Seltsam. Der Titel dieses mit reifen Erdbeeren bedruckten Buches besteht aus lediglich zwei Zeilen mit insgesamt zwölf Punkten. Und ebenso ungewöhnlich wie der geheimnisvolle Titel ist auch der Inhalt dieser Sammlung.
Mit den zur Veröffentlichung ausgewählten Texten in Lyrik und Prosa wird die Wiederentdeckung mit einem nahezu vergessenen Autor ermöglicht, dem eine Renaissance zu wünschen wäre:
Underground-Autor Richard Brautigan.
Richard Brautigan, allein in Tokio
In der ersten Titelzeile des vor mir liegenden Buches stehen fünf, in der zweiten Zeile sieben Punkte. Was will uns der Dichter mit diesen zwölf Punkten sagen? – Die Lektüre der Texte klärt auf. Bei dem gepunkteten Titel handelt sich um das »Erdbeerenhaiku«, das Richard Brautigan zwölf roten Früchten widmete, als er einsam und allein in Tokio in einem Hotelzimmer saß.
In der japanischen Hauptstadt war Brautigan als Vertreter des amerikanischen Westküsten-Underground der 1960er und 1970er Jahre häufig zu Besuch. Da er kein Wort Japanisch verstand und auch keine japanisch sprechenden Kontakte hatte, verbrachte er die meiste Zeit in einem Hotelzimmer. Dort schrieb und dichtete er.
In Tokio liegt der in viele Sprachen übersetzte Auflagenmillionär einsam in seinem Hotelzimmer und hat niemanden an seiner Seite. Geht er in eine Bar, wo junge versnobte Amerikaner versuchen, Japanerinnen aufzureißen, erschreckt ihn das Erlebte und die Poesie verstummt. Mal sitzt er neben einem japanischen Filmregisseur, der kein Englisch kann, kein Wort wird zwischen den beiden gewechselt, bis Brautigan geht. Schließlich holt er seinen Pass heraus, schaut sich sein Foto an, um zu sehen, dass er existiert.
Er verfasst sogar eine »Gebrauchsanweisung für eine langweilige Nacht in einem Hotel in Tokio«. Darin empfiehlt er, im Fahrstuhl rauf und runter zu fahren und sich die Leute anzuschauen. Die nach oben fahren, wollen auf ihre Zimmer. Die nach unten gleiten, wollen ausgehen. Auf der Fahrt denkt er darüber nach, sein Zimmer 3003 anrufen zu lassen und sich schließlich selbst zu fragen, wer er denn sei …
Richard Brautigan, Hippie unter den US-Autoren
Die Textauswahl macht mit der stilistischen Vielfalt Brautigans bekannt. Sie zeigt seinen Humor, seine zum Sarkasmus neigende Art, seine immer wieder aufscheinende Melancholie, seine unendliche Gutmütigkeit, seine hippieesken Phantasien, seinen Umgang mit der immer wieder aufbrechenden Einsamkeit.
Gleich der erste Text steht stellvertretend für Brautigans bisweilen überzogen wirkende positive Art. »Mein Tag« schildert die Freude eines Mieters, der erfährt, dass seine Hauswirtin verschieden ist. Er weiß, es wird lange dauern, bis die Nachlassverwalter bemerken, dass er die Mietzahlungen eingestellt hat. Das macht seine große Freude aus. Solch einen tollen Tag hatte der Mann zuletzt genossen, als er von einem Auto überfahren wurde. Drei Monate »durfte« er mit gebrochenen Beinen im Streckverband liegen, wurde derweil von Krankenschwestern mit allem versorgt und konnte sorglos träumen. – Makaber?
Neben Geschichten, die kurze Kapitel aus Brautigans verrückten Büchern sind, wird der größte Teil des Bändchens von Texten eingenommen, die in ihrer kurzen Form als Gedichte bezeichnet werden können. Sie handeln von der schnellen Liebe, von genussvollem Sex, von bunten Partys und wilden Orgien.
