranormale Fähigkeiten bescheinigt. Die braucht sie auch im Kampf gegen die erzkonservativen Kinder Brigids und deren Anführer Aaron und gegen die Mamsell, eine Macht, die sich aus den Gedanken der Menschen materialisiert hat.

 

Gegen den Strom schwimmen und das Verschwinden als Metapher für den Wunsch einer Mainstreamgesellschaft, nicht-konforme Menschen auszugrenzen, zu bekämpfen und unsichtbar zu machen

 

Der in sich abgeschlossene Roman spricht mehrere nicht-konforme, dem Mainstream entgegenstehende Themen an: Das Leistungsprinzip, vertreten durch die Familie Maeves, die intelligent ist und „es zu etwas gebracht“ hat (wobei Maeve entgegen eines Schwarz-Weiß-Denkens von ihrer Familie nicht unter Druck gesetzt wird). Maeve als ein Mädchen ohne gewinnbringende Talente und mit bescheidenen Noten scheidet aus dieser Leistungsgesellschaft aus. Sie entspricht also in dieser Hinsicht nicht dem Mainstream. Ihre Gabe des zweiten Gesichts wird allerdings unter dem Aspekt des Gewinnstrebens in Form von bezahlten Tarot-Sessions mit ihren Mitschülerinnen von diesen akzeptiert, da die Trefferquote Maeves sehr hoch ist. Mitthematisiert wird außerdem das Ausgrenzen und das (ungewollte) Außenseitertum Maeves und ihrer ehemaligen Freundin Lily. Auch Lily ist nicht gesellschaftskonform und macht deswegen wie Maeve immer wieder bittere Erfahrungen. Maeve will aus diesem Außenseiterstatus raus und entscheidet sich (mit den entsprechenden Konsequenzen) gegen ihre beste Freundin Lily und für zwei Mädchen, die sie letztlich zwar nicht leiden kann, die aber in der Klasse einen höheren Status als sie besitzen. Maeve hofft dadurch in der Hierarchie aufzusteigen, was aber letztlich misslingt. So wird indirekt auch das Hierarchiedenken infrage gestellt und kritisiert, weil es einem guten gesellschaftlichen Klima nicht nützt.

Lilys Bruder Roe ist nichtbinär, lässt sich also keinem Geschlecht zuordnen. Damit steht er ebenfalls außerhalb der Gesellschaft und macht schlechte Erfahrungen durch Repressalien. Die konforme Gesellschaft wird durch die Kinder Brigids in ihrer Extremform vertreten. Sie wollen „Normalität“ unter dem Deckmantel der Religion und greifen die queere Bewegung an. Zuspruch erhalten sie von der Gesellschaft, die im Buch in Form eines Radioreporters, der sich vom Charisma des Anführers der Kinder Brigids einlullen lässt, vertreten wird, aber auch von Roes Eltern, die nicht unbedingt glücklich mit gleich zwei nonkonformen Kindern sind. Aber auch diese Eltern werden nicht schwarz-weiß gezeichnet: Sie machen sich Sorgen um ihre Kinder und lieben sie, anstatt sich von ihnen abzuwenden. Aber selbst die Kinder Brigids sind nicht „normal“: Ihr Anführer Aaron hat wie Maeve das zweite Gesicht – nutzt dieses aber, um andere für seine eigenen Zwecke in Guru- und Sekten-Manier zu manipulieren und auszunutzen.

Fiona hat als Migrantin in zweiter Generation ebenfalls mit Vorurteilen zu kämpfen, die im Buch immer mal wieder angesprochen werden. Alle Hauptpersonen sind also nach eindimensionalen Maßstäben „nicht normal“, finden aber trotzdem einen Weg, in der Gesellschaft zu bestehen. Dieser Weg besteht hier v.a. darin, die Unterschiedlichkeit der anderen anzuerkennen, zu akzeptieren und sich in aller akzeptierten Unterschiedlichkeit zusammenzutun, um etwas gegen Unrecht bewirken zu können. Dabei braucht man sich nur einmal die Natur selbst anzuschauen: Diversität/Artenvielfalt und deren Vernetzung scheint ein grundlegendes Prinzip der Natur zu sein, um Leben zu sichern. Der Weg besteht aber auch darin, die Gegenseite kennenzulernen, um sie besser einschätzen zu können. Parallelen zur irischen Geschichte (die Story spielt in Irland) sind sichtbar. Insgesamt wird aber auch eine gesellschaftliche Haltung hinterfragt, die von Normen und deren starrer Einhaltung ausgeht und die alles, was anders ist, verunglimpft und bekämpft.  Negative Vorstellungen über Kirche und gewisse Parteien drängen sich geradezu auf.

Auch der Titel „All unsere versteckten Gaben“ passt sehr gut zu der erzählten Story. Es müssen nicht immer nur die offiziellen erwünschten Gaben sein, die eine Gesellschaft lebenswert machen. Oft sind es die verschleierten Gaben, die man aufgrund des Unerwünschtseins evtl. selbst erst einmal gar nicht herausfindet, die eine Gesellschaft reich(haltiger) machen.

Verpackt werden all diese Thematiken in eine spannende Story über das Verschwinden eines Mädchens und der Suche nach ihm, mit dem durchgängigen Touch des Mysteriösen und der Anspielung darauf, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt, als offiziell anerkannt wird. Auch die Selbstfindung ist unter den dargestellten schwierigen Umständen ein zentrales Thema dieses Buches.

Sehr empfehlenswert!


Genre: Jugendbuch
Illustrated by Carlsen Verlag Hamburg

Alles ganz normal

Alles ganz normal?

Camillas Leben gefällt ihr gerade gar nicht: Ihr Vater hat eine neue reiche Freundin, zu der die Familie ziehen muss. Camilla findet ihre neue Stiefmutter zu oberflächlich und beziehungsunfähig. Ihre Stiefschwester ist ein echter Stinkstiefel. Der Vater kümmert sich nicht mehr um seine eigenen Kinder, hält dafür aber zu seiner neuen Familie. Überhaupt wirkt er sehr überfordert: Es kümmert ihn nicht, dass sein Sohn die Schule dauerhaft schwänzt oder seine Tochter in der neuen Schickimicki-Klasse gemobbt wird. Camillas alte Freundinnen wenden sich von ihr ab.

Dagegen scheint es bei Luna alias Lunatika viel besser zu laufen: Die beliebte Tiktokerin fährt immer neue Follower-Rekorde ein, bekommt Angebote für Verträge. Sie scheint immer auf alles eine Antwort zu wissen und ihren Follower*innen Trost spenden zu können. Aber auch hier ist nicht alles so, wie es scheint. Lunas Vater glänzt seit Jahren aufgrund seines Forschungsprojektes durch Abwesenheit. Die Mutter ist praktisch alleinerziehend und musste daher auf die Verwirklichung ihrer Träume verzichten. Sie versucht es dennoch, nachdem ihre Tochter aus dem Gröbsten heraus ist, aber mit wenig Erfolg. Das Mutter-Tochter-Verhältnis ist angespannt.

In all der Misere startet Camilla einen letzten Versuch, die Freundschaft zu ihren alten Freundinnen zu retten: Sie nimmt ein Video auf, in dem sie über ihre erste Periode spricht. Was eigentlich nur für ihre Freundinnen gedacht war, gerät in die falschen Hände – auf einmal ist Camillas Video für alle zugänglich. Das beschert ihr übles Mobbing, aber auch eine langsam wachsende Solidarität zwischen den Mädchen.

