Maeve Chambers hat im Gegensatz zu ihrer intelligenten Familie keine besonderen Talente. Als sie aber eines Tages in ihrer Schule ein altes Tarot-Kartenset findet, ändert sich ihre Situation grundlegend: Sie kann ihren Mitschülerinnen genau ihre Situation beschreiben und exakte Voraussagen treffen. Die Kartensessions bei ihr sind sehr beliebt – bis sie mit ihrer ehemaligen besten Freundin Lily in Streit gerät und Lily daraufhin spurlos verschwindet. Lilys nichtbinärer Bruder Roe, der wegen Maeves schlechtem Verhalten Lily gegenüber ihr erst einmal skeptisch gegenübersteht, nährt sich ihr aber im Laufe der Zeit. Es entsteht eine nicht unkomplizierte Beziehung zwischen den beiden, in der sie über ihre Gefühle zueinander klar werden müssen. Und beide wollen Lily wiederfinden. Unterstützt werden sie von Maeves neuer Freundin Fiona, die durch ihre asiatische Herkunft Vorurteilen ausgesetzt ist. Sie finden Hilfe in einem esoterischen Laden, dessen Besitzerin Maeve das zweite Gesicht und damit paranormale Fähigkeiten bescheinigt. Die braucht sie auch im Kampf gegen die erzkonservativen Kinder Brigids und deren Anführer Aaron und gegen die Mamsell, eine Macht, die sich aus den Gedanken der Menschen materialisiert hat.
Gegen den Strom schwimmen und das Verschwinden als Metapher für den Wunsch einer Mainstreamgesellschaft, nicht-konforme Menschen auszugrenzen, zu bekämpfen und unsichtbar zu machen
Der in sich abgeschlossene Roman spricht mehrere nicht-konforme, dem Mainstream entgegenstehende Themen an: Das Leistungsprinzip, vertreten durch die Familie Maeves, die intelligent ist und „es zu etwas gebracht“ hat (wobei Maeve entgegen eines Schwarz-Weiß-Denkens von ihrer Familie nicht unter Druck gesetzt wird). Maeve als ein Mädchen ohne gewinnbringende Talente und mit bescheidenen Noten scheidet aus dieser Leistungsgesellschaft aus. Sie entspricht also in dieser Hinsicht nicht dem Mainstream. Ihre Gabe des zweiten Gesichts wird allerdings unter dem Aspekt des Gewinnstrebens in Form von bezahlten Tarot-Sessions mit ihren Mitschülerinnen von diesen akzeptiert, da die Trefferquote Maeves sehr hoch ist. Mitthematisiert wird außerdem das Ausgrenzen und das (ungewollte) Außenseitertum Maeves und ihrer ehemaligen Freundin Lily. Auch Lily ist nicht gesellschaftskonform und macht deswegen wie Maeve immer wieder bittere Erfahrungen. Maeve will aus diesem Außenseiterstatus raus und entscheidet sich (mit den entsprechenden Konsequenzen) gegen ihre beste Freundin Lily und für zwei Mädchen, die sie letztlich zwar nicht leiden kann, die aber in der Klasse einen höheren Status als sie besitzen. Maeve hofft dadurch in der Hierarchie aufzusteigen, was aber letztlich misslingt. So wird indirekt auch das Hierarchiedenken infrage gestellt und kritisiert, weil es einem guten gesellschaftlichen Klima nicht nützt.
Lilys Bruder Roe ist nichtbinär, lässt sich also keinem Geschlecht zuordnen. Damit steht er ebenfalls außerhalb der Gesellschaft und macht schlechte Erfahrungen durch Repressalien. Die konforme Gesellschaft wird durch die Kinder Brigids in ihrer Extremform vertreten. Sie wollen „Normalität“ unter dem Deckmantel der Religion und greifen die queere Bewegung an. Zuspruch erhalten sie von der Gesellschaft, die im Buch in Form eines Radioreporters, der sich vom Charisma des Anführers der Kinder Brigids einlullen lässt, vertreten wird, aber auch von Roes Eltern, die nicht unbedingt glücklich mit gleich zwei nonkonformen Kindern sind. Aber auch diese Eltern werden nicht schwarz-weiß gezeichnet: Sie machen sich Sorgen um ihre Kinder und lieben sie, anstatt sich von ihnen abzuwenden. Aber selbst die Kinder Brigids sind nicht „normal“: Ihr Anführer Aaron hat wie Maeve das zweite Gesicht – nutzt dieses aber, um andere für seine eigenen Zwecke in Guru- und Sekten-Manier zu manipulieren und auszunutzen.
Fiona hat als Migrantin in zweiter Generation ebenfalls mit Vorurteilen zu kämpfen, die im Buch immer mal wieder angesprochen werden. Alle Hauptpersonen sind also nach eindimensionalen Maßstäben „nicht normal“, finden aber trotzdem einen Weg, in der Gesellschaft zu bestehen. Dieser Weg besteht hier v.a. darin, die Unterschiedlichkeit der anderen anzuerkennen, zu akzeptieren und sich in aller akzeptierten Unterschiedlichkeit zusammenzutun, um etwas gegen Unrecht bewirken zu können. Dabei braucht man sich nur einmal die Natur selbst anzuschauen: Diversität/Artenvielfalt und deren Vernetzung scheint ein grundlegendes Prinzip der Natur zu sein, um Leben zu sichern. Der Weg besteht aber auch darin, die Gegenseite kennenzulernen, um sie besser einschätzen zu können. Parallelen zur irischen Geschichte (die Story spielt in Irland) sind sichtbar. Insgesamt wird aber auch eine gesellschaftliche Haltung hinterfragt, die von Normen und deren starrer Einhaltung ausgeht und die alles, was anders ist, verunglimpft und bekämpft. Negative Vorstellungen über Kirche und gewisse Parteien drängen sich geradezu auf.
Auch der Titel „All unsere versteckten Gaben“ passt sehr gut zu der erzählten Story. Es müssen nicht immer nur die offiziellen erwünschten Gaben sein, die eine Gesellschaft lebenswert machen. Oft sind es die verschleierten Gaben, die man aufgrund des Unerwünschtseins evtl. selbst erst einmal gar nicht herausfindet, die eine Gesellschaft reich(haltiger) machen.
Verpackt werden all diese Thematiken in eine spannende Story über das Verschwinden eines Mädchens und der Suche nach ihm, mit dem durchgängigen Touch des Mysteriösen und der Anspielung darauf, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt, als offiziell anerkannt wird. Auch die Selbstfindung ist unter den dargestellten schwierigen Umständen ein zentrales Thema dieses Buches.
Sehr empfehlenswert!