Blutbuch

Merkwürdig fand ich den Autor, als er sich bei der Verleihung des deutschen Buchpreises 2022 als Zeichen der Solidarität mit den iranischen Frauen seine kinnlangen Haare kürzte—wie empfanden das wohl die iranischen Frauen?

Die Neugier überwog, als alte weiße Frau wollte ich mehr von jungen Menschen hören, die sich ihr Geschlecht selbst aussuchen. Und war von Anfang an gefesselt: hier wird geschrieben, immer neugierig, immer originell, wie gedacht wird, (und er denkt über Vieles nach!) mit englischen Einschüben, mal auch Französisch. Von seinen Beobachtungen, Gedanken und Gefühlen in Kindheit, Jugend, und jetzt, als junger Erwachsener.

Wir verstehen nach und nach, dass er seine Familiengeschichte aus weiblicher Sicht aufarbeitet, vom Vater lesen wir gleich im zweiten Absatz des Prologs, dass er „die Schwere“, wenn er von der Arbeit heimkam, ins Haus schleppte, „wie einen immensen, nassen, vermodernden toten Hirsch.“

Die Familiengeschichte geht aus von der Blutbuche, die vom Urgroßvater gepflanzt, im Hofe steht. Als Kind sieht er eine verzauberte Natur, denkt sich Märchen aus, als Erwachsener will er recherchieren, wie die im Hof stehende Blutbuche, die der Großvater sehr schätzte, beschaffen ist. Auch bei seinen tagelangen Studien sieht er, dass es „alles boys“ waren, die die Natur vor Allem kategorisierten. Und dann zeigt die Großmutter ihm den Stammbaum der Familie, er merkt, dass es ja nur die männlichen Vorfahren sind, die aufgeschrieben wurden.

Er widmet das Buch „Für meine Meere“, das ist Mutter in Berndeutsch, noch von der Zeit, als die Schweiz von Napoleon besetzt worden war. Meine Frage an alle, die Berndeutsch verstehen: Ist das Plural und er meint auch die Grossmeer?

Der Anlass zum Schreiben ist die zunehmende Vergesslichkeit der Oma, und er versucht, sich an die vielen Begegnungen zu erinnern. „Liebe Großmutter, ich möchte dir noch schreiben, bevor du ganz aus deinem Körper verschwunden bist oder keinen Zugriff auf deine Erinnerungen mehr hast.“

Es geht um das „Es“, die vielen Dinge, die nie ausgesprochen wurden, die er aber erinnert, und weil sie ihm als Kind merkwürdig schienen, merkte er sie sich und sucht und findet nun Zusammenhänge und Begründungen. Von der Grossmeer erinnert er alles, und versteht sie immer besser, er wirft ihr nichts vor, auch nicht, dass sie sich nicht gut mit seiner Mutter verstand. Von ihr wissen wir erst nur, dass sie die Matur auf dem zweiten Bildungsweg abbrach, als sie mit ihm schwanger war und auch mal eine Geliebte hatte. Spannend wird es dann, als er entdeckt, dass seine Mutter, die ja wegen seiner Geburt keinen akademischen Schulabschluss hat, die Geschichte der Frauen um viele Jahrhunderte erforscht hat und aufgeschrieben hat.

Dazwischen schiebt er immer Details seiner erotischen Eroberungen ein, auch wie er sich selbst gerne ficken lässt, mit einer Inbrunst, auf die Michel Houellebecq neidisch werden könnte.  Eine Zeit lang war er schwul, jetzt non-binär, ständig auf der Suche nach Sexualpartnern ist er immer noch. Und er ordnet „seine frühen Zwanziger kurz kulturhistorisch ein.“

Dann reflektiert er seine Haltung gegenüber heterosexuellen Machos: “Ihre Penisverlängerung war die Pferdestärke ihres Wagens. Meine Ego-Aufspritzung waren die Meter an Foucault, Bourdieu und Butler, die ich in meinem Bücherregal präsentierte. Wir spuckten auf das ökonomische Kapital, aber leckten das kulturelle Kapital immer gieriger auf“.

Nicht nur der Wortwitz gefällt mir, auch die gleichzeitige Distanz und Akzeptanz zu sich selbst. Als Kinderärztin erleichtert mich besonders: er braucht keine operativen Eingriffe, um sich als nicht-binärer Mensch wohlzufühlen sein Leben und seine Sexualität zu lieben. Achtzig Franken im Monat für „Pharmaka“ und immense Ausgaben für Körperpflege und Kosmetik sind es ihm wert.

Die Frauen im Iran werden sicherlich nie von seinem Buch erfahren. Aber der in Deutschland lebende Navid Kermani hat sein neues Buch so geschrieben, als wäre er eine Frau.

 


Genre: Leben und Lieben als non—binärer Mensch im Patriarchat, Roman
Illustrated by DuMont

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