Mobbing, Tabuthemen, Feminismus, Social Media, Familienmodelle, Politik

Das rote Tuch verbindet die verschiedenen Themen des Buches: Es steht zum einen für die Periode, die von der Gesellschaft anstatt gefeiert tabuisiert wird. So sind Frauen und Mädchen gezwungen, so zu tun, als gäbe es die Periode  und alles, was damit zusammenhängt, nicht. Sie müssen sie verstecken, verheimlichen, dass sie sie haben. Sie erdulden still die allmonatlichen Schmerzen und das Unwohlsein und müssen so tun, als wäre alles ganz normal. Bis vor kurzem waren Hygieneartikel für die Periode sogar mit einer Luxussteuer (!) belastet. Das führt dazu, dass sie sich für ihre Regelblutung schämen und nicht wissen, wie sie mit dem Natürlichsten der Welt umgehen sollen. Sie haben keinerlei Kenntnisse über sie und werden von ihr überrascht, wenn sie kommt. Und das führt wiederum zu peinlichen Situationen.

Die Periode ist ein rotes Tuch für eine Gesellschaft, die patriarchal geprägt ist. Sie steht für das Frausein, für die Fruchtbarkeit der Frau. Denn nur die Frau ist in der Lage, Leben zu schenken. Die Frau und alles, was mit dem Frausein zusammenhängt, wird durch das Patriarchat negiert, angefeindet, ins Lächerliche gezogen, ignoriert, tabuisiert, dämonisiert. Im Buch wird das durch das üble Mobbing Camillas verdeutlicht. Sie muss jeden Tag in der Schule eine wahren Spießrutenlauf absolvieren durch Häme, Tuschelei, Stichelei und Angriffe in Form von Tampons, die feucht rot bemalt sind, oder überlebensgroße Graffiti am Schulgebäude, die sie und ihr Bedürfnis, über die Periode zu reden, in den Dreck ziehen. Nutznießer sind in dem Buch die notgeilen, frauenfeindlichen Politiker, gegen die sich Widerstand auch in der Schule regt.

Das Buch verschweigt nicht, dass auch Frauen bewusst oder unbewusst den patriarchalen Interessen dienen. Dafür steht die Lehrerin, die von den Kindern verlangt, einen Aufsatz über eine normale Familie zu schreiben. In der Klasse – alles privilegierte Jugendliche – herrscht Ratlosigkeit darüber, was als normal gilt. Denn die Familienmodelle sind völlig unterschiedlich: Allereinerziehende Eltern, Patchworkfamilien, abwesende Väter usw. Das gutbürgerliche Modell der Kleinfamilie mit Vater, Mutter, Kind(ern) wird von kaum einer Familie erfüllt. Das bringt die Lehrerin aus dem Tritt, was sie aber mit Ignoranz und Strenge überspielt. Der Besuch des frauenfeindlichen Senators löst nur bei ihr Begeisterung aus, in der Klasse aber nicht. Der Senator ist lebensfremd, sodass er die Kids und deren Lebenswirklichkeit weder interessiert noch berührt.

Das rote Tuch steht weiterhin für Solidarität und das Kämpfen für eine bessere Welt – die wiederum für den Senator/ die Herrschenden, der/die sich in Privilegien und Frauenfeindlichkeit eingerichtet hat/haben, ein rotes Tuch ist. Die Mädchen und ein paar der Jungen tragen das rote Tuch in der Schule und während des Besuchs des Senators. Vor der Schule demonstrieren Feministinnen, unter anderem Lunas Mutter, für mehr Gerechtigkeit. Lunas Mutter ist leidenschaftliche Comiczeichnerin, die in ihren Comics feministische Themen aufgreift, auch weil sie selbst die Erfahrung gemacht hat, in einer patriarchalen Welt zu kurz zu kommen und benachteiligt zu werden. Sie hat für den Traum ihres Mannes ihren eigenen aufgegeben und das gemeinsame Kind großgezogen – nur um festzustellen, dass er sie wahrscheinlich betrügt.

Luna und Camilla, die am Anfang alles andere als Freundinnen sind, entdecken, dass es sehr wohl Gemeinsamkeiten gibt und sie voneinander lernen können. Sie entwickeln während des Besuchs des Senators aus dem Stehgreif eine neue Rede, die live gestreamt wird und das alte, feindliche System bloßstellt – so wie Camilla bloßgestellt worden ist.

