Rückkehr

Wahrheit schichtweise

In seinem neuen Roman «Rückkehr» folgt Willi Achten dem bekannten Handlungsmuster des nach langer Zeit heimkehrenden Protagonisten, der sich schwertut, wieder an sein einstiges Leben anzuknüpfen. Handlungsort ist ein ungenanntes Alpendorf, fortgetrieben hat ihn ein schlimmes Erlebnis, das im beschaulichen Ambiente eines Heimatromans geschildert wird und dessen Geheimnis sich dem Ich-Erzähler nach mehr als zwanzig Jahren nur zögerlich erschließt. Die in der Gegenwart angesiedelte Geschichte behandelt sattsam bekannte Themen wie Heimatliebe, Umweltzerstörung, Ehebruch, Männerfreundschaft und Jugendliebe. Gelingt es dem Autor, diesem Themenkomplex neue Facetten abzugewinnen?

«Wir sehnen uns nach Hause und wissen nicht, wohin» lautet das dem Roman vorangestellte Motto von Joseph von Eichendorff. Auch für Jakob Kilv stellt sich die Frage, ob er an den seinerzeit fluchtartig verlassenen Ort seiner Kindheit zurückkehren soll. Seine Freunde von einst sind alle noch da, auch seine erste Freundin Liv lebt noch in dem Dorf am See, und sogar die Nachbarn sind die alten. Sie alle freuen sich, dass er wieder da ist. In zwei Zeitebenen wird Jakobs Suche nach den geheimnisvollen Hintergründen geschildert, die geradezu zwangsläufig zu seiner überstürzten Flucht führen mussten. Mit vielen Rückblenden werden schichtweise all die Geschehnisse aufgedeckt, die ihn damals so brutal fortgetrieben haben. Seine Clique hatte in hilflos wirkenden Attacken versucht, die Pläne des örtlichen Liftbetreibers für einen gigantischen neuen Skizirkus zu vereiteln. Dadurch würde nicht nur die Landschaft zerstört und die Natur nachhaltig geschädigt, wie die erbosten Umweltschützer meinen, auch die geologische Stabilität der betroffenen Bergregion am Weißkogel wäre massiv gefährdet. Die ist ohnehin schon durch die Klimaerwärmung und den deshalb abschmelzenden Permafrost äußerst fragil geworden. Ein dadurch irgendwann ausgelöster Bergrutsch in den See hinein würde jedenfalls katastrophale Folgen haben. Der Vater von Jakob unterstützt als engagierter Ornithologe die jugendlichen Naturschützer, deren Anführer Bruno mit Jakobs Mutter heimlich ein Verhältnis hat. Ein auswärtiger, gewaltbereiter Umwelt-Aktivist löst dann auf einer Geburtstagsfeier des rücksichtslosen, von Politikern unterstützten Ski-Moguls eine Brandkatastrophe aus, die zwei Menschenleben fordert und Jakob verheerende Brandwunden zufügt.

Durch die von ihm wie Zwiebelschichten nach und nach freigelegten Hintergründe und Zusammenhänge wird erst ganz zum Schluss klar, durch welch unheilvolle Verstrickungen das Geschehen damals den für Jakob so tragischen Verlauf nahm. Gleiches gilt für sein Verhältnis zu Liv, das er selbst nicht richtig einzuschätzen weiß. Ist sie nun wieder seine Freundin oder ist er nur ein Liebhaber, wie es sein bester Freund Bruno scheinbar auch ist? Willi Achten treibt sein Spiel mit der Ungewissheit auf die Spitze, sehr zum Missvergnügen vieler Kommentatoren, denen diese Spannung fördernde, bis zuletzt alles offen lassende Erzählweise als gar zu aufdringlich erscheint. Erschwerend kommt hinzu, dass die Figuren allesamt als wenig emphatisch beschrieben sind und damit kaum Einblick in ihr Innerstes zulassen, was es schwierig macht, ihr Handeln wirklich zu verstehen.

