Interview mit einem Kannibalen

»Hi, ich bin Franky aus Deutschland. Ich suche nach jungen Männern zwischen achtzehn und dreißig Jahren zum Schlachten. Hast Du einen normal gebauten Körper, dann komme zu mir, ich schlachte dich und esse dein köstliches Fleisch«, schreibt »antrophagus« (das ist lateinisch und heißt »Menschenesser«) auf einer Kannibalen-Kontaktseite im Internet. Mehr als vierhundert Interessenten melden sich. Sechzig davon bieten sich als »Schlachtopfer« an.

Auch »cator99« (»der als Fleisch Geborene«) bewirbt sich: »Ich biete an, mich von euch bei lebendigem Leib verspeisen zu lassen. Keine Schlachtung, sondern Verspeisung. Also, wer es wirklich tun will, der braucht ein echtes Opfer«. – Wenige Wochen später wird cator99 von antrophagus getötet und fachgerecht zerlegt.

Diese schier unfassbare Tat schockiert die Welt und öffnet ein völlig neues Fenster in der Kriminalgeschichte. Denn für das Delikt »Kannibalismus« gibt es weder in Deutschland noch sonst auf der Welt ein Gesetz. Entsprechend lavieren die Gerichte bei der Bewertung der Tat zwischen »Tötung auf Verlangen«, »Totschlag« und »Mord«. Erst der Bundesgerichtshof definiert die Tat im Revisionsverfahren als »Mord«, indem er Tatmerkmale erweitert definiert.

Cator99 ist im bürgerlichen Leben der Berliner Computeringenieur und Siemens-Gruppenleiter Bernd Brandes. Er träumt davon, bei lebendigem Leibe verspeist zu werden. Sein größter Wunsch ist, vor dem Ableben seinen eigenen Penis zu verspeisen. Deshalb sucht er jemanden, der ihn schlachtet.

Der Klarname von antrophagus lautet Armin Meiwes. Der Außendienstmitarbeiter der Technologie Service GmbH für das Rechenzentrum der Volks- und Raiffeisenbanken sucht einen »Bruder«, mit dem er sich durch den Genuss seines Fleisches auf ewig verbinden kann. Er trifft auf Cator99. Am 10. März 2001 setzt der später als »Kannibale von Rotenburg« bekannte Meiwes nach wochenlangem Chat in einem Kannibalenforum beider Phantasien in die Tat um, schreitet zur Schlachtbank und verzehrt nach und nach zwanzig Kilo seines Chatfreundes, dessen Einzelteile er zuvor liebevoll zubereitet.

Weit über zehntausend Menschen treffen sich allein in Deutschland in »Kannibalen-Foren«, um ihre Phantasien auszutauschen und – vielleicht – ähnlich wie Brandes und Meiwes auszuleben. Über das Internet ist es heute möglich, überall Bilder und Filme zu finden, die von der Norm abweichende sexuelle Reize bedienen. Fachleute wie der Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin an der Berliner Charité, Prof. Klaus M. Beier, sehen darin die Gefahr, dass Personen mit entsprechender Veranlagung möglicherweise darin bestärkt werden, ihre Fantasien in die Tat umzusetzen. Ohne das Internet wäre es auch Antrophagus alias Meiwes nicht gelungen, einen Kontakt zu Cator/Brandes aufzubauen, das sagt der »Kannibale« inzwischen selbst ganz deutlich.

Günter Stampf hat als Journalist Zugang zu dem zu lebenslanger Haft verurteilten Meiwes bekommen. Das Ergebnis seiner Recherchen und Gespräche liegt unter dem Titel »Interview mit einem Kannibalen« in Buchform vor. Systematisch seziert der Autor in zahlreichen Gesprächen die Biographie des Inhaftierten. Er spricht mit ihm über die sexuellen Beweggründe der Männer, die sich in den Abgründen des Internets suchten und fanden. Das Buch ist erschütternd, und es beschert schlaflose Nächte. Denn Stampf garniert sein systematisch aufgebautes Interview immer wieder mit Auszügen aus Protokollen und Gutachten. Er dokumentiert auch den Internet-Chat des Kannibalen und lässt ihn die akribische Vorbereitung der blutigen Tat und deren Ausführung schildern.

Haarklein beschreibt Armin Meiwes im Interview, wie er Brandes langsam tötet und dessen Genital für eine gemeinsame Mahlzeit zubereitet. Der hofft, möglichst lange durchzuhalten, damit auch noch seine Eier gemeinsam verspeist werden können. Das gesamte Procedere wird auf Video aufgenommen, und Brandes erweckt dabei in keinem Augenblick den Eindruck, Opfer zu sein. Vielmehr sieht er in Meiwes einen Verbündeten, zu dem er sich liebevoll hingezogen fühlt und der ihm seinen innersten Wunsch erfüllt.

Stampfs Dokumentation ist ohne aufkommenden Ekel und Abscheu kaum zu verdauen. Es ist der blanke Horror, der hier zwischen zwei Buchdeckel gepresst wurde. Der Leser braucht einen stabilen Magen und Nerven wie Drahtseile, um das Grauen zu überstehen, das ihn bei der Lektüre überkommt. Er begegnet im »Kannibalen von Rotenburg« keinem blutrünstigen Massenmörder, sondern einem vollkommen bewussten Mann. Er hängt an den Lippen eines gestörten Menschen, der intelligent und im vollen Bewusstsein beschreibt, was er tat.

Das macht die Lektüre dieses Buches so widersprüchlich, denn es verletzt fraglos diverse Grundregeln unserer Gesellschaft, wenn Menschen sich schlachten und verspeisen. Es dokumentiert aber auch, wie auf dem Höllengrund des Internets eine Subkultur wächst, in der sich sexuell gestörte Menschen gegenseitig bestärken und hochschaukeln. Die Moral dieser Foren lautet dann im Ergebnis: »Schlachten ist geil und okay, wenn der andere es will«. Die Frage nach Tötung auf Verlangen wird damit ebenso angeschnitten wie die nach dem Recht auf Freitod.

Unsere tabubesetzte Gesellschaft reagiert sprachlos auf Auswüchse wie den modernen Kannibalismus. Kriminologen fragen sich inzwischen, ob es vielleicht weitere »echte« Kannibalen in den entsprechenden Foren gibt und erwähnen die hohe Zahl spurlos verschwundener Mitbürger. Das Interview wirft ein grelles Licht auf die Thematik. Die Lektüre des Buches mag den Leser allerdings auch bei lebendigem Leibe »auffressen«, denn die Grenzen des Vorstellbaren werden deutlich überschritten. Davor sei jeder eindringlich gewarnt, der sich das brutal-realistische Buch zu Gemüte ziehen möchte.


Genre: Dokumentation
Illustrated by Seeliger Wolfenbüttel

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