Die Wahrheit sagen

Leben und Lieben in Zeiten des Krieges

formánek_mluviti-pravdu_coverJosef Formáneks zweiter Roman. In einer Straßenbahn auf die Welt gerutscht wurde der kleine Bernhard Mares von seiner Mutter bald weggegeben und seinem Schicksal überlassen. Mehr aus Zufall denn Überzeugung landet der „Sudetendeutsche“ bei der Waffen-SS und ist dort zwar nur der Fahrer, aber dennoch auf der Seite der Gewinner. Vorläufig. Als Kind hatten ihn seine tschechischen Klassenkameraden immer gehänselt, weil er der Deutsche war, als Erwachsener merkt er, dass er vielmehr Österreicher ist oder eigentlich sogar Tscheche. Und beinahe am Ende seines Lebens, auf der Suche nach seiner verschollenen Mutter in Caracas, findet er heraus, dass er eigentlich Jude ist. Sein ganzes Leben erzählt Mares – in einer Art Lebensbeichte – dem Schriftsteller Josef Formánek, der sich mit diesem auch im Buch im Dialog befindet. Selbst gezeichnet von seiner Alkoholsucht und dem gleichzeitigen Ekel und der Faszination an seiner Figur gelingt es Formánek ein wahrhaftiges Porträt eines Menschen zu zeichnen, das ehrlicher nicht sein könnte. Nicht umsonst lautet der Titel ja: „Die Wahrheit sagen“.

Wahre Liebe wartet

Der vielschichtige zweite Roman des tschechischen Schriftstellers, der gleichzeitig auch einen Verlag gegründet hat, um die Literatur seines Landes in der Welt besser bekannt zu machen, beginnt auf einer Müllhalde wo der Journalist dem Protagonisten begegnet. Der eine will eine Geschichte, der andere seine Sophie zurück. Die Liebschaft aus den Tagen bei der SS ist eigentlich auch der rote Faden dieses Lebens, denn eine wirkliche wahrhaft große Liebe kann einem tatsächlich das Leben retten. So geschehen im Falle Bernhard Mares, der zwanzig Jahre seines Lebens im Gefängnis verbrachte um dann als „letzter deutscher Soldat des Zweiten Weltkriegs aus der Gefangenschaft entlassen zu werden“. Das war erst 1969, das Jahr in dem Josef Formánek gerade seinen ersten Schrei in die Welt abgab. Denn obwohl es Mares nach dem Krieg bis zum kommunistischen Kreissekretär gebracht hatte, holte ihn doch die Vergangenheit ein. Eine seiner Liebschaften hatte ausgeplaudert, dass er früher einmal bei der SS war. Aber die große Liebe, Sophie, die trifft er immer wieder, wegen ihr bricht er sogar dreimal aus dem Gefängnis aus, nur um sie wieder zu “im Heustadel zu lieben” wie einst. Die Liebe ist aber genauso unmöglich wie sein Leben und am Ende, bei der letzten Begegnung in einem Prager Café muss wohl auch er einsehen, dass er sich getäuscht hat. Oder doch nicht? “Warum?” frägt er sie zuletzt noch, ihre Antwort: “weil es sonst ewig so weitergegangen wäre”. Lesen Sie es selbst wie Mares rückwärts: “remmi rüf”.

Einsiedlerkrebs auf Quartiersuche

Die Sprache des Romans erinnert an Bukowski, Céline, Kafka und zuletzt auch Hrabal, denn sie ist geradlinig, ehrlich und nimmt sich kein Blatt vor den Mund. Stilistisch ist es als Dialog konzipiert, der immer wieder von lateinischen Zitaten und Sinnsprüchen unterbrochen wird. Der aufmerksame Leser wird auch bemerken, woher diese Sprüche stammen, wie sie den Krieg überlebten und wo er sie sich hinstecken kann. Die Reflektionen Formáneks, seine Gedanken über den Sinn des Lebens, die Liebe und den Tod, die er Mares in den Mund legt, sind prätentiös und wahrhaftig und reißen einen tatsächlich vom Hocker, etwa wenn er die Geschichte des Einsiedlerkrebses in seinem Kleiderkasten erzählt, der sich immer wieder größere Behausungen sucht, aber letztlich in seinem Schrank vertrocknet, weil er nichts größeres mehr findet. „Zum anderen, weil im Dunkel, in der Einsamkeit hinter dem Schrank, nicht nur Einsiedler sterben“, schreibt Formánek nicht ganz ohne Selbstmitleid. Immer wieder betont er auch, dass wir selbst die Meister unseres Schicksals wären und uns unser Leben ja auch selbst aussuchten, wie es auch in der psychologischen Richtung des Konstruktivismus heißt. „Nur in der Gegenwart, im einzelnen Augenblick kann man die Zukunft finden.“, alle Fragen nach dem Sinn seien aber sinnlos. Am Ende vergisst Josef Formánek auch nicht darauf eine von vielen Pointen einzubauen, denn als Mares von dem Buch erzählt in dem ein Computer die Wahrheit über den Sinn des Lebens errechnet und ihn dann ausspuckt lautet die Antwort im Gegensatz zum Original nicht „42“, sondern „48“, das Jahr in dem die Kommunisten die Tschechoslowakei für sich reklamierten.

Ein tiefsinniger Roman, den man gelesen haben muss, da er in seiner Vielschichtigkeit und Ehrlichkeit mindestens so viel über den Sinn des Lebens vermittelt, wie die lateinischen Zitate, die der Autor so gerne verwendet: Victrix fortunae sapientia (Siegerin über das Schicksal ist die Weisheit).

Josef Formánek
Die Wahrheit sagen. Brutaler Roman über die Liebe zum Leben.
Gekko Verlag
480 Seiten
ISBN-13: 978-8090635401
23 Euro


Genre: Biographien, Briefe, Dokumentation, Dystopie, Erinnerungen, Liebesroman, Memoiren, Politische Romane
Illustrated by Gekko

Die tote Kuh kommt morgen rein

tote Kuh Erstens kommt es anders und zweitens schneller als man denkt. Eben noch hatte sich Reporter Ralf Heimann relativ kommod eingerichtet in der Redaktion der lokalen Tageszeitung seiner immerhin mittelgroßen Heimatstadt, schon fand er sich im Strom der täglichen Pendler wieder. Anders als die Meisten jedoch nahm er die entgegengesetzte Richtung, lebte weiter in der Stadt und arbeitete fürderhin für ein sich unendlich vor ihm ausdehnendes Jahr in der Ödnis des (fiktiven) Kaffs Borkendorf. Als Lokalredakteur beim (ebenfalls fiktiven) Borkendorfer Boten.

Ich hätte mir was Besseres vorstellen können. Ein gebrochenes Bein zum Beispiel. Oder eine Steuernachzahlung. Aber man wird ja nicht gefragt.” Wenn man als Einziger ein Auto hat und eine Erziehungsurlaubs-Vertretung (Erziehungsurlaub kommt ja bekanntermaßen immer so überraschend wie Weihnachten) schnellstmöglich geschickt werden muss – dann muss eben einer dran glauben und das Hohelied der prunklosen Prunksitzungen, Weihnachtsfeiern im März und Tauben-Ausstellungen an Landfrauen-Treffen nach Schützenfest-Orgien schreiben. Und die tote Kuh morgen rein setzen. Doch auch wenn auf dem Land beileibe nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen ist und auch des Reporters Trinkfestigkeit zumindest zu Beginn des Jahres nicht ganz mit der der Landbewohner mithalten kann – es ist auch nicht alles schlecht dort in Borkendorf.

Ich sach’s ja – ein großes Bild ist schnell geschrieben” Ralf Heimann, Autor von “die tote Kuh kommt morgen rein” weiß, wovon er schreibt. Mehr oder weniger zufällig avancierte er in den letzten Jahren zu so etwas wie einem Kronzeugen des Lokaljournalismus. Sechs Jahre ist es her, da entfachte er mit einem Tweet einen wahren Blumenkübel-Hype, über den sich halb Deutschland amüsierte und der zu einem Lehrstück in Sachen Verselbstständigung von Social Media Phänomenen wurde. Heimann arbeitete lange Jahre als Lokalredakteur im westfälischen Münster, startete vor einiger Zeit mutig die von ihm in der Hoffnung auf nicht-selbsterfüllende Prophezeiung sogenannte Operation Hara-Kiri, welche man auf seinem gleichnamigen Blog verfolgen kann und machte sich als freischaffender Journalist mit Schwerpunkt Absurdität des Lokaljournalismus in diversen Projekten selbstständig.

“Die tote Kuh” war das Erste dieser Projekte und darf gut und gerne als gelungen bezeichnet werden. Die größte und auch einzige Schwierigkeit, vor die sich der geneigte Leser und Rezensent dabei gestellt sieht, ist die Klassifizierung. Genauso ungerne wie sich Ralf Heimann in eine Schublade stecken lässt, genauso ist das Buch schwer einzuordnen. Ist es eine autobiographisch geschriebene Doku-Soap, ein Roman im Reporterstil, eine Reportage im Romanstil? Aber geschenkt – Schubladen neigen bekanntlich dazu, zu klemmen. Beschränken wir uns darauf, das Buch als das zu bezeichnen, was es ohne Zweifel ist: ein gefälliges, erfreuliches Lesevergnügen.

Ralf Heimanns Stärke ist – das weiß, wer ihm und seinen pointierten 140 Zeichen Rezensionen auf Twitter folgt – die augenzwinkernde Überspitzung. Genauso ist auch die tote Kuh zu verstehen, quasi ein Heimatroman der etwas anderen Art. Heimann kann gut über sich selbst lachen, nimmt sich daraus aber nicht unbedingt das Recht, auch über andere zu lachen. Er nimmt seine Protagonisten – auf beiden Seiten der Berichterstattung – zwar nur zu gerne auf den Arm, er tut dies aber nicht ohne Sympathie für die auftretenden Personen. Belustigung ist durchweg zu spüren, aber nie Herablassung. Dieser Balanceakt gelingt ihm außerordentlich gut, zumal mit einer durchweg flotten Schreibe versehen. Er hat einen sehr genauen Blick, nicht nur auf die Landbewohner und ihre teils sehr gewöhnungsbedürftigen Freizeitbetätigungen, sondern auch und gerade auf die, die darüber berichten und die aus jeder kleinsten Belanglosigkeit eine Nachricht zu stricken vermögen.