Eine Besonderheit sind neben den mitreißenden Schilderungen einer grandiosen Natur insbesondere die ornithologischen Ausflüge des Ich-Erzählers auf den Spuren des Vaters. Er liebt die Vogelwelt ebenso und beschreibt sie kenntnisreich, am Ende sogar mit der diffizilen Auswilderung zweier Bartgeier. Er selbst ist ja wie ein Zugvogel an den ursprünglichen Ort seines Lebens zurückgekehrt, aber ob er denn hier auch bleiben wird? Der eher passiv wirkende Held sagt dazu nichts. Liv neben ihm schläft noch, «Ich bleibe, schreibe ich mit dem Finger in die Luft und breche auf», lautet der letzte Satz. Neue Facetten zum Thema, wie eingangs gefragt, tun sich hier allerdings nicht auf!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Es gilt das gesprochenen Wort

Wahrhaftig und ungeniert schnodderig

Den Anstoß zu seinem Debütroman «Es gilt das gesprochene Wort» bekam der Film-Regisseur Sönke Wortmann bei einem Friseurbesuch in Prag. Der schwatzhafte Figaro zog ihn mit der Frage, woher er denn komme, in ein Gespräch hinein und antwortete auf die Gegenfrage zu seiner eigenen Herkunft mit ‹Tunesien›. Im Roman führt dieses Gespräch Franz-Josef Klenke, der Redenschreiber des deutschen Außenministers, der zu einem Arbeitsbesuch nach Prag gekommen ist und zu dessen Delegation Klenke gehört. Ein Tunesier, der in Prag lebt und arbeitet, sei außergewöhnlich wegen der restriktiven Immigrations-Politik östlicher EU-Staaten, – und schon hatte Wortmann sein Thema gefunden, wie er berichtete.

Der Autor erzählt in seinem gut recherchierten, informativen Roman von einer Reise des deutschen Außenministers nach Tunesien, deren Höhepunkt die Unterzeichnung eines neuen Migrations-Abkommens bildet. Zur Entourage des Ministers gehört neben dem Rhetoriker Klenke auch der in der Botschaft arbeitende Diplomat Schröder, der sich in einer fatalen Lebenskrise befindet. Nicht nur, dass er sich bei der Beförderung übergangen fühlt, auch seine Ehe ist gescheitert, seine Frau reist mit den Kindern in ihre chilenische Heimat zurück. Und was Migration anbelangt, so hat sich Cornelius von Schröder mit der Zeit im Internet einigen Schwachsinn angelesen und auch zueigen gemacht. Der Autor nutzt die privaten Diskussionen des radikalisierten Querdenkers mit seinen Kollegen zu köstlichen Seitenhieben auf die Verschwörungs-Theoretiker aller Couleur. Besonders in dem Disput über 9/11 wird deutlich, wie anfällig die ewig Unzufriedenen für hanebüchene Umdeutungen der Fakten sind, deren offensichtlichen Blödsinn sie dann mit religiösem Eifer verteidigen. Und dazu gehört eben auch die durch den Islam eifrig betriebene ‹Umvolkung› Europas, die dann ja immer wieder gewaltbereite Radikale auf den Plan ruft. Die im Buchtitel angesprochene Kunst der Rede konterkariert der Autor elegant durch die Figur der Freundin von Klenke. Maria nämlich leidet an selektivem Mutimus, einem oft mit Depressionen verbundenen, psychogenen Schweigen, selbst ihrem Freund gegenüber kann sie sich anfangs nur schriftlich äußern.

Der Autor schickt seiner Geschichte einen informativen Prolog voraus, in dem er in launigen Worten vom ‹Prager Fenstersturz› berichtet. Es ist erstaunlich, wie es dem Autor gelingt, die großen Themen der aktuellen Politik, mit immer neuen, unterhaltsamen Szenen angereichert, in seine auf ein dramatisches Ende hinsteuernde Geschichte einzubauen. Dazu gehört beispielsweise die strapaziöse, mehrtägige Tour von drei deutschen Angehörigen des diplomatischen Dienstes auf Kamelen durch die Sahara, Sandsturm inklusive, oder ganz zum Schluss dann der erste Flug von Maria, der in böse Turbulenzen gerät und unabsehbare Folgen zeitigt.