Schön, schluchzend, mit großer Übersetzung bumsen
Und dann still daliegen wie Rehspuren
Im Neuschnee neben der, die du liebst.
Das ist alles.
Mit innerer Ablehnung, wenn es dann doch zu einer festen Bindung kommen sollte, dichtet er einem Freund »Sexueller Unfall« ins Stammbuch:
Der sexuelle Unfall,
der dann deine Frau wurde,
die Mutter deiner Kinder
und das Ende deines Lebens,
ist zu Hause und kocht Essen
für alle deine Freunde.
Man kann sich förmlich vorstellen, wie der Ehegatte lieber noch einmal ums Haus fährt oder eine Zigarette raucht, bevor er daheim die Haustür öffnet.
Einem Autor wie Brautigan nimmt man ein »Liebesgedicht« ab, wenngleich es vielleicht nur das eigene Ego besingt:
Es ist so schön,
morgens ganz allein aufzuwachen
und keinem sagen zu müssen,
dass man ihn liebt, wenn man ihn nicht mehr liebt.
Das Leben des Richard Brautigan
Richard Brautigan wurde am 30.1.1935 in Tacoma/Washington geboren. Er verlebte eine von zahlreichen Wohnungswechseln bestimmte Jugend an der Seite einer Mutter, die es nie lange bei einem Mann aushielt. 1953 trat der 18-jährige Brautigan mit einem Gedicht als Autor in Erscheinung. Seiner Mutter fehlte jedes Verständnis für sein Hobby. Sie verbot ihm sogar, im Haus zu schreiben.
Brautigan zieht aus und versucht sich mit kleinen Arbeiten über Wasser zu halten. Aus Geldmangel muss er sogar seine Schreibmaschine verkaufen und kann nur noch auf Notizblöcke schreiben. Schließlich wirft er das Fenster einer Polizeistation ein, um festgenommen zu werden und ein Dach über dem Kopf zu bekommen. Die Obrigkeit schickt den seltsamen Schreiberling in die Psychiatrie, wo er mit grässlichen Elektroschocks »therapiert« wird.
1964 erscheint sein erster Roman. 1967 kommt der große Durchbruch mit »Forellenfischen in Amerika«. Vier Jahre hatte Brautigan gesucht, um einen Verlag für das Buch zu finden. Lektoren kritisierten, dass trotz des eindeutigen Buchtitels das Forellenfischen an keiner Stelle erwähnt wird. Der Autor blieb eisern, und mehr als zwei Millionen Exemplare des Buches wurden alleine in den USA verkauft.
Sprache und Stil von Richard Brautigan
Eines der Hauptthemen der Dichtung Brautigans ist die Sprache selbst. Der Autor spielt mit Sprache und Genre und erzeugt mit seiner lakonischen Ausdrucksweise eine realistische, mitunter bedrohliche, sehr häufig traurige Stimmung. Der auf den ersten Eindruck schlichte Ton der Texte ist das Ergebnis systematischer Reduktion des Ausdrucks unter konsequenter Konzentrierung und Verdichtung der inhaltlichen Substanz.
Der Hippie unter Amerikas Schriftstellern zeichnet sich durch sprachliche Treffsicherheit und Vielseitigkeit aus. Brautigan bevorzugte die Analogie, die zur Beschreibung sinnhafter Zusammenhänge oft abstrakte und mehrfach verschachtelte Gedankenbrücken zum Gemeinten baut. Sein bewusst reduzierter Erzählstil pflegt gleichwohl den pfiffig-selbstironischen Duktus. Die hohe Qualität seines experimentellen Stils zeigt sich in der vermeintlichen Leichtigkeit seiner Texte. Typisch ist schließlich, dass Brautigan bei seinen Überschriften selten das benannte, was er im Buchinneren beschrieb.
Trotz des Erfolges seiner Bücher, der sich auch im Ausland fortsetzt, bleibt Richard Brautigan heimatlos und stets auf der Suche. Wenige Monate vor seinem 50. Geburtstag erschießt er sich im September 1984.
Lass dir die Rezension vom Autor vorlesen: