Altpapier, Sex und Poetik
Der österreichische Schriftsteller Arno Geiger beschreibt in seiner autobiografischen Erzählung «Das glückliche Geheimnis», wie er in fünfundzwanzig Jahren als Altpapier-Sammler in Wien auf der Suche war nach literarischen Schätzen. Beginnend in seiner Zeit als Student, brachte ihm das Stöbern im Altpapier-Container damals so manchen Fund ein, der sich in bare Münze verwandeln lies und ihn eine Zeit lang sogar finanziell ‹über Wasser hielt›. Denn was ihm da an Zufallsfunden in die Hände fiel, waren teilweise wertvolle Antiquitäten, die von ahnungslosen Erben bei der Wohnungs-Auflösung verstorbener Angehöriger achtlos weggeworfen wurden. So berichtet er von einer «Gründlichen Violinschule» aus der Feder von Leopold Mozart, dem Vater des berühmten Wolfgang Amadeus, die etwa aus dem Jahre 1770 stammen dürfte. Eine echte Trouvaille, denn für derart Rares zahlen Sammler hohe Summen, die dem damals noch ‹armen Poeten› als Student den Lebensunterhalt für ein halbes Jahr gesichert haben. Wie er die vielen Bücher an den Mann gebracht hat, welche Abnehmer er dafür hatte, verschweigt er allerdings.
Nun sind Müllsammler in der gesellschaftlichen Hierarchie ganz unten angesiedelt, zumeist ja Nichtsesshafte, die Pfand-Flaschen oder –Dosen sammeln, um sie zu Bargeld zu machen bei der Rückgabe. Deshalb war es Arno Geiger sehr peinlich, was er da tat, und er hielt es streng geheim. Niemand wusste davon außer seiner Freundin und späteren Ehefrau, es war für sie beide «Das glückliche Geheimnis». Denn durch die Konvolute von Briefen oder Tagebüchern, die er außer den literarischen Büchern auch oft fand, erhielt er einen tiefen Einblick in das intim Menschliche. Er erfuhr, ohne die Person leibhaftig zu kennen, deren Gedanken und Empfindungen quasi in Reinform, also ohne störendes Wissen über deren Körperlichkeit. Das würde ja nur ablenken, und zwar über alle Standesgrenzen und intellektuellen Unterschiede hinweg. Für seine persönliche Entwicklung als Schriftsteller seien diese sehr speziellen ‹Studien› äußerst segensreich gewesen. Er sei dadurch im wahrsten Sinne des Wortes ‹geerdet› worden, was sich thematisch und stilistisch in seinem Werk niedergeschlagen habe.
Arno Geiger beschreibt also in diesem Buch seine durch die Lektüre der gefundenen Bücher geförderte Entwicklung als Schriftsteller, er gewährt dem literarisch interessierten Leser somit einen aufschlussreichen Einblick in seine Schreibwerkstatt. Für den Roman «Es geht uns gut» erhielt er schließlich im Jahre 2005 überraschend als Erster den damals neu gegründeten Deutschen Buchpreis, was seiner Karriere als Schriftsteller einen raketenartigen Auftrieb gab, verbunden mit einer traumhaft hohen Auflage. Seine bisher parallel verlaufenden beiden Leben, als literarischer Schatzsammler und als Schriftsteller, «entfernten sich immer weiter voneinander», schreibt er dazu. Und so beendet er schließlich seine Rundfahrten durch Wien als, Altpapiersammler, weil sie zur bloßen Gewohnheit geworden waren, ohne jeden Zuwachs an Erkenntnis.
Seinen Werdegang als Autor ergänzt Arno Geiger immer wieder durch private Episoden aus seinem Leben. Er erzählt von seinen Eltern und, recht freimütig, auch von den Frauen, die er vorsichtshalber jeweils durch einen Buchstaben anonymisiert, und zu denen gehört mit K. auch die Liebe seines Lebens. Mit vielen literarischen Verweisen und die selbstbezogenen Reflektionen seines Autors versehen, ist dieses Buch für wissbegierige Leser durchaus bereichernd. So bewundert er Philipp Roth, der sich nach «Nemesis», seinem letzten Roman, 2012 vom Schreiben zurückgezogen hat. Was Arno Geigers Buch «Das glückliche Geheimnis» anbelangt, habe er sich radikal dazu entschieden, an die Öffentlichkeit zu gehen, er wolle nämlich ebenfalls, wie sein amerikanischer Kollege, sein Leben nicht am Schreibtisch beenden. Man ist verblüfft als Leser, wie hier nonchalant aus Altpapier, Sex und Poetik Literatur entsteht. Auch wenn nicht jede der reichlich eingestreuten Aphorismen zu Leben und Literatur gelungen ist und die vielen Wiederholungen irgendwann doch ziemlich nerven, ist diese Lektüre gleichwohl bereichernd.
Fazit: lesenswert
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