Der weiße Fleck
Im Werk des in englischer Sprache schreibenden Schriftstellers polnischer Herkunft nimmt die 1899 erstmals erschienene Novelle «Herz der Finsternis» eine Schlüsselrolle ein, sie wird als wichtigste und wirkmächtigste der Erzählungen von Joseph Conrad angesehen. Durch eigene Erlebnisse angeregt beschreibt der Autor eine Flussfahrt ins Innere Afrikas, wobei Fluss und Land unschwer als Kongo erkennbar sind, auch wenn sie im Text unbenannt bleiben. Auf einer Segelyacht warten der Ich-Erzähler und vier weitere Männer in der Themsemündung bei Flut und Windstille auf den Gezeitenwechsel, um flussabwärts zu fahren. In der einsetzenden Dämmerung unterbricht plötzlich der einzige Seemann an Bord die eingetretene Stille: «Und auch dies, sagte Marlow unvermittelt, ist einer der dunklen Plätze der Erde gewesen». Er beginnt von den Römern zu erzählen, die von dieser Stelle aus einst themseaufwärts fuhren, um Britannien zu erobern und auszubeuten.
Mit «seiner Neigung, ein Garn zu spinnen», erzählt der auf allen Weltmeeren herumgekommene, eher biedere Seemann von seiner Sehnsucht nach den weißen Flecken auf der Landkarte, die immer weniger würden, und den größten von allen entdeckt er auf dem afrikanischen Kontinent. Er übernimmt als Kapitän den maroden Flussdampfer einer Elfenbein-Handelsgesellschaft und fährt mit ihm ins «Herz der Finsternis». Gemeint ist damit ein weitgehend gesetzloses, menschenverachtendes Kolonialsystem, das in unersättlicher Gier so viel wie möglich aus dem Land herauszuholen sucht und dabei die Eingeborenen wie Vieh behandelt. Conrads Erzählung geißelt scharf den Rassismus der europäischen Eroberer, der so weit geht, dass nicht wenige von ihnen sogar die These vertreten, die Schwarzen gehörten biologisch nicht der gleichen Spezies an wie die Weißen. Letztere allerdings werden ihrerseits von Marlow als völlig unfähig geschildert, er findet ein heilloses Chaos vor in den Handelsstationen, wo nichts richtig funktioniert, alles irgendwie unsinnig erscheint.
Immer wieder hört er auf seiner Reise 800 Meilen flussaufwärts zu der am weitesten entfernten Station von deren besonders erfolgreichem, fast mythisch verehrten Leiter namens Kurtz, der allein mehr Elfenbein liefere als alle anderen Stationen zusammen. Dieser Erfolg jedoch, das wird Marlow immer deutlicher, ist einzig den perfiden, skrupellosen Methoden des charismatischen Mr. Kurtz zuzuschreiben, dessen habgierige Machenschaften ihn zunehmend abstoßen, je mehr er von ihm erfährt und je mehr er sich seiner Station nähert. Er findet ihn schließlich todkrank vor, nimmt ihn und eine Riesenladung Elfenbein an Bord, – Kurtz jedoch stirbt auf der Rückreise, als letzte Worte haucht er: «Das Grauen! Das Grauen!»
Man muss bei der Würdigung von Joseph Conrads Novelle natürlich berücksichtigen, dass sie zur Blütezeit des Kolonialismus erschien, seine abschreckende Schilderung des Rassenwahns und der ethnischen Säuberungen wurde sicherlich nicht überall erfreut aufgenommen. Gleichwohl ist sie besser geeignet als manche andere Quelle, die Hintergründe der Massaker zu erhellen, die Soziologin Hannah Arendt beispielsweise hat das Buch als Referenz für ihre Darstellung des Rassismus benutzt. Was den puren literarischen Wert anbelangt, und nur das ist hier mein Thema, kann ich den Jubel über diese Novelle nicht nachvollziehen. Das «Grauen», die Finsternis aus dem Titel, bleibt unkonkret, der Bösewicht ist völlig konturlos, die Geschichte ist weder besonders originell noch ist sie sprachlich überragend erzählt, woran, wie verlautet, die «unfähigen Übersetzer» Schuld seien. Mir hingegen scheint die Stärke dieser Prosa vornehmlich in ihrer Thematik zu liegen, die in Joseph Conrads Erkenntnis gründet: «Der Mensch ist ein bösartiges Tier». Warum dies so ist, hat schon Siegmund Freud umgetrieben, die Finsternis hier ist gleichzusetzen mit dem Unbewussten, diesem rätselhaften weißen Fleck auf der Landkarte unserer Seele.
Fazit: lesenswert
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