Die Männer kommen in dem Roman meist nicht gut weg. Sie sind entweder überforderte Väter, vor der Familie geflüchtete und egoistische Väter oder Jungen, die sich dem Mainstream anpassen. Der Senator steht für Machtmissbrauch und Frauenfeindlichkeit. Einzig ein Lehrer an der Schule besitzt Empathie und das Geschick, Mobbing und Tabuthemen für die Schüler*innen so aufzubereiten, dass daraus fruchtbare Einsichten entstehen. Auch Außenseiter Valerio entpuppt sich als tiefsinnig und fortschrittlich und steht so im Widerspruch zu den angesagten, aber empathielosen Jungen seiner Klasse, bei denen das tumbe Ramboverhalten und rücksichtslose Machtstreben als Ideal gilt.

Das rote Tuch als roter Faden schlingt sich auch um Social Media. Am Beispiel Lunas und Camillas werden die Gefahren aufgezeigt, die Social Media mit sich bringen kann. Die junge Tiktokerin versteht diese Gefahren noch nicht und ist überfordert mit ihrer Beliebtheit und deren Konsequenzen. Camilla spürt die Gefahr am eigenen Leib (s.o.). Aber Social Media bietet auch die Chance, sich zu wehren. Luna nutzt ihre Beliebtheit, um positive Änderungen in Gang zu setzen und auf Missstände aufmerksam zu machen.

By the way: Luna ist lateinisch und bedeutet “Mond”. Der Mond steht für die Mondzyklen und ist eng mit dem Weiblichen und der Periode der Frau verbunden. Frauen menstuieren oft im Mondzyklus. Der Mond in diesem Zusammenhang steht auch für weibliche, mächtige Gottheiten. Lunatica dagegen bedeutet “launisch, sprunghaft…” und ist negativ konnotiert. Das passt ins Bild, wie ursprünglich positive Weiblichkeit vom Patriarchat ins Negative verkehrt wird. Der Autorin, selbst Feministin, dürften diese Zusammenhänge bekannt sein. Sie setzt sie wohl sehr bewusst ein und verkehrt z.B. den negativ besetzten Begriff Lunatika wiederum ins Positive durch eine ihrer Protagonistinnen.

Camilla kommt ebenfalls aus dem Lateinischen und bedeutet “die Ehrbare”. Die Kamille wird oft als Zeichen der Hoffnung gedeutet. Muss man dazu noch mehr sagen?

Das Cover

Das Cover ist gut gewählt. Es weist, ohne zu viel zu verraten, auf den Inhalt des Buches hin. Die vorherrschenden Farben sind Rot und Rosa. Rot, das rote Symbol der Weiblichkeit und die Blutstropfen deuten auf die Periode, die kein Tabuthema sein sollte, sondern etwas ganz Natürliches ist, für das sich Mädchen nicht zu schämen brauchen. Sie sollten im Gegenteil stolz auf dieses ureigenste Merkmal der Frau sein dürfen. Rosa ist die kleine Schwester von Rot. Sie war früher Farbe der Männer, die mit Rot den Kriegsgott Mars verbunden haben. Rosa galt als das kleine (kriegerische) Rot, bevor es für Mädchen verharmlost und verniedlicht wurde. Rote Wangen, rote Lippen, rote Tücher, rote Blutstropfen, roter Pulli… Frau pur! Und durchaus kämpferische Frau, denn die Mädchen und Frauen auch im Buch kämpfen für sich und ihre Bedürfnisse. Und Schwarz ist nicht nur die Farbe der Trauer (der Trauer darüber, wie die Verhältnisse für Frauen und Mädchen immer noch sind), sondern auch für die fruchtbare, schwarze Mutter Erde, aus der Leben und Neues erwächst. In diesem Fall positive Veränderungen.

Fazit

Das Buch ist extrem lesenswert, weil es auf mehreren Ebenen in die Tiefe geht. Es spricht nicht nur ein, sondern gleich mehrere kritische Themen an, verbindet sie, reflektiert sie und bietet Lösungsvorschläge an. Diskriminierung ist meist auch nicht ein- sondern mehrdimensional. Die verschiedenen Schichten müssen erst einmal durchschaut und konstruktiv aufgearbeitet werden. Das bietet das Buch ebenfalls. Die Schreibe ist verständlich und spannend. Damit ist “Alles ganz normal” auch als Schullektüre mehr als geeignet.


