Die deutschen Anarchisten von Chicago oder wie der 1. Mai entstand

1. Mai:  “Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf, acht Stunden, was wir wollen!” Natürlich verdanken wir den 1. Mai nicht einer oder mehrerer Personen, sondern einer Bewegung. Denn die Bewegung für den Acht-Stunden-Tages war international und bestand aus Anarchisten, Sozialisten, Kommunisten und christlichen Sozialreformern. Einige davon standen in Folge der Ereignisse des 4. Mai von 1886 in Chicago vor Gericht und wurden für etwas verurteilt, das sie nicht verbrochen hatten. Die anderen bekamen seither den 1. Mai dafür.

Die sog. Haymarket-Riots und ein fatales Urteil

Auf Grundlage des Buches von Horst Karasek arbeitet Friederike Hausmann die Ereignisse von Haymarket auf. Zum ersten Mal in der Geschichte der Vereinigten Staaten explodierte eine Bombe auf dem Haymarket in Chicago und tötete einen Polizisten sofort, sechs weitere in Folge ihrer Verletzungen. Siebzig Polizisten wurden verletzt. Für den Tod verantwortlich gemacht wurden acht Anarchisten, deren exemplarische Lebensläufe in vorliegendem Buch abgedruckt sind sowie eine Vielzahl von Flugblättern, Fotos und Manifesten, die die Lektüre zusätzlich vorantreiben. Aber keinem von ihnen konnte wirklich anhand von Beweisen der Prozess gemacht werden, was dazu führte, dass nicht ihnen, sondern einer ganzen Bewegung der Prozess gemacht werden sollte, wie auch die Verteidigungsrede von August Spies, einem der Angeklagten, die ebenfalls hier abgedruckt ist, hervorarbeitet. Geschildert wird aber auch das soziale Milieu im Chicago der 18Achtziger Jahre (Stichwort: “Porkopolis“), wie sich unterschiedliche Ethnien trotz gleicher Diskriminierungen auch gegenseitig und untereinander bekämpften und später in die Bedeutungslosigkeit abspalteten. Etwa katholische Iren und protestantische Deutsche, die sich über die Auslegung der Sonntagsheiligkeit stritten: die einen wollten beten, die anderen lieber trinken.

Die Hierarchie der Verachtung untereinander

Die New York Times hatte damals eine beeindruckende Liste von Charakterisierungen für Streikende zusammengestellt. Die “Hierarchie der Verachtung” ließ auf die jeweils anderen Ethnien aber auch auf “roughs, hoodloms, rioters, mob, thieves, blacklegs, looters, rabble, labor-reform agitators, tramps, gangs, bummers, ruffians, loafers, bullies, vagabonds, brigands, robbers, riffraff, felons, idiots” herabblicken – hier wurden nur die vornehmsten aus der genannten Liste zitiert. Dabei taten die Streikenden ja nichts anderes als für 50 Cent mehr Lohn oder den Acht-Stunden-Tag zu “bummeln”. Aber die andere Seite des Klassenkampfes hatte sich schon im Vorfeld des 4.Mai 1886 schwer bewaffnet, während dem “armen Mann” nur mehr das Dynamit blieb. So standen sich zum Beispiel beim 1877er Eisenbahnstreik die Citizen Association mit 3 x 500 Mann, die Polizei mit mehreren Tausend, einige Kavallerieschwadrone, also die gesamte “gesetzmäßige Autorität” einem proletarischen Lehr- und Wehrverein von gerade einmal 1000 Mann gegenüber. Zudem verfügten erstere über die sog. Gatling Gun, den Vorläufer des Maschinengewehrs. “Aus der desillusionierenden Distanz des ausgehenden 20. Jahrhunderts wirkt der unerschütterliche Optimismus und die romantische Revolutionsbegeisterung geradezu naiv”, schreibt Hausmann/Karasek, “mit der die Chicagoer Sozialisten, alle großen Umwälzungen des Jahrhunderts für sich reklamierten”.

Der 1.Mai: Kampftag der internationalen Arbeiterschaft

Der Acht-Stunden-Tag wurde als Teil des New Deal von Franklin D. Roosevelt 1938 schließlich zum Gesetz. Der 1. Mai wird seit 1889 als Internationaler Kampftag der Arbeiter gefeiert. In den USA allerdings erst am Labor Day im September, wohl um gänzlich alle Erinnerungen an den Justizirrtum des 4. Mai 1886 zu tilgen. Denn die noch lebenden Verurteilten wurden sechs Jahr nach Urteillsspruch freigelassen und alle acht 1893 rehabilitiert. Sie waren unschuldig. Die Haymarket-Urteile gelten auch heute noch als Beispiel von Klassenjustiz wie auch die Urteile gegen Sacco und Vanzetti 1927.

Friederike Hausmann
Die deutschen Anarchisten von Chicago oder wie der 1. Mai entstand
WAT [862]
2023, 208 Seiten. Broschiert. Mit vielen Abbildungen.
ISBN 978-3-8031-2862-1
Wagenbach Verlag
15,– €


Genre: Anarchismus, Geschichte
Illustrated by Wagenbach

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