Dazu kommt: In Zeiten, in denen die Sehnsucht nach dem einfachen Leben auf dem Land geradezu messianische Züge annimmt und Magazine wie Land und Lustig oder wie sie eben alle heißen mögen, sich dem Zeitungssterben erstaunlich erfolgreich entgegenstemmen, kann man in der toten Kuh eine Menge Wahrheiten über die ganz speziellen Risiken und Nebenwirkunden des Landlebens erfahren. Denn das, worüber der Lokalreporter berichtet, ist letztendlich ja genau das, womit sich der Landlebende arrangieren muss. Getreu der alten Weisheit: Lärm gibt es schließlich auch in der Großstadt, der auf dem Land ist nur anders.


Genre: Dokumentation, Sachbuch
Illustrated by Scherz Frankfurt am Main

Die Roma von Oberwart

„Die Roma von Oberwart“ lautet der Titel eines in der edition lex liszt herausgegebenen Buches von Helmut Samer, das mit Unterstützung des Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus und der Kulturabteilung beim Amt der Burgenländischen Landesregierung erschienen ist und zur Geschichte und aktuellen Situation der Roma in Oberwart Stellung bezieht.

In einzelnen Kapiteln, die wiederum in thematische Gruppierungen unterteilt sind, wird sehr übersichtlich und anschaulich einerseits im Rückblick die Geschichte der burgenländischen Roma dargelegt, im anderen Teil, der sich mit der gegenwärtigen Situation – vorallem nach dem Attentat vom 4. Februar 1995 – beschäftigt, das aufgezeigt, was die burgenländischen Roma durch eigene Initiative und engagierte Tätigkeit für sich selbst erreicht haben; denn die nach dem Attentat von österreichischen Spitzenpolitikern versprochene Hilfe von außen war weder sehr groß, noch wirklich engagiert. Das war mehr ein Lippenbekenntnis und einmal mehr ein Akt der politischen PR-Selbstdarstellung denn eine Korrektur der eigenen Versäumnisse und Defizite. Anerkannt wurden die Roma in Österreich als Volksgruppe ja ohnedies erst 1993, also erst ein halbes Jahrhundert nach dem Holocaust, dem ein Großteil der Volksgruppe, ja des Roma-Volkes in Europa überhaupt zum Opfer fiel.

Die Geschichte der burgenländischen Roma wie auch der Roma und Sinti anderswo war und ist eine Geschichte der Unterdrückung, der Verfolgung, der Verweigerung und Verletzung von Menschenrechten. Ausgrenzung war das Mildeste, was den „Zigeunern“ passierte und noch immer passiert; hier und anderswo. Und sprach man von Integration, von „Assimilierung“, dann bedeutete dies – seit den Zeiten Kaiserin Maria Theresia’s – Zwangsmaßnahmen mit dem Ziel, die „Zigeuner“ zu disziplinieren, zu „zivilisieren“, d.h. ihnen die Kultur und Sprache des Mehrheitsvolkes aufzuzwingen und ihnen ihre eigene zu verbieten, zu nehmen, auszurotten.

Dabei handelte es sich bei den Roma um keine Immigranten im heutigen Sinn; denn sie waren bereits vor Jahrhunderten in ihre Siedlungsgebiete eingewandert und lebten schon lange Zeit mit – besser gesagt neben – dem Mehrheitsvolk und seiner Kultur; hatten sich auch weitgehend angepaßt, was die Umgangssprache in der Öffentlichkeit betraf, sprachen diese und auch andere Sprachen; denn sie reisten viel herum, über die Grenzen hinweg. Sie begriffen sich nicht als Staatsbürger, sondern als Zugehörige zu ihrem Volk und ihrer eigenen jahrhundertealten Tradition und Kultur. Vor langer Zeit waren sie aus Indien nach Europa gekommen, was man ihnen auch heute noch ansieht. Denn wenn man zum Beispiel einen burgenländischen Roma in Wien sieht, der den breitesten Dialekt spricht und vielleicht gar nicht mehr so gut sein Romanes, so schaut der vielleicht so aus, als wäre er gerade aus Kalkutta oder Bombay gekommen, so dunkel kann seine Hautfarbe sein. Vielleicht ist es allein das – dieses äußerliche Anderssein – daß er von vielen als Fremder, als Außenstehender angesehen und als solcher behandelt wird, weil er und seinesgleichen – „überhaupt solche Leute“, wie manche aus dem Mehrheitsvolk oft sagen – „mit uns eigentlich nichts zu tun haben“.

Schon ab dem 16. Jahrhundert sind die burgenländischen Roma aus Zentralungarn ins Gebiet des heutigen Burgenlandes eingewandert; genauso wie die Burgenlandkroaten vom kroatischen und dalmatinischen Küstenland, vom Norden Bosniens sowie vom Donaugebiet Slawoniens, die man ebenfalls gerne aufgenommen hat, weil viele Dörfer nach dem Dreißigjährigen Krieg und nach den Türkeneinfällen ausgestorben waren. Aber kaum hatten sich die Roma niedergelassen, auf ihre Weise mit ihren Pferdewagen, wurden sie auch schon wieder da und dort vertrieben. So ordnete zum Beispiel Kaiser Karl VI an, daß „die Zigeuner und jegliches liederliche Gesindel in Österreich“ ausgerottet werden sollten und daß aufgegriffene Roma mit Brandmalen auf dem Rücken zu kennzeichnen seien und sie geköpft werden sollten, wenn sie wieder zurückkämen. Wenig später (1726) steigerte er sich sogar noch, indem er eine Verordnung erließ, derzufolge alle männlichen Zigeuner hingerichtet sowie Frauen und Kindern ein Ohr abgeschnitten werden sollte, so man ihrer habhaft würde. Kaiserin Maria Theresia hingegen verfolgte eine andere , eine „humanere“ Politik. Sie wollte aus den Zigeunern „ordentliche“ und „nützliche“ Bürger machen; dies natürlich mit Zwangsmaßnahmen. So verfügte sie durch Verordnungen zwischen 1758 und 1773 eine „Zivilisierung“ und „Domicilierung“ der Zigeuner – sie sollten ihre alte Lebensweise aufgeben, sich (als „Neocoloni“/“Neubauern“) niederlassen und ein Handwerk lernen – was mittels eines repressiven Umerziehungsprogrammes erreicht werden sollte. In der Praxis bedeutete dies ein Verbot der eigenen Sprache und Kultur, Kindeswegnahme, Heiratsverbot unter Zigeunern, Zwangsansiedlung.

Nach der Regentschaft Josef II, der die zwanghafte Assimilierungspolitik seiner Mutter noch verschärft fortführte, gab es eine längere Periode der Beruhigung, während der sich die Roma innerhalb einer begrenzten Duldung erholen konnten, was zu einem Anwachsen ihrer Population, zur Seßhaftigkeit und zur Vergrößerung der „Zigeunerkolonien“ am Rande der Dörfer beitrug. Nachdem die erwachsenen männlichen Roma im Ersten Weltkrieg patriotisch ihr Leben für Gott, Kaiser und Vaterland eingesetzt und in vielen Fällen auch verloren hatten – „geopfert“ nannte man das – und sich in feindlichen Heeren auch gegenübergestanden waren, begann eine Phase neuer Repressalien durch behördliche Reglementierungen, welche die begrenzte Freiheit der Roma wiederum weiter einschränkte. Man sprach im Amtsdeutsch nun von „Zigeunerbanden“, derer man Herr werden müsse. Mit der Angliederung des Burgenlandes an Österreich kamen 1921 auch einige tausend Roma zu Österreich. Man versuchte nun, alle Roma personaldatenmäßig zu erfassen, sie mußten sich fotografieren und registrieren lassen. Seit 1928 führte das Bundespolizeikommissariat Eisenstadt eine „Zigeunerkartei“, in der rund achttausend Roma namentlich und mit Fingerabdrücken verzeichnet waren. Eine perfekte Vorarbeit war also damit geleistet für den Zugriff der späteren NS-Schergen und den rassistischen Massenmord an den Roma im Holocaust. Massive Propaganda und der aufblühende Nationalismus, die Begeisterung für das völkische Deutschtum taten das Ihre, um die Romafeindlichkeit weiter zu schüren und zu etablieren. Man sprach wiederum von der Asozialität der Roma, von ihnen als einer „Landplage“, einer „Kulturschande“.

Der spätere Gauleiter des Burgenlandes, Dr. Tobias Portschy, bediente sich bei der Formulierung seines Programmes zur Lösung der „Zigeunerfrage“ auch schon relativ früh des Begriffes „Ausmerzung“ und schlug als Mittel dafür Zwangsarbeit, Deportation, Sterilisation der Roma vor und forderte, dieses Problem einer „nationalsozialistischen Lösung“ zuzuführen; was später dann ja auch geschah, durch massenhafte systematische Ermordung im KZ. Nach dem Krieg und dem Ende der NS-Terrorherrschaft wurde dieser Mann etwa nicht als Propagandist und Wegbereiter für den Holocaust und die Ermordnung burgenländischer Roma-Mitbürger behandelt; nein, der Herr war dann sogar in einem Sparkassenvorstand und bewegte sich in der Nähe einer Regierungspartei, war ein geachteter Bürger. Gerade, daß man ihm nicht einen Orden für Verdienste um das Land Burgenland verliehen und umgehängt hat. Österreichische Vergangenheitsbewältigung! Alle hatten sowieso nur ihre Pflicht getan! Manche eben ein bißchen mehr. Aber alle waren nur Opfer vergleichbarer Gewalt. So das abstruse „persönliche Geschichtsbild“ eines österreichischen Volksanwaltes zur Zeit, das er über die Massenmedien kolportiert; ohne daß er konsequenterweise sofort abtreten müßte.

