Offene See

Der englische Lyriker Benjamin Myers (*1976) legt mit „Offene See“ erstmals einen sprachgewaltigen Roman vor – angesiedelt in den 40er Jahren im ländlichen, kriegsversehrten England.

Der sechzehnjährige Robert lebt in einem verarmten Dorf im Norden Englands kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Da das Dorf vom Kohleabbau abhängig ist, soll Robert nach der Schule im Kohlebergwerk seinen Lebensunterhalt verdienen.

Robert aber ist ein wahres Naturkind. Nichts liebt er mehr, als nach der Schule allein durch Wiesen und Felder zu stromern. Die Enge des Schachts unter Tage, die staubige Luft, das künstliche Licht: All das graut ihn so sehr, dass er in seinem jugendlichen Abenteuertrieb beschließt, loszuziehen und die Welt zu sehen.

Das Leben wartete da draußen, bereit, gierig getrunken zu werden.

Mit dem Allernotwendigsten ausgerüstet, begibt er sich auf Wanderschaft und lässt die gewohnte Umgebung hinter sich – streift durch fremde Wälder, Moore und Haine. Die Freiheit, die sich ihm offenbart, ist überwältigend.

Die Neuheit des Unbekannten war berauschend. Hier klang sogar alles anders, die leere Weite der Moore ein flüsternder Ort, frei von dem Dröhnen und Rattern des Bergarbeiterlebens.

 Je weiter ich mich von allem entfernte, was ich je gekannt hatte, desto leichter fühlte ich mich.

 Und doch lastet sein kommendes Schicksal wie ein schwarzer Fleck auf seiner Seele, denn er weiß, dass er seiner Vergangenheit nicht entfliehen kann.

 Es war ein Akt der Befreiung und Rebellion, doch die Fesseln des alten Lebens waren noch immer so festgezurrt, dass ich mich fragte, ob die Wanderung lediglich eine kurze Galgenfrist war.

 Sein Weg führt ihn bis an die Ostküste Englands, wo er in einem verwilderten Cottage dem Freigeist Dulcie Piper begegnet, einer älteren Frau, die bereits in der Welt herumgereist ist und ein anderes Weltbild und andere Werte vertritt, als Robert sie von Kindheit an eingetrichtert wurden. Dulcie ist Hobbyimkerin, liebt die Poesie und alles Künstlerische, raucht Zigarre und leugnet Gott. Sie ist weder verheiratet noch hat sie sonst irgendwas gemein mit den Frauen aus Roberts Dorf. Selbst zu den ihm verhassten Deutschen hat sie eine klare Meinung, die Roberts Ansichten widerspricht:

Krieg ist Krieg: Er wird von wenigen angezettelt und von vielen geführt, und am Ende verlieren alle. […] Hör auf, die Deutschen zu hassen; die meisten sind genau wie du und ich.

Was beide Nationen trennt, seien andere Sitten, und natürlich das Meer. Aber auch das war nicht immer dort. Demnach sei früher einmal „England Deutschland gewesen und umgekehrt.“

Dulcie eröffnet Robert eine ihm gänzlich unbekannte Welt. In dieser Welt steht nicht an vorderster Stelle, den Erwartungen anderer gerecht zu werden oder seine Arbeit tüchtig zu verrichten, sondern die ungestörte Entfaltung seiner Persönlichkeit und das Zulassen von Träumen. Die geistige Entwicklung unseres Protagonisten ist enorm. Am Ende des Romans wird aus einem Dorfjungen mit beschränktem Horizont aus dem staubigen Kohlerevier ein einflussreicher Mann, der seine Träume lebt.

Doch auch Dulcie, die wie eine weise Mentorin Einfluss auf Roberts Leben ausübt, ist nicht so unbeschwert, wie sie vorgibt zu sein. Als Robert ihre überwucherte Hecke stutzen möchte, um ihr den Blick auf die offene See frei zu machen, lehnt sie vehement ab. Auch als Robert ein altes an sie persönlich adressiertes Manuskript findet, reagiert Dulcie ungewohnt mürrisch. Was ist in ihrer Vergangenheit geschehen? Robert kommt Dulcies Geheimnis immer näher, bis auch sie sich gezwungen sieht, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Nicht nur Robert ist es, der in diesem Sommer 1946 über sich hinauswächst, auch Dulcie kann dank Robert endlich ein düsteres Kapitel ihres Lebens zuschlagen und positiv der Zukunft entgegenblicken.