Der Verrohung der Sprache in einem unkontrollierten Internet, die zu abstrusen Fehlinterpretationen unbedarfter User führt, steht in diesem Roman die Diplomatie mit ihren ausgefeilten Wortgebilden gegenüber. Es ist der ironische Blick nicht nur hinter die Kulissen des Auswärtigen Dienstes, sondern auch der gesamten politischen Kaste, der dieses Buch zu einer bereichernden Lektüre macht. Und es sind die vielen eingestreuten politischen Begebenheiten samt aller wohltuend kritischen, oft sarkastischen Kommentare, durch die der Roman auf eine sehr amüsante Weise unterhält. Ein Diplomat sei jemand, heißt es da beispielsweise an einer Stelle, der ‹ja› sagt, wenn er ‹vielleicht› meint, und ‹vielleicht› sagt, wenn er ‹nein› meint, und wenn er ‹nein› sagt, – dann ist er gar kein Diplomat! Dicht am aktuellen Zeitgeschehen entlang wird hier mit leichter Hand von der Macht der Worte erzählt, ohne dass damit philosophisch oder politisch Tiefsinniges verbreitet werden soll. Ein Pageturner also, den man ungern aus der Hand legt, weil er die Realität so wahrhaftig und ungeniert schnodderig beschreibt.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Ullstein Berlin

Vater und ich

Wortlos verbunden

Die mit ihren deutsch-türkischen Glossen in der Berliner Zeitung bekannt gewordene Journalistin Dilek Güngör wurde mit ihrem dritten Roman «Vater und ich» für den Deutschen Buchpreis 2021 nominiert. Sie behandelt darin das Verhältnis von Eltern und Kindern zueinander, was ja spätestens dann schwierig wird, wenn die Eltern den heranwachsenden Kindern anfangen peinlich zu werden. Eine Thematik, die eher selten zu finden ist in der Literatur. In dem vorliegenden Band wird dieses Problem noch angereichert mit generationsbedingt unterschiedlichen Migrations-Erfahrungen, die von Sprachbarrieren und ungleichem Bildungs-Niveau herrühren, was sich folglich dann auch in einem unterschiedlichen sozialen Status niederschlägt.

Die in Berlin erfolgreiche Journalistin Ipek nutzt den mehrtägigen Wellness-Urlaub ihrer Mutter, um den Vater zu besuchen. Als erwachsene Tochter hofft sie, die schon lange andauernde, bedrückende Sprachlosigkeit zwischen sich und dem Vater überwinden zu können, wenn sie mit ihm mal allein ist und ungestört, ohne Ablenkung durch die quirlige Mutter, einige Tage nur mit ihm verbringt. Schon am Bahnhof wird das gestörte Verhältnis deutlich, denn der Vater wartet auf dem Parkplatz im Auto auf sie, statt sie auf dem Bahnsteig zu empfangen, wie es üblich ist, wenn ein seltener und willkommener Gast zum Besuch eintrifft. Ist das Gedankenlosigkeit oder ein Indiz für die fehlende Beziehung zur Tochter? Dilek Güngör nähert sich dieser Frage durch Rückblenden auf die Vorgeschichte der Familie. Der Vater ist in den siebziger Jahren als Gastarbeiter nach Schwaben gekommen, die Mutter hat zunächst als Putzfrau gearbeitet. Als später bei Bekannten ein kleines Haus mit Laden zum Verkauf anstand, hat das Ehepaar ihre bescheidene Eigentums-Wohnung verkauft und sich selbständig gemacht. Vater mit einer eigenen Polster-Werkstatt, Mutter mit einer Änderungs-Schneiderei im ehemaligen Laden. Im Obergeschoss befindet sich ihre Wohnung, in der die Ich-Erzählerin Ipek groß geworden ist.

Es ist eine schwierige Annäherung der Tochter an einen Vater, dem sie früher doch so besonders nahe gestanden hat. Die Beiden haben sich heute aber nichts mehr zu sagen, sie schweigen sich gegenseitig an. «Kann nicht das Schweigen unsere Sprache sein» fragt sie sich an einer Stelle des Romans verzweifelt. Obwohl Ipek als Radio-Journalistin Reportagen mit Menschen macht und dabei die unterschiedlichsten Leute zum Sprechen bringen muss, findet sie zum eigenen Vater keinen Zugang. Sie scheitert an seiner Einsilbigkeit und am eigenen Unvermögen, locker und unbeschwert mit ihm zu reden. Trennend hat zum einen gewirkt, dass die Unbefangenheit des Vaters beim Kuscheln und Herumbalgen mit der Tochter religiös bedingt schon recht früh, während der Pubertät, verloren ging und einem förmlichen Umgang gewichen ist, man gibt sich allenfalls noch die Hand beim Begrüßen. Insbesondere aber, das wird ebenso klar, ist daran auch die Sprache schuld. Besonders der Vater ist dem Türkischen treu geblieben, während für die in Deutschland geborene Ipek die Heimatsprache Deutsch ist. Türkisch spielt nur familienintern noch eine Rolle, was beim Vater besonders erschwert wird durch seinen schwer verständlichen Dialekt. Für die in bescheidenen Verhältnissen lebenden Eltern führt Ipek in Berlin ein unbeschwertes Luxusleben, auch das bietet einiges Konfliktpotential, ihr fehle es an Demut, hat der Vater ihr mal vorgeworfen.

Der in direkter Rede, in Du-Form an den Vater gerichtete Text schildert auf beklemmende Weise eine Entfremdung, für die es scheinbar viele Ursachen gibt. Allerdings lässt es die Autorin offen, warum es denn überhaupt so weit kommen musste. Auf subtile Weise, das kann man immerhin zwischen den Zeilen lesen, verstehen sich die Beiden ja doch, viele kleine Gesten deuten darauf hin. Das gilt vor allem für die intimste Szene ganz am Schluss des Romans, als Ipek dem Vater kurz vor ihrer Abreise noch schnell die Haare schneidet.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Verbrecher Verlag

Über Menschen

Mehr Essay als Roman

Niemand bedient den aktuellen literarischen Trend des Dorfromans so erfolgreich wie Juli Zeh, die fünf Jahre nach ihrem Erfolg mit «Unterleuten» nun mit «Über Menschen» wieder das Großstadtleben Berlins dem Landleben in einem öden brandenburgischen Kaff gegenüberstellt. Dieser Gesellschafts-Roman konzentriert sich, anders als sein Vorgänger von 2016, auf nur wenige Figuren aus einem fiktiven Ort namens Brackendorf. Thematisch widmet er sich außer dem Corona-Wirrwar dem latenten Alltags-Rassismus und einem missionarisch betriebenem Umweltschutz. Sie hoffe, hat die Autorin erklärt, dass ihr Buch helfe, Barrieren zu überwinden.

Zeitlich ist der Roman im ersten Lockdown Anfang 2021 angesiedelt, als die 36jährige Werbetexterin Dora sich von ihrem Freund trennt, der als glühender Klima-Aktivist immer abstrusere Thesen vertritt und ihr damit den Alltag vergällt. Zusätzlich genervt von den Einschränkungen des Lockdowns, hat sie kurz entschlossen ein schon lange leerstehendes Haus in dem 285-Seelen-Dorf gekauft und ist mit ihrer Hündin, die transgender-gemäß den Namen «Jochen-der-Rochen» trägt, in das auch für sie so verheißungsvolle Landleben geflüchtet. Wie nicht anders zu erwarten wird sie jedoch als Städterin sogleich mit den profanen Alltagsproblemen des Landlebens konfrontiert, aber auch mit mentalen Hürden, die es im Zusammenleben mit den wenigen Nachbarn zu überwinden gilt. Ihren ersten Kontakt hat sie über die hohe Trennmauer hinweg mit ihrem direkten Nachbarn, der wütend ist, weil ‹Jochen› im Kartoffelbeet gegraben hat, weshalb er die Hündin nun im hohen Bogen über die Mauer zurückwirft auf Doras Grundstück. Er sei übrigens der Dorfnazi, erklärt er ihr lapidar, und werde von allen ‹Gote› genannt. Im Wald trifft Dora auf Franzi, die, wie sich herausstellt, Gotes zehnjährige Tochter ist und beim Vater lebt. Ferner macht sie Bekanntschaft mit dem Floristen Tom und dem Kabarettisten Steffen, einem schwulen Männerpaar, das dekorative Pflanzen-Gestecken herstellt. Der Verkauf floriert, in Zukunft wollen sie damit auch im Internet tätig werden, wobei die inzwischen arbeitslos gewordene Dora ihnen helfen soll. Der Nachbar Heinrich von gegenüber, der den Spitznamen R2-D2 trägt, macht sich ungefragt über Doras verwilderten Garten her, während Gote, der früher Schreiner war, ihr unaufgefordert Möbel baut und in ihr leeres Haus stellt. Und Sadie schließlich steht mit einem Sack Saatkartoffeln vor der Tür, die beim Händler derzeit nirgends zu bekommen sind, und erzählt beim Kaffee, dass sie als alleinerziehende Mutter permanent in Nachschicht arbeiten muss, um finanziell über die Runden zu kommen