Gleich nach dem „Anschluß“ und der Errichtung der NS-Herrschaft setzten weitere Diskriminierungen und Repressionsmaßnahmen gegen die „Zigeuner“ ein. Den Roma-Kindern wurde der Schulbesuch verboten. Mischehen waren nicht erlaubt. Beziehungen fielen unter den Begriff „Rassenschande“ und unter die strengen Sanktionen dafür. Die Forderung, das Burgenland „zigeunerfrei“ zu machen, erfüllte man dadurch, daß man die Roma in Arbeitslager (Lackenbach) sperrte oder sie gleich in die KZ deportierte; so schon dreitausend Roma im Juni 1939 als „Asoziale“ und „kriminell Anfällige“. Die Bedingungen und Zustände im Anhalte- und Arbeitslager Lackenbach bei Oberpullendorf, wo heute ein bescheidenes Denkmal an die Leidenszeit der Roma erinnert und mahnt, waren unmenschlich und katastrophal. Mehr als zweitausend Personen waren dort auf engstem Raum zusammengepfercht. Die schlechten sanitären und hygienischen Verhältnisse begünstigten den Ausbruch von Krankheiten und Epidemien (Flecktyphus) und steigerten die Mortalität der geschundenen „Häftlinge“. Trotzdem erhöhte sich der Lagerbestand durch Neuzugänge. Um ihn zu verringern, wurden am 4. und 8. November 1941 tausend Personen in das Ghetto von Lodz (Litzmannstadt) gebracht und von dort später nach Chelmo (Kulmhof), wo sie der Vergasung zum Opfer fielen. Dann kam 1943 der „Auschwitz-Erlaß“; und mit ihm der Massenmord an den Roma und Sinti auf der Grundlage der NS-Rassenideologie und entsprechend den Maßnahmen zur „Endlösung“. Insgesamt kamen etwa zwanzigtausend Roma und Sinti in das dreißig Barackenlager umfassende „Zigeunerfamilienlager“ nach Auschwitz-Birkenau; ab Februar 1943 auch ca. 2760 österreichische Roma und Sinti. Im Sommer 1944 wurde dieses „Zigeunerfamilienlager“ aufgelöst. Nach der Selektierung der noch arbeitsfähigen Männer und Frauen und deren Abtransport in die KZ Buchenwald und Ravensbrück wurden die Verbliebenen in der Nacht vom 2. auf den 3. August durch Vergasung liquidiert. Es waren 2897 Menschen. Von den zwanzigtausend nach Auschwitz-Birkenau deportierten Roma überlebten nur 1408, von den ca. 8000 burgenländischen Roma nur etwa 500-600. Damit war das „Zigeunerproblem“ gelöst; durch rassistischen Völkermord.

Nach der Befreiung – dem „Zusammenbruch“, wie der Volksmund sagt, dem Wechsel unter eine andere Gewaltherrschaft, wie das ein hoher österreichischer FPÖ-Staatsspitzenfunktionär, ein „Volksanwalt“ der Republik Österreich, seinem „persönlichen Geschichtsbild“ entsprechend unbegreiflicherweise und unter Berufung auf die verfassungsgemäße „Meinungsfreiheit“ bezeichnet – also nach der Befreiung Österreichs und somit auch der noch lebenden KZ-Insassen, darunter die wenigen Roma und Sinti, kehrten die KZ-ler in ihre Heimatorte zurück. Sie fanden aber dort nichts mehr vor, was einst Heimat gewesen war. Die Roma-Siedlungen waren zerstört, dem Erdboden gleichgemacht worden. Die Heimatgemeinden stellten den ehemaligen Roma-KZ-Insassen – meist nur widerwillig und gezwungenerweise – irgendwelche Notunterkünfte zur Verfügung. So entstanden neue Roma-Siedlungen am Rande der Orte und der Gesellschaft. Da viele ehemalige Roma-KZ-“Häftlinge“ keine Personaldokumente mehr hatten, dachte sich die Behörde einen Ausweg aus: Man erklärte die ausweislosen Roma als staatenlos, womit sie diskriminiert und jeder Willkür ausgesetzt waren. Und bald gab es – wie es jetzt zwar nicht mehr rassenideologisch, sondern nur amtlich hieß – wieder ein „Zigeunerproblem“. Das Rad begann sich von neuem zu drehen. Nicht, daß man den Überlebenden nun Hilfe oder gar „Wiedergutmachung“ angedeihen hätte lassen, ihnen Respekt erwiesen, Mitgefühl entgegengebracht hätte, vielleicht auch in Reue und Sühne; nein, ganz im Gegenteil: Sie wurden wieder genauso schikaniert, gedemütigt und ausgegrenzt wie vor der NS-Verfolgung und so als ob es diese nicht gegeben hätte. Und den (ehemaligen) Tätern ging es wieder einmal besser als den Opfern. Der sogenannte „Zigeunererlaß“ aus dem Jahr 1948 an die österreichische Gendarmerie, der die Außerlandesschaffung von „staatenlosen“ Roma, anordnete, stammte dieses Mal nicht aus Berlin oder von der GESTAPO, sondern kam aus dem Innenministerium (SPÖ/Helmer) der Republik Österreich.

„Wir leben im Verborgenen“ (Ceija Stojka, Picus-Verlag, Wien 1988) könnte die Devise der zurückgekehrten KZ-Überlebenden-Roma nach 1945 gewesen sein, der auch die Realität einer Roma-Existenz entsprach. Die Lackenbach-“Häftlinge“ waren von jeder Opferfürsorge gänzlich ausgeschlossen. Erst im Jahr 1961 bekamen sie auf Drängen der Opferverbände als Entschädigung für ihre „Freiheitsbeschränkung“ 350 Schilling pro Haftmonat zuerkannt. Bei der sogenannten „Wiedergutmachung“ wurden die Roma massiv benachteiligt, wo es nur ging. Niemand kümmerte sich um sie. Wieder einmal war niemand in diesem Land für sie und überhaupt verantwortlich. Kein Wunder bei der weit verbreiteten und selbstverständlich gewordenen Haltung und Praxis, jede Verantwortung für das, was geschehen war und bei dem man nicht nur als Opfer, sondern auch als Täter und Mitläufer beteiligt gewesen war, von sich zu weisen. Die Öffentlichkeit und die Gesellschaft interessierten sich weder für die sozialen noch für die kulturellen Probleme dieser bedrohten österreichischen „Minderheit“, die erst nach langer Zeit und gegen den passiven Widerstand von Seiten der Politik und Behörde nur aufgrund des zielstrebigen Engagements ihrer Vertreter und einiger weniger Mitstreiter bei gleichzeitigem Erwachen eines neuen Selbstbewußtseins und nach der Gründung wichtiger Interessensvertretungen und Organisationen („Verein Roma“, Oberwart 1989/1993; „Kulturverein österreichischer Roma“, Wien 1991; „Romano Centro“, Wien 1991) als Volksgruppe anerkannt wurde (24.12.1993). Damit hörte dann „das Leben im Verborgenen“ endlich auf; die Diskriminierung im Alltag und die Gleichgültigkeit seitens der Öffentlichkeit den Roma-Problemen gegenüber allerdings nicht.

Am 4. Februar 1995 ereignete sich dann das rassistisch motivierte Attentat eines psychopathischen Kriminellen, dem vier Roma aus der Oberwarter Siedlung zum Opfer fielen. Die österreichische Öffentlichkeit schreckte auf. Medienberichte informierten, interpretierten, beleuchteten den rassistisch-nationalistischen Hintergrund dieses Attentats, spekulierten über die „Bajuwarische Befreiungsfront“ und deren mögliche Querverbindungen zur Neonaziszene in Österreich und im Ausland. Plötzlich waren die Roma im Gerede, wiederum gab es ein „Roma-Problem“; dazu aber auch Zeichen der Erschütterung, der Empörung, des Mitgefühls, der Trauer um die Opfer; begleitet von Solidaritätskundgebungen, Politikeransprachen, Beteuerungen, Versprechungen. Das Begräbnis der Toten als ein Staatsakt. Und dann das Vergessen. Man hatte seine Schuldigkeit getan. Die Republik hatte sich vor den Opfern verneigt, sie betrauert, gewürdigt. Nach den Hintergründen, nach dem geistigen Umfeld, in dem solche Wahnsinnstaten (Rohrbomben/Briefbomben) von politisch verblendeten Verbrechern und Psychopathen angesiedelt sind, fragte nach einiger Zeit niemand mehr. Einige Jahre später demonstrierten Alt- und Neonazis polizeigeschützt auf dem Wiener Heldenplatz und zogen später mit „Sieg Heil!“-Rufen und zum Hitlergruß erhobenen Armen unbehelligt durch die Wiener Innenstadt. Ein wenig Empörung, die da und dort aufflackerte, sonst nichts.

Im Rückblick gesehen erweist sich die Siedlungs- und Kulturgeschichte der Roma von Oberwart seit der Gründung der „Zigeunerkolonie“ (1857) bis heute als die einer höchstens nur am Rande geduldeten, in der NS-Zeit verfolgten und ermordeten Außenseitergruppe, die nie wirklich akzeptiert und ins kommunale Zusammenleben integriert worden ist. Von den über 300 Roma, die bis 1938 in Oberwart gelebt hatten, kamen nach der Nazidiktatur und dem Holocaust nur etwa 20 Roma nach Oberwart zurück. Die Gemeinde siedelte sie wieder als Außenseiter weit draußen am Ortsrand an. Die Roma verblieben in diesem Ghetto unter sich. Die Gemeinde, die Behörden, die Ämter, die Kirchen, die Mehrheitsbevölkerung verweigerten eine wirkliche Integration. Dementsprechend war dann auch der soziale und bildungsmäßige Status der Roma. Die „Zigeunerkinder“ gingen zwar in die hiesige Volksschule – ganz wenige schafften es sogar bis in die Hauptschule und noch weiter – aber in der Regel wurden sie zurückgestuft und in die Sonderschule abgeschoben. Viele mußten einige Klassen mehrmals wiederholen, blieben bildungs- und ausbildungsmäßig zurück; was bedeutete, daß sie dann später – wenn überhaupt – nur als HilfsarbeiterInnen unterkommen konnten. Zu diesem Defizit im Bildungs- und Sozialbereich kam angesichts der Aussichtslosigkeit auf gesellschaftliche Integration in das Mehrheitsvolk auch eine psychologische Identitätskrise, ein Identitätsverlust aufgrund einer Identitätsverweigerung. Einfach gesagt: Viele Roma schämten sich, „Zigeuner“ zu sein; wollten diese ihre Identität verschleiern, verstecken, ablegen, verleugnen, vergessen.

