Hätte Milan den Mut aufgebracht, seine Schulfreundin Jo an ihrem 17. Geburtstag endlich einmal zu küssen, wäre das Mädchen wohl kaum in den Tod gestürzt. Mit diesem szenischen Prolog, der tragisch endet, eröffnet Mira Valentin ihren packenden Jugendroman.
»Junger Mann zum Mitreisen gesucht« stand auf Schildern, die an bunten Zirkuswagen lockten, wenn früher einmal pro Jahr ein Zirkus meine Heimatstadt besuchte. Dieses Angebot ließ viele Heranwachsende träumen, davon zu laufen in die vermeintlich weite Welt und ein abenteuerliches Leben als Vagabund, Tramp oder Clown zu führen.
Milan, dessen große Liebe vor seinen Augen starb, wird durch eine derartige Offerte angesprochen. Er möchte seinem Leben einen Sinn geben und schließt sich dem Wanderzirkus »Salto« an, der einen Mitreisenden sucht. Schnell integriert er sich und wird von seiner neuen Familie künftig nur »Mitreiser« genannt.
Seine Probleme und Schwierigkeiten schleppt Milan auch in die neue Umgebung mit. Der schwer beziehungsgestörte Junge verletzt sich immer wieder selbst, um seine Gespenster loszuwerden. So nennt er die Depressionen, die bei den kleinsten Rückschlägen aus seinem Unterbewusstsein emporsteigen und ihn beherrschen wollen.
Er füttert die dunklen Schatten mit Selbstverletzungen, die im Grunde eine Qual darstellen, die aber gesellschaftlich so akzeptiert sind, dass man sich mit ihnen selbst schädigen kann, ohne Fragen beantworten zu müssen – rabenschwarzer Kaffee, Zigaretten, Alkohol, Tätowierungen. Alles hilft ihm auf der Flucht vor den Gespenstern, wenn auch manchmal nur für Minuten. Wird es ganz schlimm, greift er zur Rasierklinge und ritzt sich.
Valentins Roman schildert ein Jahr in Milans Leben, in dem er trotz wiederkehrender Selbstzweifel reift und zu sich selbst findet. Er integriert sich in die Zirkuswelt und lernt von Dompteuren, Clowns und Artisten, wie man sich gegen die Außenwelt und deren Vertreter abschotten kann. Sie dienen ihm als Netz, um Abstürze ins schwarze Löcher zu verhindern. Gemeinsam betrachten sie den Zirkus als letztes Refugium, in dem Magie noch groß geschrieben wird. Milan lernt, mit Pferden zu flüstern und eigene Dressurnummern aufzubauen. Er findet ein Seelentier in einem weißen Vogel, der ihm hilft, gute und böse Menschen zu unterscheiden.
Und natürlich lebt in dem Zirkusrund auch eine junge Frau, die seine seit dem tragischen Tod seiner Freundin vereisten Gefühle weckt. Als eine Mischung zwischen Lara Croft und Pippi Langstrumpf bringt die Hochseilartistin Julie das Eis zum Schmelzen, das Milans Herz verschließt. Dabei wurde auch ihre Seele von ihrer Mutter schwer verletzt. Als Mitreiser und Überfliegerin entwickeln beide eine eigene Darbietung, in der sie zu Tarzan und Jane werden.
Intim und einfühlsam beschreibt die für diese Arbeit mit dem Kindle-Storyteller-Award ausgezeichnete Autorin Mira Valentin die wundervoll schüchterne Beziehung zwischen den beiden, und führt den Leser damit zu ihrem eigentlichen Thema. Denn sie plädiert, dass Menschen ihrem eigenen Stern folgen müssen, um sich zu eigenständigen Persönlichkeiten zu entwickeln. Sie kämpft für die Rettung der Magie als letzte Insel der Glückseligkeit in einer Welt der Gleichförmigkeit und Angepasstheit. Und sie hält die Liebe für das einzige Fundament, das in in einer Welt voller Kostüme wirklich trägt.
Dieses Buch wurde für Jugendliche geschrieben, die auf der Suche nach dem eigenen Weg sind. Es ist positiv, macht Hoffnung und inspiriert. Zudem spürt man bereits in den ersten Sätzen das erzählerische Talent der Autorin: Mira Valentin kann schreiben und ihre Leser packen.
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