Soweit die Dorfidylle mit ihren vielen Klischees, die den Hintergrund bilden für die sozialen Verwerfungen, die Juli Zeh mit ihrem Roman aufzeigen will. Als Hauptübel entlarvt sie die permanente Unzufriedenheit der Menschen, die fast alles haben, sich aber trotzdem ständig an irgendwas stören, über irgendwas aufregen, anderen unbedingt ihre Meinung aufzwingen wollen. Schon kleinste Beeinträchtigungen des Wohlergehens werden da als Katastrophe wahrgenommen und erbittert bekämpft. Mit analytischem Scharfblick zeigt die Autorin durch ihr obskures Figuren-Ensemble nicht nur, wie solch verhärtete Fronten entstehen, sondern auch, wie sie sich fast von allein auflösen, wenn Menschlichkeit ins Spiel kommt, die ja schließlich in jedem stecke. Das gerät ihr allerdings oft gar zu rührselig und märchenhaft, aber Empathie für ihre Figuren kommt trotzdem nicht auf.

Irritierend ist am Ende die erkennbare Absicht der Autorin, die Untaten ihres Protagonisten Gote durch seine tückische Erkrankung zu relativieren. Und dass nun ausgerechnet Doras Vater dafür als medizinische Koryphäe in der Charité gilt, strapaziert den Zufall denn doch zu arg. Das Gedankengut dieses Romans wäre besser in einem brillant formulierten Essay verarbeitet worden, für einen Roman nämlich fehlt neben dem Impetus vor allem ein tragfähiger Plot.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Pflaumenregen

Politisches Terra incognita

In seinem neuen Roman «Pflaumenregen» beschäftigt sich der studierte Sinologe Stephan Thome mit der Geschichte Taiwans, die den historischen Hintergrund bildet für sein breit angelegtes Familienepos. Beginnend im Zweiten Weltkrieg über das Ende der japanischen Kolonialzeit und die wechselnden politischen Systeme bis hinein in die Gegenwart wird die Geschichte von Umeko erzählt. Die Achtjährige erlebt noch unter japanischer Herrschaft mit, wie die Armee ein Lager für Kriegsgefangene einrichtet, die in der örtlichen Kupfermine unter unmenschlichen Bedingungen zur Arbeit eingesetzt werden. Nach damals vorherrschender japanischer Ideologie allesamt Feiglinge, denn nur ein feiger Soldat kann in Gefangenschaft geraten, der tapfere stirbt, bis zum letzten Atemzug kämpfend, für den Tenno.

Historisch weniger sattelfesten Lesern werden in einem informativen Vorwort die politischen Vorbedingungen erläutert, beginnend beim chinesisch-japanischen Krieg von 1894/95, den China verlor, womit die Insel zu einer japanischen Kolonie wurde. Nach Ende des Pazifischen Krieges und der Machtübernahme der Kommunisten auf dem chinesischen Festland geriet Taiwan 1949 unter die Kontrolle der oppositionellen Nationalisten unter Chiang Kai-shek. Der errichtete einen autoritären Polizeistaat, ehe dort schließlich, erst im Jahre 1996, die ersten freien Präsidentschafts-Wahlen stattfinden konnten. Bis heute betrachtet China die Insel bekanntlich als chinesisches Territorium und strebt im Rahmen seiner ‹Ein-China-Politik› eine Wieder-Vereinigung an. Man kann nur hoffen, dass der Riesenstaat China dabei nicht die jüngst erfolgte gewaltsame, aber weitgehend folgenlose russische Annexion ukrainischen Staatsgebiets als nachahmenswertes Vorbild ansieht.