Zu Beginn der Achtzigerjahre aber war dann plötzlich eine Gegenbewegung da. Zunächst kam diese von außen. Wie so oft können Einzelereignisse wichtige Impulsgeber sein, die schon vorhandene, aber noch nicht wirksame Bereitschaftskonstellationen und Handlungsansätze bündeln, indem sie eine Entwicklungsdynamik erzeugen. Um einen solchen Fall könnte es sich bei der „Aktion Zigeunerdenkmal“ handeln. Eine Künstlergruppe hatte im Rahmen des Kulturfestivals „ausnahmsweise oberwart“ am 20. Juni 1980 vor dem Kriegerdenkmal in Oberwart ein anderes Denkmal – eigentlich nur eine Denkmalattrappe – aufgestellt, mit dem sie als einem Mahnmal an die in den NS-Konzentrationslagern ermordeten und umgekommenen Roma-Mitbürger aus Oberwart erinnerte und dieses Holocaust-Schicksal der Roma den Nichtroma-Mitbürgern dadurch wieder ins Gedächtnis rief. Die Reaktion von Behörde und Bevölkerung war typisch-österreichisch: Man fühlte sich gestört, man wollte an die eigene Tabuisierung und Verdrängung nicht erinnert werden. Der Bürgermeister forderte die Urheber des Denkmals auf, dieses zu entfernen. Nachts wurde das Denkmal beschmiert, das Andenken an die Toten geschändet. Eine Anzeige gab es, Täter wurden nicht gefunden, weil vielleicht auch gar nicht wirklich entschieden gesucht. Im Sommer 1983 wurde im Jugendhaus in Oberwart eine „Zigeunerausstellung“ gezeigt, in der zum ersten Mal konkret auf die Diskriminierungen der Roma in Oberwart hingewiesen und diese angeprangert wurden. Die Roma begannen sich zu wehren. Widerstand erwachte und wurde organisiert.

Am 13. März 1987 sprachen Roma-Repräsentanten beim Bundespräsidenten vor. In diesem Gespräch kam es zu einer Einmahnung des in der österreichischen Verfassung verankerten Gleichheitsgrundsatzes. Die Präsidentschaftskanzlei reagierte. Die Roma handelten nun nicht mehr unter der lähmenden Akzeptanz ihrer Opferrolle, sondern forderten konkret und zukunftsorientiert Gleichstellung und Gleichberechtigung; im Schulbereich, im Sozialbereich, im Arbeitsprozeß. Kulturelle Roma-Identität entwickelte sich. Vereine wurden gegründet, Interessensvertretungen; Aktivgruppen formierten sich. Zielvorgaben wurden formuliert, deklariert, propagiert. Konkrete Projekte zur Verbesserung der Lebenssituation der Roma wurden gestartet und durchgeführt. Zum ersten Mal solidarisierten sich Nicht-Roma mit ihren Roma-Mitbürgern. Eine „Roma-Nichtroma-Initiative“ wurde gestartet. Die Situation veränderte sich. Daraus resultierte Hoffnung, Selbstbewußtsein, Handlungsenergie; Schaffung von Organisationsstrukturen. Und das brachte Erfolg.

Heute kann man das Erreichte bilanzieren. Seit 15. Juli 1989 gibt es den „Verein Roma“ in Oberwart, der sich engagiert und effizient sowohl für die Roma selbst, als auch für das Zusammenleben zwischen Roma und Nicht-Roma einsetzt. Konkret geht es um die Verbesserung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Stellung der Roma; um die Stärkung des Selbstbewußtseins, um die Aufrechterhaltung und Wiederbelebung der Roma-Identität. Neue Strukturen und Organisationsformen wurden geschaffen, Netzwerke zu anderen österreichischen Volksgruppen aufgebaut, Kontakte zu Repräsentanten aus Politik und Gesellschaft geknüpft und vertieft. Heute gibt es in Oberwart eine Roma-Beratungsstelle, außerschulische Lernbetreuung für Roma-Kinder, eine Roma-Volkshochschule, Roman-Sprachkurse, Zeitschriften, Kulturveranstaltungen, Theatergruppen, Feste, Musik und anderes. Auch in Wien sowie im gesamten Bundesgebiet wirkte die positive Entwicklung der Gesamtsituation – vorallem die Anerkennung der Roma als österreichische Volksgruppe und die Errichtung des Volksgruppenbeirates – befreiend und befruchtend. Auch in Wien gibt es seit den Neunzigerjahren zwei Roma-Kulturvereine. Eine Wiederbelebung der traditionellen Roma-Kultur und ein vorher nicht da gewesenes Identitätsbewußtsein, mit dem auch ein neues Selbstbewußtsein einhergeht, ist feststellbar. Und über die Staatsgrenzen hinaus gibt es die Zusammenarbeit mit anderen Roma-Organisationen und Volksgruppen.

Trotzdem sind Ressentiments und teilweise auch offene Ablehnung in der Bevölkerung, im deutschsprachigen österreichischen Mehrheitsvolk geblieben; vorallem wenn es um zugewanderte „Zigeuner“ aus dem Balkan geht, um diese „Tschuschen“, wie viele noch oder schon wieder sagen. Das Anderssein, das Fremde scheint für viele ein unüberbrückbarer Gegensatz, eine unüberwindbare Barriere zu sein, wenn es um Gleichwertigkeit und um Gleichberechtigung, um soziale und kulturelle Anerkennung geht. Und es gibt in letzter Zeit schon wieder häufiger und lauter diese „Zurufe an das Volk“, aus dem Untergrund oder aus einer Ecke einer bestimmten Partei, deren Ideologen von „Überfremdung“ reden und von „Umvolkung“. Das läßt erschrecken. Das sollte alle zur Wachsamkeit aufrufen, zum Widerspruch, zum Widerstand. Denn das ist ein Gefahren- und Warnzeichen; vor einer Wegstrecke, wo es steil abwärts geht – mit der politischen Kultur eines Staates, mit seiner Demokratie.

Es ist ein wichtiges, ein notwendiges Buch, das hier vorliegt. Ein Buch, das das Leben der burgenländischen Roma und deren Schicksal durch Jahrhunderte hindurch aufzeigt und eindringlich beschreibt; eine Dokumentation, die auf präzisen Daten und Fakten aufgebaut ist und durch einen genauen Literatur- und Quellennachweis sowie durch anschauliche Statistiken und eine umfassende Chronologie der Ereignisse wissenschaftlichen Maßstäben gerecht wird. Es ist ein Buch, das sich auch mit den dunklen Seiten der österreichischen Geschichte befaßt; einer Geschichte, die lange Zeit entweder verdrängt oder zur eigenen Entschuldigung umgeschrieben worden ist. Der Autor hat hier Bilanz gezogen; auch darüber, was die österreichische Politik und Öffentlichkeit verleugnet, versäumt, verdrängt, verschwiegen hat; und was im Gegensatz dazu die burgenländischen, die österreichischen Roma und ihre Organisationen sowie engagierte Nicht-Roma-Mitstreiter zur Schaffung ihres jetzigen Status selber geleistet haben. Und dies ist beachtens- und bewundernswert.

„Die Roma von Oberwart“. Zur Geschichte und aktuellen Situation der Roma in Oberwart. Von Helmut Samer, edition lex liszt 12, Oberwart, 2001. 140 Seiten, EUR 11,63.


Genre: Dokumentation
Illustrated by edition lex liszt 12

Die burgenländischen Kroaten im Wandel der Zeiten

Rettung in letzter Minute
Ein Standardwerk über den Werdegang der burgenländischen Kroaten

„Vielfalt statt Einfalt!“ – Diese programmatische Parole möchte man all jenen zur Ermahnung zurufen, die in unserem Staat und vor allem in den betroffenen Bundesländern in der Volksgruppenfrage, aber auch sonst, der Konformierung, Assimilierung und Uniformierung das Wort reden.

Über 450 Jahre sind nun vergangen, seit die heutigen burgenländischen Kroaten im 16. Jahrhundert auf der Flucht vor den Türken ihre angestammte Heimat im nordöstlich verlaufenden Landstreifen vom Adria-Küstengebiet zwischen Krk und Zadar über die Lika, Krbava, über Bosnien, Slawonien bis hinauf zur Donau, zur Linie etwa zwischen Pécs und Novisad, verlassen und sich in ihrem neuen Siedlungsgebiet, im damaligen Westungarn, dem heutigen Burgenland, niedergelassen haben. Viele kroatische Auswanderer haben sich damals auch in Niederösterreich, in Südmähren und in der Slowakei angesiedelt. Sie alle sind dort heute fast zur Gänze im Mehrheitsvolk aufgegangen und als eigenständige sprachlich-kulturelle Volksgruppe untergegangen und verschwunden.

Einen Restbestand dieser Volksgruppe (18.700 Seelen, also sieben Prozent der Gesamtbevölkerung des Burgenlandes), die im Lauf der Jahrhunderte auch in der Diaspora ihre eigene Kultur erhalten und entfalten konnte, gibt es zum Teil noch in den einstmals fast rein kroatischen Dörfern des Burgenlandes. Dort ringt und kämpft diese sprachlich-kulturelle Minderheit um Erhaltung und Neufindung ihrer ldentität, um die Rechte, die man ihr aus kultureller und gesellschaftspolitischer Kurzsichtigkeit und Ignoranz oft vorenthält, gegen den Druck der Assimilierung, gegen die Gefahr der Selbstaufgabe, kämpft ganz einfach um ihr Überleben.