Genre: Jugendbuch
Illustrated by Carlsen Verlag Hamburg

Elektrische Fische

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Umzug, Heimweh und ein Fluchtplan

Von der irischen Hauptstadt Dublin ins verschlafene mecklenburg-vorpommerische Velgow: Der Unterschied könnte für Emma und ihre beiden Geschwister nicht größer sein. Nach der Trennung von ihrem trunksüchtigen Vater zieht die Mutter mit ihren drei Kindern zurück in das Haus ihrer Eltern, mit denen sie seit 20 Jahren kein Wort mehr gewechselt hat. Keine guten Voraussetzungen für einen Neustart. Der geht auch genauso holprig weiter, wie er begonnen hat: Die deutschen Großeltern sind Fremde, die geliebten irischen weit weg, ebenso die irischen Freunde, die sich einfach nicht durch deutsche ersetzen lassen wollen. Und Emmas kleine Schwester Aiofe verstummt vollständig, nachdem sie in ihrer neuen Schule gemobbt worden ist.

Emma ist sich sicher: Hier will sie nicht bleiben! Also fasst sie heimlich den Plan, wieder in ihre alte Heimat zurückzukehren. Unerwartete Hilfe bekommt sie von Levin, einem Klassenkameraden, der wie sie ein Außenseiter ist. Der dünne, langhaarige Junge ist ausgewiesener Metal-Fan, schüchtern und ein guter Beobachter. Obwohl er selbst große Probleme zuhause hat, bietet er Emma seine Hilfe an. Aber damit sein Plan klappen kann, müssen die beiden komplexen Charaktere erst einmal zueinander finden.

Entwurzelung

Die Geschichte stellt schön heraus, wie es ist, völlig fremd zu sein und seine Wurzeln verloren zu haben. Das immense Heimweh, das die Kinder plagt, der mühsame Neubeginn und eine Mutter, die immer Heimweh nach Deutschland hatte, sich jetzt aber nach all den Jahren verloren fühlt und wie ihre Kinder im Nirgendwo feststeckt.

Auch die finanzielle Lage ist angespannt, da die Mutter zumindest anfangs nichts verdient und später “nur” einen Aushilfsjob hat. Die dadurch entstandene Abhängigkeit von den Großeltern und der mangelnde Platz im Haus machen die Lage nicht besser.

Nur allmählich wachsen winzig kleine Wurzeln und finden fruchtbaren Boden zum Verwurzeln. Im Fall der Mutter ist es der Aushilfsjob, der ihr Spaß macht, und der Kontakt zu einer alten Klassenkameradin. Aber auch dieser Kontakt ist durchwachsen, da die Klassenkameradin, Levins Mutter, geistig erkrankt ist.

Emma findet in Levin einen neuen Freund, wobei aber auch diese Beziehung nicht unbelastet ist. Außerdem entflieht sie dem Alltag, indem sie in der Ostsee schwimmt, die aber, wie sie immer wieder anmerkt, nicht das Meer Dublins ist. Erschwert ist auch die Hinfahrt zum Meer, denn sie hat nur das alte DDR-Klappfahrrad als Vehikel.

Ihre Schwester Aoife findet in der alten Nachbarin jemanden, der ihr beim Schweigen zuhört, die die anderen aber eher seltsam finden. Und die deutschen Großeltern tun sich mit der Empathie für ihre irischen Verwandten schwer, zumal sie ihrer Tochter nachtragen, dass sie sie wegen ihres Mannes verlassen hat.

