Sicher eines der schönsten der zahlreichen Bücher des Autors. Und eines der persönlichsten. Die Kindheit im Mühlviertel wird geschildert, die Beziehung zu den Eltern, zu einer brachialen „Nazi“-Erzieherin, zu den religiösen Bräuchen am Land.
Gewohnt kritisch sieht Wiplinger die Vorgänge in seiner Heimat. Beschreibt rigide Erziehungsmuster, die schon traumatisierend wirken können, und einen lebenslangen Prozess zu verarbeiten und zu wachsen. Wiplingers menschliche Reife sowie sein feines Sprachgefühl scheinen offenkundig durch bei Aussagen über seinen Vater: „und er sagte darauf völlig hilflos und wieder einmal darüber sehr traurig, daß er mich eben nicht verstand was ihm auch schmerzlich bewußt war aber ich muß dich doch verstehen du bist doch mein sohn worauf ich ihm antwortete vater das ja aber mehr auch schon nicht du weißt doch überhaupt nicht wer ich bin ich weiß ja selbst noch nicht wer ich überhaupt bin“. Der Verzicht auf Interpunktion im Buch ist nicht der modernistischen Attitüde geschuldet, vielmehr trägt er zur sogartigen Wirkung des Textes bei, die sowohl der persönlichen als auch der politischen Kritik ziemliche Intensität verleiht…
Der Tod spielt eine wesentliche Rolle: der Unfall eines Bruders, das Ableben der Eltern, das still liebevolle Verständnis am Sterbebett der Mutter, das Ertrinken der Flüchtlinge im Mittelmeer – gekonnt spannt Wiplinger weite Bögen aus der vom Nationalsozialismus und rigidem Katholizismus geprägten Kindheit bis zur Gegenwart – immer wieder blitzt Respekt vor den Altvorderen auf, etwa wo beim Gestapoverhör der Vater sich nur durch Klugheit seiner Verhaftung entziehen konnte. Schwer wiegt die Anklage des engagierten Autors, was die stets rigider werdende Flüchtlingspolitik der Regierung betrifft, die Hetze des Boulevards, die Unmenschlichkeit rechter Recken: „nicht die millionen flüchtlinge brauchen schutz nein unsere heimat braucht schutz einen heimatschutz meint er und sein outfit ist topmodisch“.
Sehr deutlich auch die Kritik am europäischen Wohlstandsmodell, das auf der Ausbeutung ausgesourcter BilliglohnarbeiterInnen beruht; und wieder eine zutiefst menschliche und zugleich kluge Reflexion des Heimatbegriffs bezüglich der Flüchtlingskrise: „diesen armen Menschen helfen ein wenig etwas abgeben von unserer heimat weil das was wir abgeben und mit ihnen teilen ja gar nichts ist im vergleich zu dem was sie verloren haben weil uns in unserem leben nichts wirklich fehlt weil wir genug an heimat haben sodaß wir vieles auch mit anderen die keine heimat mehr haben doch teilen könnten“, zumal das Gedudel über Heimat bloß zudecke, wie unsere Heimat irreparabel beschädigt wird, vom Landschaftsbild bis zur Architektur und der Lebenskultur – diese durch massenmedialen Schwachsinn.
Bemerkenswert Wiplingers Haltung zu Gefühlen generell, die heutzutage ja als überholt bis bestenfalls permanent vom Intellekt zu sanierende Dauerbaustelle gelten: „und ich höre den gesang eines fremden mir zu herzen gehenden liedes lasse mir den text übersetzen stimme mich ein in das lied und in mich selber in die tiefe meiner gefühle in etwas das zu herzen geht und nicht irgendwo oben hängt in dem gestrüpp das man verstand nennt…“.
Im zweiten schmäleren Teil des Buches lesen wir die „Venezianischen Notizen“, Wiplingers Beschäftigung mit seiner Lieblingsstadt zwischen Tourismus und (Kunst-)Geschichte. Woraus ich, weils so exakt zum Thema dieser Pappelblatt-Ausgabe passt, folgende Stelle zitieren möchte: „von zeit zu zeit in eine kirche eintreten und dort eine längere zeit verweilen sich niedersetzen in eine bankreihe vielleicht hinten auf einem platz nichts denken nichts reden nichts wollen nirgendwohin streben nein einfach nur dasein nur schauen oder dann auch einmal die augen schließen vielleicht gibt es leise musik oder eben nichts außer stille sich dieser stille hingeben sich hineinversenken in sie versinken in dieser stille ankommen in dieser stille länger als nur für einen augenblick verweilen in einer stille in dir die botschaft der stille hören aufnehmen in dich diese wortlose sprachlose lautlose botschaft bereitwillig aufnehmen in dich“
Manfred Stangl
Peter Paul Wiplinger: „Tagtraumnotizen“, Wien 2o16, Löcker, 18oS, Tb, ISBN: 978-3-854o9-678-8