Ein höchst wichtiger Beitrag zu dieser Selbstfindung und in diesem Kampf ist ein umfangreiches Buch, in dem 16 burgenländisch-kroatische Autoren mit Einzelbeiträgen einen ausführlichen und wissenschaftlich fundierten Gesamtüberblick über „die burgenländischen Kroaten im Wandel der Zeiten“ geben. In geschichtliche Epochen und historische Entwicklungsabschnitte sowie in einzelne Sachgebiete gegliedert, geht das Werk umfassend und genau auf die einzelnen Themenbereiche ein, etwa im Abschnitt ,,Die Kroaten im west-ungarischen Raum (1848-1918)“ und im Burgenland 1918-1938, in der Nachkriegszeit und in der Gegenwart.

Einzelne Beiträge behandeln die Sprache der burgenländischen Kroaten, ihre Entwicklung und ihren Status heute, die Problematik, die sich aus dem Fehlen einer gemeinsamen Schriftsprache ergab und noch immer ergibt; die Literatur von ihren Anfängen im religiös-liturgischen Bereich über die Volksliteratur bis zur zeitgenössischen Lyrik und Prosa; das Schulwesen, das für diese wie für jede andere Volksgruppe zum wichtigsten Entscheidungsfaktor im Kultur- und Überlebenskampf geworden ist; die Musik, die von den meisten von uns als folkloristisches Belebungselement in Gestalt einer Tamburizza spielenden, singenden und tanzenden Trachtengruppe noch am ehesten als Volksgruppenüberbleibsel in einer touristischen Einheitskultur akzeptiert wird. Das ist vielleicht das Wunschbild der Assimilierungsbetreiber überhaupt, daß die Volksgruppe auf eine Folkloregruppe reduziert und erniedrigt wird.

„Aber auch über das Vereinswesen und über die – leider bereits ganz verschwundenen – Trachten sowie über das ebenfalls kaum mehr bestehende Brauchtum wird berichtet.

Vor allem aber wird über die Bedeutung der katholischen Kirche und des Klerus für die Kultur der Burgenlandkroaten gesprochen; und darüber, welche hervorragende Stelle sie stets – etwa im Schulwesen – eingenommen haben. Erwähnenswert und wichtig ist auch das Kapitel über die Rechtslage der kroatischen Volksgruppe im Burgenland aufgrund der Staatsverträge (St. Germain 1919, Wien 1955) und der aus diesen und aus den verschiedenen Interessenskonflikten sich ergebenden gegenwärtigen Situation, die alles andere als befriedigend ist.

Die Volksgruppe ringt zwar mit immer größeren und wahrlich bewundernswerten Anstrengungen um ihren Fortbestand, aber die Anzeichen für den drohenden Untergangs sind bedrohlich. Denn die Statistiken der Volkszählung sprechen hier eine klare und eindeutige Sprache. Seit der Volkszählung im Jahr 1923, also zwei Jahre, nachdem das heutige Burgenland zum österreichischen Staatsgebiet gekommen ist, hat sich die Bevölkerungsgruppe der Burgenlandkroaten bis heute um die Hälfte reduziert. Die Abwanderung ist einer der Minimierungsfaktoren. So leben in Wien zur Zeit schon fast genauso viele (ehemalige) burgenländische Kroaten wie im Burgenland. Und hier ist der Assimilierungsdruck besonders stark und gravierend.

,,Vielleicht kommt durch dieses Buch aber auch den Mitbürgerinnen und Mitbürgern deutscher Muttersprache zum Bewußtsein, daß nicht nur das Burgenland, sondern unsere ganze Republik Österreich ohne unsere Kroaten geistig und kulturell ärmer wäre“, schreibt in seinem Vorwort der österreichische Bundespräsident Rudolf Kirchschläger. Dies bleibt zu hoffen. Was nottut, sind jetzt nicht Worte, sondern Taten: eine den Minderheiten entsprechende Kulturpolitik, die Erfüllung ihrer Rechte und unserer Verpflichtung; dazu noch etwas mehr als bloß nur diese. Man muß handeln, wenn es ums Überleben geht!

Die burgenländischen Kroaten im Wandel der Zeiten.
Herausgegeben von Stefan Geosits. Verlag Edition Tusch, Wien 1986. 456 Seiten.


Genre: Dokumentation
Illustrated by Tusch Edition Wien

Die Roma von Oberwart

„Die Roma von Oberwart“ lautet der Titel eines in der edition lex liszt herausgegebenen Buches von Helmut Samer, das mit Unterstützung des Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus und der Kulturabteilung beim Amt der Burgenländischen Landesregierung erschienen ist und zur Geschichte und aktuellen Situation der Roma in Oberwart Stellung bezieht.

In einzelnen Kapiteln, die wiederum in thematische Gruppierungen unterteilt sind, wird sehr übersichtlich und anschaulich einerseits im Rückblick die Geschichte der burgenländischen Roma dargelegt, im anderen Teil, der sich mit der gegenwärtigen Situation – vorallem nach dem Attentat vom 4. Februar 1995 – beschäftigt, das aufgezeigt, was die burgenländischen Roma durch eigene Initiative und engagierte Tätigkeit für sich selbst erreicht haben; denn die nach dem Attentat von österreichischen Spitzenpolitikern versprochene Hilfe von außen war weder sehr groß, noch wirklich engagiert. Das war mehr ein Lippenbekenntnis und einmal mehr ein Akt der politischen PR-Selbstdarstellung denn eine Korrektur der eigenen Versäumnisse und Defizite. Anerkannt wurden die Roma in Österreich als Volksgruppe ja ohnedies erst 1993, also erst ein halbes Jahrhundert nach dem Holocaust, dem ein Großteil der Volksgruppe, ja des Roma-Volkes in Europa überhaupt zum Opfer fiel.

Die Geschichte der burgenländischen Roma wie auch der Roma und Sinti anderswo war und ist eine Geschichte der Unterdrückung, der Verfolgung, der Verweigerung und Verletzung von Menschenrechten. Ausgrenzung war das Mildeste, was den „Zigeunern“ passierte und noch immer passiert; hier und anderswo. Und sprach man von Integration, von „Assimilierung“, dann bedeutete dies – seit den Zeiten Kaiserin Maria Theresia’s – Zwangsmaßnahmen mit dem Ziel, die „Zigeuner“ zu disziplinieren, zu „zivilisieren“, d.h. ihnen die Kultur und Sprache des Mehrheitsvolkes aufzuzwingen und ihnen ihre eigene zu verbieten, zu nehmen, auszurotten.

Dabei handelte es sich bei den Roma um keine Immigranten im heutigen Sinn; denn sie waren bereits vor Jahrhunderten in ihre Siedlungsgebiete eingewandert und lebten schon lange Zeit mit – besser gesagt neben – dem Mehrheitsvolk und seiner Kultur; hatten sich auch weitgehend angepaßt, was die Umgangssprache in der Öffentlichkeit betraf, sprachen diese und auch andere Sprachen; denn sie reisten viel herum, über die Grenzen hinweg. Sie begriffen sich nicht als Staatsbürger, sondern als Zugehörige zu ihrem Volk und ihrer eigenen jahrhundertealten Tradition und Kultur. Vor langer Zeit waren sie aus Indien nach Europa gekommen, was man ihnen auch heute noch ansieht. Denn wenn man zum Beispiel einen burgenländischen Roma in Wien sieht, der den breitesten Dialekt spricht und vielleicht gar nicht mehr so gut sein Romanes, so schaut der vielleicht so aus, als wäre er gerade aus Kalkutta oder Bombay gekommen, so dunkel kann seine Hautfarbe sein. Vielleicht ist es allein das – dieses äußerliche Anderssein – daß er von vielen als Fremder, als Außenstehender angesehen und als solcher behandelt wird, weil er und seinesgleichen – „überhaupt solche Leute“, wie manche aus dem Mehrheitsvolk oft sagen – „mit uns eigentlich nichts zu tun haben“.

Schon ab dem 16. Jahrhundert sind die burgenländischen Roma aus Zentralungarn ins Gebiet des heutigen Burgenlandes eingewandert; genauso wie die Burgenlandkroaten vom kroatischen und dalmatinischen Küstenland, vom Norden Bosniens sowie vom Donaugebiet Slawoniens, die man ebenfalls gerne aufgenommen hat, weil viele Dörfer nach dem Dreißigjährigen Krieg und nach den Türkeneinfällen ausgestorben waren. Aber kaum hatten sich die Roma niedergelassen, auf ihre Weise mit ihren Pferdewagen, wurden sie auch schon wieder da und dort vertrieben. So ordnete zum Beispiel Kaiser Karl VI an, daß „die Zigeuner und jegliches liederliche Gesindel in Österreich“ ausgerottet werden sollten und daß aufgegriffene Roma mit Brandmalen auf dem Rücken zu kennzeichnen seien und sie geköpft werden sollten, wenn sie wieder zurückkämen. Wenig später (1726) steigerte er sich sogar noch, indem er eine Verordnung erließ, derzufolge alle männlichen Zigeuner hingerichtet sowie Frauen und Kindern ein Ohr abgeschnitten werden sollte, so man ihrer habhaft würde. Kaiserin Maria Theresia hingegen verfolgte eine andere , eine „humanere“ Politik. Sie wollte aus den Zigeunern „ordentliche“ und „nützliche“ Bürger machen; dies natürlich mit Zwangsmaßnahmen. So verfügte sie durch Verordnungen zwischen 1758 und 1773 eine „Zivilisierung“ und „Domicilierung“ der Zigeuner – sie sollten ihre alte Lebensweise aufgeben, sich (als „Neocoloni“/“Neubauern“) niederlassen und ein Handwerk lernen – was mittels eines repressiven Umerziehungsprogrammes erreicht werden sollte. In der Praxis bedeutete dies ein Verbot der eigenen Sprache und Kultur, Kindeswegnahme, Heiratsverbot unter Zigeunern, Zwangsansiedlung.

