Die beiden ersten Bücher der Trilogie über Berkels Familie hatte ich gelesen und auf dieses Buch gewartet. Wie Berkel, war ich in Frohnau aufgewachsen, bin als kleines katholisches Mädchen beim Pfarrer Krajewski in die Messe und zehn Jahre vor ihm auf das französische Gymnasium (FG) am Kutschi gegangen; so nannten wir den Kurt-Schumacher-Damm.
Nostalgie kommt nun aber gar nicht auf, er nennt Frohnau den Vorhof der Hölle und beklagt sich, dass die Schulfreunde, die in der Stadt wohnen, sich einfach so besuchen können. Er muss sogar seine Mutter um Erlaubnis bitten, wenn er mit der Clique ins Lochow will, das Schwimmbad in Wilmersdorf.
Nachdem es in den früheren Büchern um die Biografien von Eltern, Großeltern und der Schwester Ada ging, schreibt er nun als Erwachsener, nach dem Tod der Eltern, darüber, welche Verunsicherungen deren Verhalten, besonders das der Mutter, bei ihm auslösten. Die Mutter ist oft abwesend, verstummt und blickt in die Ferne, mal ist sie auch für länger weg und eine dicke Kinderfrau versorgt ihn. Dann ist sie aber sehr präsent, liest ihm alle Märchen und Sagen vor, hört mit ihm Schallplatten von Theaterstücken. Schon früh weiß er, dass er Schauspieler werden möchte, wie Gründgens den Mephisto spielen… sein Drang nach Höherem treibt ihn an. Dass das auch abgelehnt werden kann, ist ihm durchaus bewusst, damit kokettiert er, schon, als er in der Grundschule eine tragende Rolle anstrebte.
Meinungsstark ist die Mutter auch, will vieles über ihn und die FreundInnen wissen. Sie weiß auch, dass Männer klein bleiben, wenn sie zu früh anfangen zu „sündigen“. Sein Vater ist nur 1,60m groß, die Mutter überragt ihn.
Christian ficht das nicht an, er probiert seine Sexualität früh aus und gerne auch Drogen; in allen Stationen seines interessanten Lebens berichtet er davon.
Als Ursache dieses Nebensichstehens der Mutter erschließt sich ihm erst als Erwachsener: ihre Verfolgung als Jüdin. Schon als Kind fühlt er sich aber „nicht ganz deutsch.“ Wäre er doch Franzose! Die Sprache spricht er akzentfrei, die Mutter sprach es mit ihm von klein an. Die Eltern fahren im Urlaub gerne ins französisch-sprachige Ausland. Am Mittelmeer freundet die Familie sich mit einer wohlhabenden Familie aus Paris an, wo er dann schon als Grundschüler einige Wochen verbringt. Natürlich kommt er dann auf das Französische Gymnasium, und als junger Teenager lebt er Monate in Paris in dieser Familie, besucht dort eine Schule. Sein Selbstbewusstsein sieht ihn schon bei der Comédie-Francaise und er erhält einen Termin beim Direktor, dem er (mit 15!) berichtet, dass das deutsche Theater schlecht aufgestellt sei. Dieser ermuntert ihn dann, genau deswegen als Schauspieler in Deutschland zu wirken; wie enttäuschend!
Schon als Schüler nimmt er Schauspielunterricht. Er kennt die französischen Klassiker, geht die Rollen durch, bis ein französischer Freund ihm vermittelt, dass er sich in der deutschen Sprache besser ausdrücken kann: „Tragisch, faustisch, deutsch. Ich erschrak. Was hatte ich gerade gedacht? Deutsch?“ Aber er fügt sich diesem Schicksal, und berichtet von den Stationen seiner Karriere in Deutschland.
Wer sich für Schauspielerei interessiert, kommt auf seine Kosten. Ich, als Ex-Frohnauerin, genieße die Diskussionen im Elternhaus, wo man sich regelmäßig trifft, bei Schnitzchen, Alkohol und Zigaretten debattiert, immer mit Pfarrer Krajewski, der in Priesterrobe dabei ist.
Ein Höhepunkt, es muss 1979 gewesen sein, Berkel also 22 Jahre alt, ist die Debatte, als die Fachärzterunde gemeinsam den Holocaustfilm sieht. Schwester Ada und Hanne, seine Freundin, die erste, die er den Eltern vorstellt, zu zweit gegen mehrere Paare, von denen jede/r mit seinem Wesen vorgestellt wird, und dass mit vollem Namen. (Übrigens alle Lehrer am FG auch. Ob das ok ist? Die meisten leben nicht mehr, aber die Kinder oder Kindeskinder…)
Es geht um den Schah Besuch, den Tod Benno Ohnesorgs und die RAF. Alles Terroristen, die bestraft gehören, weiß nicht nur Frau B. (im Originalnamen). Der SPIEGEL ein Kommunistenblatt! Ehepaare geraten aneinander: “Du kannst mir vielleicht verbieten, mit deinem Auto zu fahren, aber den Mund verbieten lass ich mir nicht!“
Schon diese präzisen Dialoge aus der Zeit von vor über vier Jahrzehnten sind ein Genuss!