Südtirol oder auch Alto Adige und Trentino ist ein ganzjähriges Paradies. Schifahren in den Dolomiten, Baden im Kälterer See. Die Region zwischen Italien und Österreich, die auf eine konfliktreiche Geschichte zurückblickt, stellt sich in vorliegender Sammlung einheimischer Schriftsteller:innen vor. So genießen auch Leser:innen Schlutzkrapfen und Canederli, tauchen nach dem Kirchturm im Reschensee, treffen auf eine schöne Welt und böse Leut’, erleben Berg und Breakfast, singen launige Oden auf Bruneck oder erinnern sich an die erzwungene Italianità im Faschismus.
Die Felsen, die die Welt bedeuten
Das “schönste Bauwerk der Welt”, die Dolomiten, so nannte immerhin Le Corbusier die “elfenbeinweiß, graugrün, mitunter rötlich-gelb leuchtenden Kalkfelsen”. Aber es geht auch anders: als “kolossale Raumverschwendung” verunglimpfte Eve Gräfin Baudissin die Steinkolosse. Die Marmolada, die Brenta-Gruppe, der Rosengarten sowie die Bletterbachschlucht, die Drei Zinnen bilden die nach Déodat de Dolomieu benannten Dolomiten, die wesentlich die Region Südtirol mitgestalten. In “Berg und Breakfast” apeliert die Autorin Selma Mahlknecht an unsere archaische Seele, die das Wandern als Unruhe im Herzen und Sehnsucht nach dem Anderswo definiert. Ihr Heimweh richtet sich demnach nicht nach Südtirol, sondern nach den Bergen an sich aus. Dem Bild des starrsinnigen Hutzelmännchens widerspricht sie, denn gerade wer in den Bergen lebe, müsse sich bewegen. So ist jedes Heimweh auch gleichzeitig ein Fernweh.”Manchmal bedeutet Freiheit bereits einfach nur das Weglassen des Unnötigen”, schreibt Maxi Obexer in “Der rote Kontrapunkt”. Denn der Berg rufe nicht, er wolle nicht erobert werden, wie manche immer wieder behaupten. Er sei auch nicht römisch-katholisch wie die hineinbetonierten Gipfelkreuze weismachen wollen. Obexer wehrt sich gegen die völkische Vereinnahmung der Berge durch die Dirndl- und Lederhosenträger:innen. Ganz dem Begriff Südtirol widmet sich hingegen Alessandro Banda, er bezeichnet Alto Adige als pirandellische Provinz, als pessoanische sogar. Das Tirolo meridionale sei zwar Italienisch für Südtirol, Alto Adige aber in Wirklichkeit ein Gallizismus. “Haut-Adige” stammt aus den napoleonischen Kriegen und bezeichnete 1810 ein Gebiet das bald zum Königreich Italien gehörte, aber Meran noch beim Königreich Bayern verortete. Südtirol an sich bezog sich wiederum auf das was heute Trentino genannt wurde.
Italiansierung: politisch und kulinarisch
Ein dunkles Kapitel ist auch die von Ettore Tolomei durchgeführte Italiansierung der Region, die während Mussolini für das gesamte Südtirol durchgeführt wurde. Die Italianità wurde einfach behauptet, Orts-, Familien- und Vornamen italianisiert und sogar Grabsteine “umbenannt”. Aus Maier wurde etwa Massari, aus Raffeiner Rovina oder Dallarovina. Aus Pixner Armaroli, aus Tappeiner Depino, aus Urthaler Giudici usw. usf. Maddalena Fingerle erzählt in “Bozen” von ihrem Vater, der Aphasie hat oder ist es Mutismus? Die Tochter, die Erzählerin, hat Asthma und vermutet hinter den Worten dreckig und sauber etwas ganz anderes als die Erwachsenen. Auch der große Schriftsteller Stefan Zweig widmet sich in einem Gedicht dem so betitelten “Bozner Berg”. Ein Gedicht an einen herrlichen Morgen in den Bergen, der ihm “im Herzen klingt”. Aberauch kulinarische Aspekte werden in dieser literarischen Einladung berücksichtigt. “Ohne Knedl hosch nie gessn”, heißt es in Südtirol, wo Mehl, Milch, Butter, Topfen und Käse eben zu dem gehörten was man als Selbstversorger hauptsächlich hatte und daraus ließen sich vortrefflich Knödel rollen. Canederli, Ravioli, Mezzelune, Schmarren oder Schulter, eine weiße Küche, in der die Tomate keine Rolle spielte. Aber die alpine und die mediterrane Küche verbanden sich alsbald zu einer köstlichen Mischung.
Schöne Welt, böse Leut
Joseph Zauderer erzählt von der “Walschen”, wie man die Italiener in deutschen Kreisen nannte und ihr Vater, der stets für Toleranz plädiert hatte, musste schließlich doch an die Front um eine deutsche Heimat zu verteidigen, die es gar nicht mehr gab. “Schöne Welt, böse Leut” ist der Titel von Claus Gatterers Beitrag, in dem er uns in die Schulzeit entführt. Die Lehrerin tut sich mit den deutschen Namen schwer, “als hätte sie einen Igel verschluckt”, aber nicht mit allen. Denn wie überall zählte auch hier der Klassenunterschied. Die Kinder der besseren Familien hatten aussprechbare Namen, die der Bauerntölpel lohnte sich nicht zu lernen. Marco Balzano legt in “ich bleibe hier” einen erschütternden Bericht über die Enteignung vor: “Weiter bleibt nichts von dem was wir waren. (…)Niemand kann verstehen was sich unter den Dingen verbirgt. Niemand hat Zeit, stehen zu bleiben und um das zu trauern, was gewesen ist, als wir nicht da waren. Vorwärts gehen, wie Mutter zu sagen pflegte, das ist die einzige Richtung, die erlaubt ist. Sonst hätte Gott uns die Augen seitlich gemacht. Wie den Fischen.”
Im Anhang befinden sich Biographien der Autor:innen und Quellenverzeichnisse der zitierten Ausschnitte. Mit deutschsprachigen Texten und Übersetzungen aus dem Italienischen wie Ladinischen von Marco Balzano, Roberta Dapunt, Oswald Egger, Maddalena Fingerle, Claus Gatterer, Lilli Gruber, Francesca Melandri, Maxi Obexer, Joseph Zoderer und vielen anderen. Gaby Wurster ist auch die Herausgeberin der ebenfalls bei Wagenbach erschienen literarischen Einladungen nach Genua und Ligurien, Triest und Lissabon.
Gaby Wurster (Hrsg.)
Südtirol
Eine literarische Einladung
SALTO [284]. 15.8.2024
144 Seiten. Rotes Leinen. Fadengeheftet
ISBN 978-3-8031-1383-2
Wagenbach Verlag
22,– €