Nach der Regentschaft Josef II, der die zwanghafte Assimilierungspolitik seiner Mutter noch verschärft fortführte, gab es eine längere Periode der Beruhigung, während der sich die Roma innerhalb einer begrenzten Duldung erholen konnten, was zu einem Anwachsen ihrer Population, zur Seßhaftigkeit und zur Vergrößerung der „Zigeunerkolonien“ am Rande der Dörfer beitrug. Nachdem die erwachsenen männlichen Roma im Ersten Weltkrieg patriotisch ihr Leben für Gott, Kaiser und Vaterland eingesetzt und in vielen Fällen auch verloren hatten – „geopfert“ nannte man das – und sich in feindlichen Heeren auch gegenübergestanden waren, begann eine Phase neuer Repressalien durch behördliche Reglementierungen, welche die begrenzte Freiheit der Roma wiederum weiter einschränkte. Man sprach im Amtsdeutsch nun von „Zigeunerbanden“, derer man Herr werden müsse. Mit der Angliederung des Burgenlandes an Österreich kamen 1921 auch einige tausend Roma zu Österreich. Man versuchte nun, alle Roma personaldatenmäßig zu erfassen, sie mußten sich fotografieren und registrieren lassen. Seit 1928 führte das Bundespolizeikommissariat Eisenstadt eine „Zigeunerkartei“, in der rund achttausend Roma namentlich und mit Fingerabdrücken verzeichnet waren. Eine perfekte Vorarbeit war also damit geleistet für den Zugriff der späteren NS-Schergen und den rassistischen Massenmord an den Roma im Holocaust. Massive Propaganda und der aufblühende Nationalismus, die Begeisterung für das völkische Deutschtum taten das Ihre, um die Romafeindlichkeit weiter zu schüren und zu etablieren. Man sprach wiederum von der Asozialität der Roma, von ihnen als einer „Landplage“, einer „Kulturschande“.

Der spätere Gauleiter des Burgenlandes, Dr. Tobias Portschy, bediente sich bei der Formulierung seines Programmes zur Lösung der „Zigeunerfrage“ auch schon relativ früh des Begriffes „Ausmerzung“ und schlug als Mittel dafür Zwangsarbeit, Deportation, Sterilisation der Roma vor und forderte, dieses Problem einer „nationalsozialistischen Lösung“ zuzuführen; was später dann ja auch geschah, durch massenhafte systematische Ermordung im KZ. Nach dem Krieg und dem Ende der NS-Terrorherrschaft wurde dieser Mann etwa nicht als Propagandist und Wegbereiter für den Holocaust und die Ermordnung burgenländischer Roma-Mitbürger behandelt; nein, der Herr war dann sogar in einem Sparkassenvorstand und bewegte sich in der Nähe einer Regierungspartei, war ein geachteter Bürger. Gerade, daß man ihm nicht einen Orden für Verdienste um das Land Burgenland verliehen und umgehängt hat. Österreichische Vergangenheitsbewältigung! Alle hatten sowieso nur ihre Pflicht getan! Manche eben ein bißchen mehr. Aber alle waren nur Opfer vergleichbarer Gewalt. So das abstruse „persönliche Geschichtsbild“ eines österreichischen Volksanwaltes zur Zeit, das er über die Massenmedien kolportiert; ohne daß er konsequenterweise sofort abtreten müßte.

Gleich nach dem „Anschluß“ und der Errichtung der NS-Herrschaft setzten weitere Diskriminierungen und Repressionsmaßnahmen gegen die „Zigeuner“ ein. Den Roma-Kindern wurde der Schulbesuch verboten. Mischehen waren nicht erlaubt. Beziehungen fielen unter den Begriff „Rassenschande“ und unter die strengen Sanktionen dafür. Die Forderung, das Burgenland „zigeunerfrei“ zu machen, erfüllte man dadurch, daß man die Roma in Arbeitslager (Lackenbach) sperrte oder sie gleich in die KZ deportierte; so schon dreitausend Roma im Juni 1939 als „Asoziale“ und „kriminell Anfällige“. Die Bedingungen und Zustände im Anhalte- und Arbeitslager Lackenbach bei Oberpullendorf, wo heute ein bescheidenes Denkmal an die Leidenszeit der Roma erinnert und mahnt, waren unmenschlich und katastrophal. Mehr als zweitausend Personen waren dort auf engstem Raum zusammengepfercht. Die schlechten sanitären und hygienischen Verhältnisse begünstigten den Ausbruch von Krankheiten und Epidemien (Flecktyphus) und steigerten die Mortalität der geschundenen „Häftlinge“. Trotzdem erhöhte sich der Lagerbestand durch Neuzugänge. Um ihn zu verringern, wurden am 4. und 8. November 1941 tausend Personen in das Ghetto von Lodz (Litzmannstadt) gebracht und von dort später nach Chelmo (Kulmhof), wo sie der Vergasung zum Opfer fielen. Dann kam 1943 der „Auschwitz-Erlaß“; und mit ihm der Massenmord an den Roma und Sinti auf der Grundlage der NS-Rassenideologie und entsprechend den Maßnahmen zur „Endlösung“. Insgesamt kamen etwa zwanzigtausend Roma und Sinti in das dreißig Barackenlager umfassende „Zigeunerfamilienlager“ nach Auschwitz-Birkenau; ab Februar 1943 auch ca. 2760 österreichische Roma und Sinti. Im Sommer 1944 wurde dieses „Zigeunerfamilienlager“ aufgelöst. Nach der Selektierung der noch arbeitsfähigen Männer und Frauen und deren Abtransport in die KZ Buchenwald und Ravensbrück wurden die Verbliebenen in der Nacht vom 2. auf den 3. August durch Vergasung liquidiert. Es waren 2897 Menschen. Von den zwanzigtausend nach Auschwitz-Birkenau deportierten Roma überlebten nur 1408, von den ca. 8000 burgenländischen Roma nur etwa 500-600. Damit war das „Zigeunerproblem“ gelöst; durch rassistischen Völkermord.

Nach der Befreiung – dem „Zusammenbruch“, wie der Volksmund sagt, dem Wechsel unter eine andere Gewaltherrschaft, wie das ein hoher österreichischer FPÖ-Staatsspitzenfunktionär, ein „Volksanwalt“ der Republik Österreich, seinem „persönlichen Geschichtsbild“ entsprechend unbegreiflicherweise und unter Berufung auf die verfassungsgemäße „Meinungsfreiheit“ bezeichnet – also nach der Befreiung Österreichs und somit auch der noch lebenden KZ-Insassen, darunter die wenigen Roma und Sinti, kehrten die KZ-ler in ihre Heimatorte zurück. Sie fanden aber dort nichts mehr vor, was einst Heimat gewesen war. Die Roma-Siedlungen waren zerstört, dem Erdboden gleichgemacht worden. Die Heimatgemeinden stellten den ehemaligen Roma-KZ-Insassen – meist nur widerwillig und gezwungenerweise – irgendwelche Notunterkünfte zur Verfügung. So entstanden neue Roma-Siedlungen am Rande der Orte und der Gesellschaft. Da viele ehemalige Roma-KZ-“Häftlinge“ keine Personaldokumente mehr hatten, dachte sich die Behörde einen Ausweg aus: Man erklärte die ausweislosen Roma als staatenlos, womit sie diskriminiert und jeder Willkür ausgesetzt waren. Und bald gab es – wie es jetzt zwar nicht mehr rassenideologisch, sondern nur amtlich hieß – wieder ein „Zigeunerproblem“. Das Rad begann sich von neuem zu drehen. Nicht, daß man den Überlebenden nun Hilfe oder gar „Wiedergutmachung“ angedeihen hätte lassen, ihnen Respekt erwiesen, Mitgefühl entgegengebracht hätte, vielleicht auch in Reue und Sühne; nein, ganz im Gegenteil: Sie wurden wieder genauso schikaniert, gedemütigt und ausgegrenzt wie vor der NS-Verfolgung und so als ob es diese nicht gegeben hätte. Und den (ehemaligen) Tätern ging es wieder einmal besser als den Opfern. Der sogenannte „Zigeunererlaß“ aus dem Jahr 1948 an die österreichische Gendarmerie, der die Außerlandesschaffung von „staatenlosen“ Roma, anordnete, stammte dieses Mal nicht aus Berlin oder von der GESTAPO, sondern kam aus dem Innenministerium (SPÖ/Helmer) der Republik Österreich.

„Wir leben im Verborgenen“ (Ceija Stojka, Picus-Verlag, Wien 1988) könnte die Devise der zurückgekehrten KZ-Überlebenden-Roma nach 1945 gewesen sein, der auch die Realität einer Roma-Existenz entsprach. Die Lackenbach-“Häftlinge“ waren von jeder Opferfürsorge gänzlich ausgeschlossen. Erst im Jahr 1961 bekamen sie auf Drängen der Opferverbände als Entschädigung für ihre „Freiheitsbeschränkung“ 350 Schilling pro Haftmonat zuerkannt. Bei der sogenannten „Wiedergutmachung“ wurden die Roma massiv benachteiligt, wo es nur ging. Niemand kümmerte sich um sie. Wieder einmal war niemand in diesem Land für sie und überhaupt verantwortlich. Kein Wunder bei der weit verbreiteten und selbstverständlich gewordenen Haltung und Praxis, jede Verantwortung für das, was geschehen war und bei dem man nicht nur als Opfer, sondern auch als Täter und Mitläufer beteiligt gewesen war, von sich zu weisen. Die Öffentlichkeit und die Gesellschaft interessierten sich weder für die sozialen noch für die kulturellen Probleme dieser bedrohten österreichischen „Minderheit“, die erst nach langer Zeit und gegen den passiven Widerstand von Seiten der Politik und Behörde nur aufgrund des zielstrebigen Engagements ihrer Vertreter und einiger weniger Mitstreiter bei gleichzeitigem Erwachen eines neuen Selbstbewußtseins und nach der Gründung wichtiger Interessensvertretungen und Organisationen („Verein Roma“, Oberwart 1989/1993; „Kulturverein österreichischer Roma“, Wien 1991; „Romano Centro“, Wien 1991) als Volksgruppe anerkannt wurde (24.12.1993). Damit hörte dann „das Leben im Verborgenen“ endlich auf; die Diskriminierung im Alltag und die Gleichgültigkeit seitens der Öffentlichkeit den Roma-Problemen gegenüber allerdings nicht.