„Offene See“ ist hohe Literatur, die man heutzutage nicht mehr allzu oft zu lesen bekommt. Myers hat seinen Lesern eine poetische Geschichte vorgelegt, die dazu anregt, sich auf heilsame Weise mit seinem eigenen Leben auseinandersetzen.

Der wortgewandte Autor gebraucht eine sehr metaphorische, ästhetische Sprache und schreibt mit viel Liebe fürs Detail. So erwähnt er mitunter jedes summende Insekt, das in der Luft umherschwirrt, jeden Käfer, der durchs Gehölz kriecht, und jedes Kraut, das am Wegesrand wächst. Statt die Handlung ereignisreich aufzuladen, haucht er kleinsten Momenten mit ungeheurer Präzision Leben ein, wie etwa der Ekstase des Sich-Verlierens in den Urgewalten der Natur oder Momenten der Freiheit, in denen man realisiert, dass einem die Welt zu Füßen liegt und überall Tore offen stehen, durch die man bloß hindurch gehen muss. Wie mit dem Blick aufs Meer, bei dem sich Robert fühlt, als könnte er irgendwer sein, irgendwo hin gehen und irgendwas machen. Bei jeder besonders elegant gewählten Formulierung musste ich innehalten, den Satz erneut lesen und ihn mir genussvoll auf der Zunge zergehen lassen, so meisterlich weiß Myers mit Sprache umzugehen. Wie es sich für einen Lyriker gehört, begegnet man stilistischen Mitteln an jeder Ecke, aber nie so häufig, dass man ihrer überdrüssig wird: Metaphern in Hülle und Fülle, Vergleiche, Symbole, Allegorien, Personifizierungen, z. B., wenn es um den Krieg geht:

 In diesen Gesprächen mit Fremden wurde der Krieg kaum erwähnt; diese Bestie blieb begraben. Sie war noch zu frisch, um exhumiert zu werden.

Aber neben einer die Seele beglückenden Handlung gibt Myers zugleich einen traurigen Abriss der damaligen Zeit und bildet die erbärmlichen Lebensverhältnisse und das psychische Leid ab, das der Krieg verursacht hat. Zwar war Robert „nicht alt genug, um sich [im Krieg] zum Helden gemacht zu haben“, aber auch nicht „jung genug, den Wochenschaubildern entkommen zu sein“. Dennoch war er nicht unmittelbar vom Krieg betroffen, da er ihn gegenwärtig mit den „Augen der Jugend sieht”, worin [der Krieg] lediglich eine Abstraktion darstellt, „eine Erinnerung zweiten Grades, die bereits verblasst.“

Trotz der historisch aufgeladenen ernsten Thematik, die überall präsent ist, mangelt es der Geschichte nicht an Humor. In den lebhaften Dialogen zwischen Robert und Dulcie, die sich über mehrere Seiten erstrecken und sich häufig zu philosophischen Diskussionen ausweiten, die man interessiert verfolgte, gab es viel zu schmunzeln, wenn Roberts Naivität auf Dulcies Lebenserfahrung trifft.

Myers fängt in diesem äußerst vielschichtigen Roman allerlei Themen ein, das Leben in all seinen Facetten – Glück, Freiheit, Liebe, (Zukunfts-)Ängste, die Inspiration und Kraft einer Begegnung –, besticht dabei durch Identifikationsfiguren, die dem wahren Leben entsprungen zu sein scheinen, und einer zwischen bittersüßen Melancholie und ansteckender Lebensfreude springenden Stimmung.

„Offene See“ ist eine Lobeshymne auf die Freiheit, die Selbstverwirklichung und auf ein Leben im Einklang mit der Natur. Sie fordert jeden einzelnen dazu auf, seinen Horizont zu erweitern und das Unmögliche zu träumen. Dieses Buch ist eine Quelle, aus der man nachhaltig Zuversicht, Lebensmut und Hoffnung schöpft, und die einen auch von düsteren Gedanken befreien vermag.

An dieser Stelle sollte das Übersetzerduo Ulrike Wasel und Klaus Timmermann nicht unerwähnt bleiben, das diese Erzählung exzellent ins Deutsche übertragen hat. Denn die Kunst der Übersetzung ist noch einmal eine Schwierigkeit für sich, die den beiden hervorragend gelungen ist!

Mein Video-Buchblog:

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Genre: Roman
Illustrated by DuMont