Aber auch hier wachsen erste zarte Wurzeln, als z.B. der Großvater für Emma ein Bett baut, sodass sie nicht länger nur auf ihrer Matratze schlafen muss. Diese kleinen gegenseitigen Annäherungsversuche an das jeweils Fremde sind zwar steinig, aber mit Erfolg gekrönt, sodass sich langsam ein Sog in Richtung eines neuen, nicht mehr so schlimmen Alltags entwickelt. Natürlich denkt man als LeserIn dabei an die diversen Flüchtlingskrisen, die zur Menscheitsgeschichte immer schon dazugehört haben. Und an die Entwurzelung, z.T. auch die Entwertung der geflüchteten Menschen, die oft nicht willkommen waren und es dadurch noch schwerer als ohnehin schon hatten. Vielleicht will das Buch u.a. Empathie wecken für solche Entwurzelten, weil es das mühsame Verwurzeln so ausführlich beschreibt.

Schwierige Familienverhältnisse

Dass es immer mal wieder Schwierigkeiten, auch gerne in diversen Abstufungen, in Familien gibt, ist wohl jedem bekannt. Emma trifft es allerdings härter, weil sie einen Alkoholiker in ihrer Familie hat. Und sie ist hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu ihrem Vater und v.a. zu ihren irischen Großeltern und der Liebe zu ihrer Mutter, die von Frust und Wut bgleitet wird, weil die Mutter unerreichbar weit von der irischen Verwandtschaft wegzieht. Auf der anderen Seite zeigt sie aber auch Ansätze, ihre Mutter und deren Entscheidung zu verstehen. Die Entfremdung zu ihrer deutschen Verwandschaft trägt allerdings nicht dazu bei, ihre Situation zu verbessern.

Auch Levins Familienverhältnisse sind schwierig. Die Mutter, vorher eine hoch dotierte Biologin, ist schwer psychisch erkrankt und belastet die Familie sehr. Ihr Selbstmordversuch am Schluss des Buches ist die Spitze vom Eisberg, unter dem die Familie schon seit Jahren leidet. Die beiden Brüder leiden aber auch an der Unfähigkeit des hilflosen Vaters, mit der Situation umzugehen. In dieser Familie ist praktisch jeder auf sich allein gestellt mit seinem Kummer.

Mit schwierigen Situationen umgehen lernen

Das Buch bietet keinen perfekten Lösungsweg. Es beschreibt eher, wie sich die Figuren an schwierige Situationen herantasten, stolpern, versuchen, damit umzugehen, wieder stolpern usw. bis es irgendwann erträglich und vielleicht sogar besser wird. Es gibt nicht den einen Weg, sondern ein ständiges Tasten und try and error – wie auch im echten Leben. Trotzdem sind immer wieder gute Lösungsansätze zu sehen wie z.B. Hilfsbereitschaft, die Bereitschaft zuzuhören, Schweres gemeinsam auszuhalten, denken und ausprobieren, miteinander kommunizieren, erste Schritte aufeinander zugehen, den anderen in seiner Entscheidung respektieren. Dass es dabei auch immer wieder Meinungsverschiedenheiten und Streit gibt, ist normal. Der Weg zueinander wird aber ebenso oft gesucht, auch wenn es manchmal dauert.

Sonstiges

Das Buch stellt sich den Schwierigkeiten, die es vor den LeserInnen ausbreitet. Aber vielleicht ist es zu überfrachtet mit all diesen Schwierigkeiten, die mal eher angedeutet, mal ausformuliert werden. Ich persönlich fand es etwas sperrig zu lesen, was nicht an der Satzlänge liegt. Die ist in Ordnung. Mir macht eher die Distanz zu schaffen, denn ich bin nicht wirklich warm geworden mit den Figuren, auch nicht mit der Hauptfigur. Vielleicht liegt es daran, dass Emma für einen Teenager viel zu erwachsen wirkt, trotz der Schwierigkeiten. Für mich ist die Darstellung der Figuren insgesamt zu gedeichselt, um noch plausibel zu wirken. Das Buch mutet wie eine typische Schullektüre an, die man als Teenager gezwungen ist zu lesen, weil sie so viel Lehrreiches vermittelt, danach aber nie mehr anrührt. Da ändert auch die Tatsache nichts, dass die Autorin u.a. schon für Preise nomminiert war und diese z.T. auch gewonnen hat.