Am 4. Februar 1995 ereignete sich dann das rassistisch motivierte Attentat eines psychopathischen Kriminellen, dem vier Roma aus der Oberwarter Siedlung zum Opfer fielen. Die österreichische Öffentlichkeit schreckte auf. Medienberichte informierten, interpretierten, beleuchteten den rassistisch-nationalistischen Hintergrund dieses Attentats, spekulierten über die „Bajuwarische Befreiungsfront“ und deren mögliche Querverbindungen zur Neonaziszene in Österreich und im Ausland. Plötzlich waren die Roma im Gerede, wiederum gab es ein „Roma-Problem“; dazu aber auch Zeichen der Erschütterung, der Empörung, des Mitgefühls, der Trauer um die Opfer; begleitet von Solidaritätskundgebungen, Politikeransprachen, Beteuerungen, Versprechungen. Das Begräbnis der Toten als ein Staatsakt. Und dann das Vergessen. Man hatte seine Schuldigkeit getan. Die Republik hatte sich vor den Opfern verneigt, sie betrauert, gewürdigt. Nach den Hintergründen, nach dem geistigen Umfeld, in dem solche Wahnsinnstaten (Rohrbomben/Briefbomben) von politisch verblendeten Verbrechern und Psychopathen angesiedelt sind, fragte nach einiger Zeit niemand mehr. Einige Jahre später demonstrierten Alt- und Neonazis polizeigeschützt auf dem Wiener Heldenplatz und zogen später mit „Sieg Heil!“-Rufen und zum Hitlergruß erhobenen Armen unbehelligt durch die Wiener Innenstadt. Ein wenig Empörung, die da und dort aufflackerte, sonst nichts.

Im Rückblick gesehen erweist sich die Siedlungs- und Kulturgeschichte der Roma von Oberwart seit der Gründung der „Zigeunerkolonie“ (1857) bis heute als die einer höchstens nur am Rande geduldeten, in der NS-Zeit verfolgten und ermordeten Außenseitergruppe, die nie wirklich akzeptiert und ins kommunale Zusammenleben integriert worden ist. Von den über 300 Roma, die bis 1938 in Oberwart gelebt hatten, kamen nach der Nazidiktatur und dem Holocaust nur etwa 20 Roma nach Oberwart zurück. Die Gemeinde siedelte sie wieder als Außenseiter weit draußen am Ortsrand an. Die Roma verblieben in diesem Ghetto unter sich. Die Gemeinde, die Behörden, die Ämter, die Kirchen, die Mehrheitsbevölkerung verweigerten eine wirkliche Integration. Dementsprechend war dann auch der soziale und bildungsmäßige Status der Roma. Die „Zigeunerkinder“ gingen zwar in die hiesige Volksschule – ganz wenige schafften es sogar bis in die Hauptschule und noch weiter – aber in der Regel wurden sie zurückgestuft und in die Sonderschule abgeschoben. Viele mußten einige Klassen mehrmals wiederholen, blieben bildungs- und ausbildungsmäßig zurück; was bedeutete, daß sie dann später – wenn überhaupt – nur als HilfsarbeiterInnen unterkommen konnten. Zu diesem Defizit im Bildungs- und Sozialbereich kam angesichts der Aussichtslosigkeit auf gesellschaftliche Integration in das Mehrheitsvolk auch eine psychologische Identitätskrise, ein Identitätsverlust aufgrund einer Identitätsverweigerung. Einfach gesagt: Viele Roma schämten sich, „Zigeuner“ zu sein; wollten diese ihre Identität verschleiern, verstecken, ablegen, verleugnen, vergessen.

Zu Beginn der Achtzigerjahre aber war dann plötzlich eine Gegenbewegung da. Zunächst kam diese von außen. Wie so oft können Einzelereignisse wichtige Impulsgeber sein, die schon vorhandene, aber noch nicht wirksame Bereitschaftskonstellationen und Handlungsansätze bündeln, indem sie eine Entwicklungsdynamik erzeugen. Um einen solchen Fall könnte es sich bei der „Aktion Zigeunerdenkmal“ handeln. Eine Künstlergruppe hatte im Rahmen des Kulturfestivals „ausnahmsweise oberwart“ am 20. Juni 1980 vor dem Kriegerdenkmal in Oberwart ein anderes Denkmal – eigentlich nur eine Denkmalattrappe – aufgestellt, mit dem sie als einem Mahnmal an die in den NS-Konzentrationslagern ermordeten und umgekommenen Roma-Mitbürger aus Oberwart erinnerte und dieses Holocaust-Schicksal der Roma den Nichtroma-Mitbürgern dadurch wieder ins Gedächtnis rief. Die Reaktion von Behörde und Bevölkerung war typisch-österreichisch: Man fühlte sich gestört, man wollte an die eigene Tabuisierung und Verdrängung nicht erinnert werden. Der Bürgermeister forderte die Urheber des Denkmals auf, dieses zu entfernen. Nachts wurde das Denkmal beschmiert, das Andenken an die Toten geschändet. Eine Anzeige gab es, Täter wurden nicht gefunden, weil vielleicht auch gar nicht wirklich entschieden gesucht. Im Sommer 1983 wurde im Jugendhaus in Oberwart eine „Zigeunerausstellung“ gezeigt, in der zum ersten Mal konkret auf die Diskriminierungen der Roma in Oberwart hingewiesen und diese angeprangert wurden. Die Roma begannen sich zu wehren. Widerstand erwachte und wurde organisiert.

Am 13. März 1987 sprachen Roma-Repräsentanten beim Bundespräsidenten vor. In diesem Gespräch kam es zu einer Einmahnung des in der österreichischen Verfassung verankerten Gleichheitsgrundsatzes. Die Präsidentschaftskanzlei reagierte. Die Roma handelten nun nicht mehr unter der lähmenden Akzeptanz ihrer Opferrolle, sondern forderten konkret und zukunftsorientiert Gleichstellung und Gleichberechtigung; im Schulbereich, im Sozialbereich, im Arbeitsprozeß. Kulturelle Roma-Identität entwickelte sich. Vereine wurden gegründet, Interessensvertretungen; Aktivgruppen formierten sich. Zielvorgaben wurden formuliert, deklariert, propagiert. Konkrete Projekte zur Verbesserung der Lebenssituation der Roma wurden gestartet und durchgeführt. Zum ersten Mal solidarisierten sich Nicht-Roma mit ihren Roma-Mitbürgern. Eine „Roma-Nichtroma-Initiative“ wurde gestartet. Die Situation veränderte sich. Daraus resultierte Hoffnung, Selbstbewußtsein, Handlungsenergie; Schaffung von Organisationsstrukturen. Und das brachte Erfolg.

Heute kann man das Erreichte bilanzieren. Seit 15. Juli 1989 gibt es den „Verein Roma“ in Oberwart, der sich engagiert und effizient sowohl für die Roma selbst, als auch für das Zusammenleben zwischen Roma und Nicht-Roma einsetzt. Konkret geht es um die Verbesserung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Stellung der Roma; um die Stärkung des Selbstbewußtseins, um die Aufrechterhaltung und Wiederbelebung der Roma-Identität. Neue Strukturen und Organisationsformen wurden geschaffen, Netzwerke zu anderen österreichischen Volksgruppen aufgebaut, Kontakte zu Repräsentanten aus Politik und Gesellschaft geknüpft und vertieft. Heute gibt es in Oberwart eine Roma-Beratungsstelle, außerschulische Lernbetreuung für Roma-Kinder, eine Roma-Volkshochschule, Roman-Sprachkurse, Zeitschriften, Kulturveranstaltungen, Theatergruppen, Feste, Musik und anderes. Auch in Wien sowie im gesamten Bundesgebiet wirkte die positive Entwicklung der Gesamtsituation – vorallem die Anerkennung der Roma als österreichische Volksgruppe und die Errichtung des Volksgruppenbeirates – befreiend und befruchtend. Auch in Wien gibt es seit den Neunzigerjahren zwei Roma-Kulturvereine. Eine Wiederbelebung der traditionellen Roma-Kultur und ein vorher nicht da gewesenes Identitätsbewußtsein, mit dem auch ein neues Selbstbewußtsein einhergeht, ist feststellbar. Und über die Staatsgrenzen hinaus gibt es die Zusammenarbeit mit anderen Roma-Organisationen und Volksgruppen.

Trotzdem sind Ressentiments und teilweise auch offene Ablehnung in der Bevölkerung, im deutschsprachigen österreichischen Mehrheitsvolk geblieben; vorallem wenn es um zugewanderte „Zigeuner“ aus dem Balkan geht, um diese „Tschuschen“, wie viele noch oder schon wieder sagen. Das Anderssein, das Fremde scheint für viele ein unüberbrückbarer Gegensatz, eine unüberwindbare Barriere zu sein, wenn es um Gleichwertigkeit und um Gleichberechtigung, um soziale und kulturelle Anerkennung geht. Und es gibt in letzter Zeit schon wieder häufiger und lauter diese „Zurufe an das Volk“, aus dem Untergrund oder aus einer Ecke einer bestimmten Partei, deren Ideologen von „Überfremdung“ reden und von „Umvolkung“. Das läßt erschrecken. Das sollte alle zur Wachsamkeit aufrufen, zum Widerspruch, zum Widerstand. Denn das ist ein Gefahren- und Warnzeichen; vor einer Wegstrecke, wo es steil abwärts geht – mit der politischen Kultur eines Staates, mit seiner Demokratie.

