Oracle

Ursula Poznanski schickt ihren Protagonisten Julian, einen gehemmten und von nebulösen Visionen heimgesuchten jungen Mann in ein Studentenheim, wo er auf Gleichaltrige stößt, die ihm teilweise Angst machen. Seine besondere Fähigkeit und zugleich auch seine Last ist, an seiner Umwelt »Marker« festzustellen, die ihn auf ein mögliches zukünftiges Risiko aufmerksam machen. Julian sieht betroffene Menschen nur teilweise, Nebel quillt aus ihren Augen, auf einem Hinterkopf klafft eine Wunde, manche Teile des Körpers der Markierten sind vollständig farbig umwolkt und geben ihm Rätsel auf.

Die Autorin widmet sich also dem Thema der Vorhersehung und räumt ihrem Helden die Position eines Orakels ein, so der Titel des flüssig geschriebenen Jugendbuches. Präkognition fällt in den Bereich der Parapsychologie, der wissenschaftlichen Untersuchung von paranormalen Phänomenen wie Telepathie und Hellsehen. Diese Phänomene sind weitgehend unerforscht, manche Menschen berichten aber davon, und so ist Julians »Wahn« auch nicht aus der Luft gegriffen, sondern sehr wohl real möglich.

Der Konflikt, in den Julian gerät, ist nun eine mögliche Ableitung von Vorhersagen auf sein künftiges Handeln und die Möglichkeit der Beinflussung des Schicksals der Personen, die ihm begegnen. Er möchte verhindern, was er vermutet, vor sich sich zu sehen. Nun ist es nicht leicht, ein Gott zu sein, der Ereignisse, wenn auch nur nebulös, vorhersieht und eingreifen will. Julian erlebt durchaus Erfolge, wenn er beispielsweise einen Mitbewohner zum Arzt schickt, der dann eine akute Blinddarmentzündung diagnostiziert und rechtzeitig eingreifen kann. So bekommt der junge Mann recht schnell einen Bekanntheitsgrad und wird von Geschäftemachern und Boulevardjournalisten aufs Korn genommen.

Als er bei seiner ihn betreuenden Psychologin Marker sieht und diese in Bezug bringt zu deren Ehemann, einem Arzt, beginnt der eigentliche Thriller. Kann es sein, dass die wohlhabende Mutter der Psychologin von ihrem Schwiegersohn durch Medikamentengabe getötet werden soll, um an ihr Geld zu kommen?

Julian wagt sich weit vor und gerät in ein Handlungsgeflecht, das den Leser gefangen nimmt.

Die Autorin versteht es geschickt, die Spannung aufzubauen, ohne dabei ins Absurde abzudriften. Damit entspricht sie auch ihrem Erstling »Erebos«, den ich vor weit über zehn Jahren regelrecht verschlungen habe. »Oracle« ist insofern ein Jugendbuch, das Themen der Zeit berührt und spannend verarbeitet.


Genre: Jugendbuch, Thriller
Illustrated by Loewe Bindlach

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