Fazit

Das Thema Entwurzelung ist nach wie vor sehr aktuell, das Thema familiäre Schwierigkeiten sowieso und diese Themen werden im Buch gut herausgearbeitet und beleuchtet. Trotzdem ist eine Distanz vorhanden, die es LeserInnen schwer macht, mit den Figuren warm zu werden.


Genre: Jugendbuch
Illustrated by Carlsen Verlag Hamburg

Der Welten-Express: Erster Teil der großen Trilogie

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Magisch, gefährlich, heimelig – der Welten-Express

“Nacht für Nacht sitzt Flinn Nachtigall an einem stillgelegten Bahnhof: dem Ort, wo zwei Jahre zuvor ihr Bruder verschwand. Bis eines Abends ein Zug einfährt, gezogen von einer gewaltigen, rauchspukenden Lokomotive. Und Flinn…

…stürzt als blinde Passagierin in das Abenteuer ihres Lebens! Denn der Zug ist der Welten-Express, ein fahrendes Internat voller außergewöhnlicher Jugendlicher, angetrieben mit magischer Technologie. Ein Ort, an dem Flinn Freunde findet – und Feinde. Ein Ort voller Geheimnisse. Doch das größte Geheimnis verbirgt Flinn in sich selbst…” (Verlagstext der Inhaltsangabe)

Das Cover

… bildet eigentlich schon alles Wesentliche des Buches ab, ohne von der Geschichte zu viel zu verraten – gerade genug, um die potentiellen LeserInnen neugierig zu machen: Die meisten der Hauptfiguren, die relevanten magischen Tiere, den Welten-Express selbst, ein paar der vorherrschenden magischen Utensilien und den Sternenhimmel. Schön gestaltet in zentralen Farben und glänzendem Reliefdruck lädt das Hardcoverbuch zum Reinschmökern ein.

Der Prolog

… klärt, worum es dem Gründer des Welten-Expresses geht: armen Kindern und Jugendlichen die Chance geben, ihr Potential zu entfalten, um in der Welt eine außergewöhnliche Rolle zu spielen. Die rollende Schule mit eigenen, von den Schulen der Welt unabhängigen Regeln soll nicht nur Bildung vermitteln, sondern auch eine sichere Heimat werden für die sozial benachteiligten, vernachlässigten und/oder verwaisten Kinder. Diese schon im Prolog herausgestellte wichtige soziale Komponente der Ausbildung könnte durchaus eine kritische Anspielung auf das deutsche Schulsystem sein, in dem sozial schwächer gestellte Familien oft bildungsfern und deren Kinder in der Schule nicht die gleichen Chancen haben wie in sozial besser gestellten Familien.

Eine sichere Heimat

… ist allerdings ein angestrebtes Ideal, wie Flinn schon eine erste Ahnung nächtens im Zug überkommt und die sich im Laufe der Zeit zur Gewissheit verdichtet: Die Magietechnologie entpuppt sich als gefährlich. Die Verbindung von (Dampf-)Technologie und Magie spielt in der Geschichte eine wichtige Rolle und erinnert an Steampunk Fantasy. Auch Kasims Frisur und Pegs’ außergewöhnlicher Kleidungsstil passt zu diesem Fantasy-Genre, ebenso der “Kohlenjunge” Fedor und die Schutzbrille von Mme Florett.

Ein Hauch von Harry Potter

… umweht die LeserInnen permanent beim Lesen. Nicht nur die Benutzung von Schuluniformen und ein Zug, der ein wenig an den Hogwarts-Express erinnert, sondern auch die Konstruktion einer  eigenen, magischen und gefährlichen (Schul-)Welt, die neben der realen existiert, sowie der vordergründig bösen Lehrperson und deren jungendlichen Gehilfen lässt einen vermuten, dass die Autorin “Harry Potter” zumindest gekannt, daraus Anregungen geschöpft und mit eigenen Ideen vermischt hat. Diese Kombination ist definitiv gelungen, denn der Welten-Express liest sich spannend.