Es ist ein wichtiges, ein notwendiges Buch, das hier vorliegt. Ein Buch, das das Leben der burgenländischen Roma und deren Schicksal durch Jahrhunderte hindurch aufzeigt und eindringlich beschreibt; eine Dokumentation, die auf präzisen Daten und Fakten aufgebaut ist und durch einen genauen Literatur- und Quellennachweis sowie durch anschauliche Statistiken und eine umfassende Chronologie der Ereignisse wissenschaftlichen Maßstäben gerecht wird. Es ist ein Buch, das sich auch mit den dunklen Seiten der österreichischen Geschichte befaßt; einer Geschichte, die lange Zeit entweder verdrängt oder zur eigenen Entschuldigung umgeschrieben worden ist. Der Autor hat hier Bilanz gezogen; auch darüber, was die österreichische Politik und Öffentlichkeit verleugnet, versäumt, verdrängt, verschwiegen hat; und was im Gegensatz dazu die burgenländischen, die österreichischen Roma und ihre Organisationen sowie engagierte Nicht-Roma-Mitstreiter zur Schaffung ihres jetzigen Status selber geleistet haben. Und dies ist beachtens- und bewundernswert.


Genre: Dokumentation
Illustrated by edition lex liszt 12

Das Allerletzte

Der Bildungsbürger weiß es genau: »Mors certa hora incerta« (»Der Tod ist sicher, die Stunde ungewiss«). Sicher ist, dass wir eines Tages dem Tod gegenübertreten, ohne den Zeitpunkt zu kennen. Vor diesem Hintergrund kann es nützlich sein, sich mit all dem zu befassen, was man schon immer über den Tod wissen wollte.

Abgesehen von der rein theoretischen Wahrheit, dass es ohne den Tod kein Leben gibt, nehmen wir den individuellen Tod von Angehörigen, Freunden und Bekannten mit Bestürzung auf und versuchen darüber hinaus, den Gedanken an das eigene Ende möglichst weit von uns zu schieben. Folglich findet immer seltener eine rechtzeitige Auseinandersetzung mit dem Tema Tod statt. Diese Lücke will das Buch schließen, das sich als lesenswerte Fleißarbeit zum Thema Tod in thematischen Komplexen wie Geist, Körper, Recht, Glaube, Geschäft, Gesellschaft und Leben darstellt.

Ausgehend von Berichten über Nahtoderfahrungen spiegeln die Autoren den aktuellen Stand der Forschung auch in Hinsicht auf Transplantationen von Köpfen auf ganze Körper von Verstorbenen, um dem Gehirn auf diese Weise ein quasi ewiges Leben zu ermöglichen. In wenigen Jahrzehnten werden Chips ausreichend leistungsstark sein, um unser Denkorgan komplett zu spiegeln und damit eine gewisse Unsterblichkeit zu ermöglichen. Spannend sind die daraus resultierenden Fragen, welche Rechte, Pflichten und Verantwortlichkeiten beispielsweise Gehirne ohne Körper haben.

Die beiden Autoren reisen durch alle Themengebiete – von Techniken des Einbalsamierens über Kryotechnik zu Darstellungen des Todes in der bildenden Kunst. Sie befassen sich mit tödlichen Giften, mit Seuchen und Killerkrankheiten; sie informieren über die notwendigen Schritte beim Ableben eines geliebten Menschen ebenso wie über die »Leichenbesiedelung« durch Fliegen zur Bestimmung des Todeszeitpunktes. Es gibt Synonymlisten, Preistabellen von Bestattern, Friedhofsordnungen … kaum zu glauben, wie viel das Thema hergibt.

Mark Twain riet: »Ein Mann, der etwas auf sich hält, sollte seine letzten Worte beizeiten auf einen Zettel schreiben«. Wer dies in einer Weise tun möchte, die auch nachhaltig wirkt, hat nach der Lektüre des lesenswerten Sachbuches beste Voraussetzungen.


Genre: Dokumentation
Illustrated by Riemann

Das grosse Los

Winnemuth_MDas_grosse_Los_136656In Hamburg sagt man Tschüss. Dachte sich auch die als experimentierfreudig bekannte Hamburger Journalistin Meike Winnemuth, packte einen Koffer und war dann mal ein Jahr lang weg. Auf Weltreise. Einfach weg war das Ziel. Zwölf Monate in zwölf Städten auf fünf Kontinenten.

Meike Winnemuth traut sich gerne was. Gerne aber auch mit eingebautem Sicherheitsnetz.  Aus diesem Grund traute sie sich zunächst einmal nach Köln. Zu Günter Jauchs Wer wird Millionär, beantwortete dank Publikumsjoker sogar die “verfranzte” 500.000 Euro Frage und gewann eine phantastische halbe Million. Auf Jauchs obligatorische Frage danach, was sie mit dem Gewinn nun anstellen werde, manifestierte sie noch in der Sendung –leicht unter Gewinnschock stehend – ihre bis dahin nur halbgare Weltreiseabsicht.

Keine drei Monate nach Wer wird Millionär war Meike Winnemuths Leben in der Hansestadt eingefroren, in Istanbul feierte sie mit Freunden Silvester und Abschied. Von dort ging der Flieger nach Sydney, ihrer ersten Station. Es sollte keine Reise im eigentlichen Sinne sein. Der Plan war, in den ausgewählten zwölf Städten ihrer Arbeit als freiberuflicher Journalistin weiter nachzugehen, jeweils einen Monat Alltag zu erfahren und mit zu erleben. Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit. Ihre Stationen: Sydney, Buenos Aires, Mumbai, Shanghai, Honolulu, San Francisco, London, Kopenhagen, Barcelona, Tel Aviv, Addis Abeba und Havanna. Wo immer möglich, lebte sie in möblierten Wohnungen – jede schon eine Geschichte für sich, kaufte dort ein, wo die jeweiligen Städter auch einkauften und tauchte ein in fremde Welten. Nicht zuletzt auch dank diverser Dinge, die sie im Auftrag von Lesern des SZ-Magazins ausführte. Ganz wichtig war ihr, in jeder Stadt etwas Neues zu lernen: “Denn das Wunderbare daran, von etwas überhaupt keine Ahnung zu haben: Du machst rasend schnell Fortschritte.”

Während dieser zwölf Monate führte sie ein Blog – vormirdieWelt.de – und ob der großen Resonanz lag die Idee nahe, nach Rückkehr ein Buch über diese Reise zu schreiben. Das grosse Los avancierte in kürzester Zeit zum Bestseller. Und dies sogar völlig zu Recht. Das grosse Los ist ein bewegendes, humorvolles, spannendes, hoch interessantes und informatives Buch geworden, an keiner Stelle langweilig. Meike Winnemuth ist mehr als eine “gelernte Schreiberin”. Sie schreibt mitreißend, aus dem Bauch und dem Herzen heraus, mal nachdenklich, mal witzig, immer ehrlich. Gelegentlich spöttelt sie ganz gerne, dann aber auf hohem Niveau und am liebsten auch über sich selbst. Das Buch setzt sich zusammen aus zwölf Briefen, aus jeder Stadt einen, addressiert an beste Freundinnen, alte Lieben, ihr jüngeres Ich und an ihren Publikumsjoker. Die Kapitel/ Briefe werden jeweils ergänzt durch eine Liste der 10 Dinge, die sie in der betreffenden Stadt gelernt hat sowie durch während des Jahres entstandene Fotos

In den Briefen beschriebt sie mit viel Empathie für die jeweiligen Städte und ihre Bewohner ihre Erlebnisse und Erfahrungen, nicht zuletzt auch die Erfahrungen mit sich selbst. Denn was macht es mit einem, wenn man in eine ganz fremde Welt, eine ganz fremde Umgebung geworfen alleine zurecht kommen ist? Genau diese Erfahrungen und Meike Winnemuths Fähigkeit zum Staunen sind es, die das grosse Los so spannend machen. Kulturschocks, Überraschungen, immer wieder das Glück des Zufalls – Meike Winnemuth erfährt, wie sehr man durch seine Umgebung geprägt wird und erlebt sich in jeder Stadt neu: “Mal entspannter als die Werkseinstellung, mal neugieriger und umtriebiger. Entflammt, genervt, genießerisch, übermütig, überfordert, ich mochte alle meine Versionen.”

Schon unterwegs und erst recht nach “diesem besoffen machendem Jahr ” stellt sich ihr auch die Frage nach Heimat. Ununterbrochen unterwegs zu sein ist in unserer rastlosen Welt ja nicht länger nur ein Markenzeichen der globalen Elite. Die Frage, ob gute Koffer wichtiger sind als Heimat, liegt heutzutage auf der Hand. Heimat ist auch keine Lösung, zu diesem Schluß kommt auch Meike Winnemuth: “Heimat ist nicht da, wo man geboren ist, Heimat ist da, wo man begraben werden will .”

Ihr größter Schock unterwegs: der zwischenzeitliche Kassensturz. Das eingebaute Sicherheitsnetz in Form des WWM Gewinns– sie hätte es gar nicht gebraucht. Es wäre auch so gegangen. Sie hätte jederzeit einfach nur losfahren müssen. Ihre schönste Erkenntnis: “Was alles geht und was es alles gibt, davon habe ich eine kleine Ahnung bekommen. Dass die Welt voller Möglichkeiten steckt, die Dinge anders zu sehen und anders zu machen.” In Summe ist das grosse Los ein Plädoyer gegen zuviel Eindeutigkeit und für mehr sowohl als auch.

Fazit der Autorin: Einfach wagen: “Nicht lang schnacken, Koffer packen.
Glück ist ein Gefühl von Möglichkeit

Fazit der Rezensentin; Unbedingt lesen. Das Buch übertraf meine durchaus
nicht kleinen Erwartungen bei weitem.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Dokumentation
Illustrated by Knaus München