Club der toten Dichter
«Nackenbeißer» nennt Ulrich Greiner in seinem Ratgeber «Leseverführer» reißerische Buchumschläge und beklagt: «Immer wieder garnieren seriöse Verlage ihre Bücher mit unseriösen Lockungen. Da sieht man die sehr erotische Rückenlinie einer nackten Frau – und findet drinnen eine ziemlich banale Selbstverwirklichungsepisode». Gar nicht banal verbirgt sich hinter dem hier vorliegenden Nackenbeißer «Eine Gebrauchsanweisung zum Lesen schöner Literatur», wie der Untertitel verheißt. Die dtv-Buchgestalter haben das Buch natürlich nicht gelesen, ihr Sex-sells-Cover stößt ernsthaft literarisch interessierte Leser nämlich eher ab. Der solcherart vom Verlag düpierte Autor wendet sich mit seinem Ratgeber natürlich an Laien und erklärt im Vorwort: «Damit sie keine falschen Erwartungen hegen: Dieses Buch enthält keinen Kanon der verbindlichen Texte».
Der renommierte Fachmann mit langjähriger Erfahrung im Literatur-Feuilleton gliedert sein Buch in zehn Kapitel mit jeweils einer resümierenden Pause. Dabei benutzt er deskriptive Titel, die sehr gut einstimmen auf das jeweilige Thema. Zunächst wendet er sich der Leselust als Phänomen zu, klärt dann über die dichterische Wahrheit auf und das Fortwirken literarischer Helden, von denen er Frodo ebenso benennt wie Winnetou, Tom Sawyer, Miss Marple und Sherlock Holmes, aber auch die antiken Helden, deren Namen unvergänglich sind. Sehr ausführlich widmet er sich Parzival und Michael Kohlhaas, um dann nach Werther, Emma Bovary, Don Quijote und Oblomow bei Kapitän Ahab zu enden. «Müssen gute Bücher schlecht ausgehen» ist das Thema im nächsten Kapitel, in dem eine Lanze für komische Romane gebrochen wird, abschließend mit dem Gedicht «Wo bleibt das Positive, Herr Kästner». Die Bedeutung der Anfänge wird an Beispielen von Fontane, Thomas Mann, Kafka, Musil, Thomas Bernhard, Hemingway, Melville und Tolstoi erläutert, wobei Greiner «Nennt mich Ismael» als kürzesten und prägnantesten Romananfang rühmt, den er kenne. «Ilsebill salzte nach» kennt er demnach nicht, Romananfang von Günter Grass in «Der Butt», der ja immerhin den Wettbewerb «Der schönste erste Satz» gewonnen hat und wahrlich nicht minder prägnant ist. Aber, um den wichtigsten Kritikpunkt an diesem Buch hier schon anzusprechen, des Autors Beispiele stammen leider aus ziemlich angestaubten Klassikern, man erkennt den rückwärtsgewandten Germanisten und fragt sich verblüfft nach der Zielgruppe für seinen Ratgeber.
Der lobenswerte Versuch, im sechsten Kapitel Aufschluss über die unterschiedlichen Erzählhaltungen und -perspektiven zu geben, ist leider misslungen, die genannten Beispiele sind eher verwirrend, das Wesentliche daran wird nicht verdeutlicht. Informativer ist da schon das nächste Kapitel, in dem an relativ aktuellen Beispielen von André Gide, Italo Calvino, Paul Auster und Georges Perec eher «artistische» Formen des Romans behandelt werden, was bei Letzterem zu einer wahren Eloge Greiners ausartet. Im folgenden Kapitel mit der Überschrift «Über Romane, die mit dem Leser spielen» setzt sich diese Thematik fort, zitiert werden dabei wieder Auster und Calvino. Den sprachlichen Aspekt gut geschriebener Roman behandelt das neunte Kapitel an Beispielen von Stifter und Konrad Weiß sowie – man staune! – von Juli Zeh.
Selbstkritisch erwähnt Greiner unter dem Zwischentitel «Was fehlt» seine Versäumnisse und nennt dann als nicht besprochen: Dostojewski, Balzac, Powys, Doderer, Henry James, Proust, Eichendorff und Joseph Conrad. Die wahren Versäumnisse aber zeigt gnadenlos das Register auf, für Greiner ist gute Literatur nur im «Club der toten Dichter» zu finden. Die Lektüre kann sich trotzdem lohnen, denn was er ausführt gilt natürlich auch für weniger vergilbte Bücher. Aber wenn er Arno Schmidt überhaupt nicht und Böll dezidiert im Kapitel «Über Romane, die nicht gut geschrieben sind» erwähnt, bezeugt er damit überdeutlich, dass «Fachleute» in der Literatur auch nur Menschen sind, die sich gewaltig irren können.
Fazit: mäßig
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