Weiblich und männlich

… eine Frage des Rollenklischees. Die Autorin lehnt sich an Gender-Theorien an, indem sie ihrer Hauptperson Flinn absichtlich nicht nur einen geschlechtsunabhängigen Namen gibt, sondern auch immer mal wieder einfließen lässt, dass sich Flinn so kleidet und benimmt, dass man sie auch für einen Jungen halten könnte bzw. sich ihres Geschlechts nicht sicher sein kann. Biologisch ist die 13-jährige Flinn noch nicht so weit, dass man ihr den weiblichen Aspekt ansieht. Flinn hat sich automatisch von Rollenklischees befreit, weil sie ihr ureigenes Wesen lebt. Und das hängt bei ihr nicht von einer gesellschaftlichen Rolle ab. Somit ist sie ein Vorbild, das zeigt, wie man sich von diskriminierenden Rollenklischees befreien könnte – einfach, indem man nichts auf sie gibt. Das gilt nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer.

Trotzdem bestreitet auch sie eine Queste, zu der immer die Charakterentwicklung gehört. Das passt zur Pubertät, in der die Kinder zu Erwachsenen heranreifen und sich selbst finden lernen. Flinn, die sich ihres Wertes nicht bewusst ist, soll lernen, diesen zu finden und zu schätzen. Deswegen ist sie anfangs ein sogenannter Pfog, der sich zum Pfau entwickelt und wie dieser in all ihren Facetten schillern darf.

Schillernd

… ist auch die Sprache, die im Buch verwendet wird. Die Autorin arbeitet gern z.B. mit Personifikationen, Vergleichen, schmückenden Adjektiven und abwechslungsreichen Verben, die schon in der Sprachgestaltung die magische Welt widerspiegeln, die sie Stück für Stück der Leserschaft preisgibt.

Fazit

Ein durch und durch gelungenes Buch, das Lust macht auf die Fortsetzungen.


Genre: Jugendbuch
Illustrated by Carlsen Verlag Hamburg

God‘s Kitchen

Die 19-jährige Studienanfängerin Celine ist hypersensibel und verfügt über eine Gabe, die sie zunehmend als Last empfindet: Ab und an erscheinen ihr Visionen, die sich als tatsächliche Ereignisse in naher Zukunft herausstellen. Ihre Eltern, die in einem Zugunglück umkamen, das das Mädchen voraussah, schenkten den verzweifelten Warnungen ihrer Tochter keinen Glauben und zahlten mit ihrem Leben. Ein Studienfreund, den sie vor einem Unfall mit dem Fahrrad warnt, kommt zwar mit dem Schrecken davon, aber er meidet daraufhin Celine, weil sie ihm nicht ganz geheuer ist.
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Genre: Jugendbuch
Illustrated by Loewe Bindlach

Die Elefanten meines Bruders

Billy Hoffmann will mit seiner Familie zu einer Zirkusvorstellung gehen. Unterwegs erlebt er Schreckliches: Sein älterer Bruder Philipp wird von einem tonnenschweren Reisebus erfasst, der ihn durch die Luft schleudert. Er stirbt. Die entsetzte Mutter, so das Bild, das sich unauslöschlich in das Kind einbrennt, steht schreiend an der Böschung, wo der Tote hingeschleudert liegt. Blut befleckt ihren neuen Mantel. Weiterlesen


Genre: Jugendbuch, magischer Realismus, Romane
Illustrated by Kindle Edition

Erebos

An einer Londoner Schule geschehen rätselhafte Dinge. Schüler tauschen geheimnisvolle Päckchen aus, und selbst gute Freunde benehmen sich untereinander seltsam. Nick versucht heraus zu finden, was geschieht. Doch er blickt erst durch, als auch er in den Kreis der Eingeweihten aufgenommen wird und eine geheimnisvolle CD erhält. Weiterlesen


Genre: Jugendbuch, Thriller
Illustrated by Loewe Bindlach