Der Roman beginnt mit nicht weniger als fünfzehn Seiten, auf denen minutiös ein Baseballspiel mit Umekos Bruder geschildert wird, man versteht kein Wort und fühlt sich nur einfach ‹im falschen Kino›! Umeko bedeutet übrigens Pflaumenkind, was denn auch den Romantitel erklärt. Auch wenn der Großvater noch immer chinesisch geprägt ist, hat sich die jüngere Familie an die japanische Lebensweise angepasst, spricht japanisch und verehrt den Tenno als gottgleichen Kaiser. Die Unterdrückung der Chinesen endet erst 1945 mit der japanischen Kapitulation, die Verhältnisse kehren sich schlagartig um, Umeko muss nun wieder ihren chinesischen Namen Hsiao Mei annehmen. In eindringlichen Bildern schildert der Autor in den zwanzig Kapiteln des Romans das Leben ihrer Familie, die ebenfalls von der staatlichen Willkür betroffen ist. Ihr Vater verliert seine Arbeitsstelle, der «dritte Onkel» verschwindet spurlos und ihr geliebter Bruder Keiji, der auf der Seite Japans gekämpft hat, verschwindet für zehn Jahre in einem Arbeitslager. In zeitlichem Wechsel werden diese Geschehnisse mit Episoden aus der Jetztzeit unterbrochen, als 2017 zum achtzigsten Geburtstag der Großmutter Umeko nicht nur die beiden älteren, sondern auch deren jüngster Sohn anreist, Professor Harry Chen aus den USA. Und auch Sohn Paul und Tochter Julie werden dabei sein. Damit verschiebt sich die Perspektive auf die Jetztzeit und auf die Enkelin Julie, die in Hongkong mit dem Engländer Dave zusammenlebt.

Harry plant ein Buch über Taiwans Geschichte und fährt deshalb mit seiner Mutter an den einstigen Heimatort Kinkaseki, ohne dabei jedoch viel Verwertbares aus seiner Mutter heraus zu bekommen, sie schweigt sich weiterhin aus über die scheinbar nicht so ruhmreiche Vergangenheit. Gleichwohl erfahren Harry und seine Tochter Julie doch so einiges über sie und auch über die brutale Auslöschung alles Japanischen aus dem Leben Taiwans, für die gewaltsam erzwungene Namens-Änderungen nur ein äußeres Zeichen sind. Ohne Zweifel ist dies ein stilistisch gekonntes, informatives, streckenweise aber leider deutlich zu breit angelegtes Buch über ein literarisch vernachlässigtes Land, dessen politische Zukunft auch heute noch ziemlich ungewiss ist.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Oh William

Auf der Suche nach dem Bindemittel

In ihrem neuen Roman «Oh William» thematisiert die US-amerikanische Schriftstellerin Elizabeth Strout das Wesen zwischenmenschlicher Beziehungen am Beispiel eines älteren Paares, das, seit Jahrzehnten getrennt, noch immer geheimnisvollen Bindungs-Kräften unterliegt. Es ist das Anliegen der Autorin, die mit der Zeit zugedeckten Mechanismen zu ergründen, die wider jede Vernunft weiterhin so offenkundig wirksam sind zwischen den Beiden. Wie beim Häuten einer Zwiebel entfernt sie Schicht um Schicht, um zum Kern dieser mysteriösen Kraft vorzudringen. Könnte es sein, dass sie auf diese Weise wirklich das Geheimnis lebenslanger Bindungen entdeckt?

Die Schriftstellerin und Ich-Erzählerin Lucy Barton hat als Studentin in New York den sieben Jahre älteren Biologie-Professor William Gerhardt geheiratet und ihm zwei Töchter geboren. Nach zwanzig Jahren hat sie ihn verlassen und die Scheidung eingereicht. Später dann hat sie zum zweiten Mal geheiratet, den körperlich gehandicapten Cellisten David, mit dem sie eine sehr glückliche Ehe geführt hat. Zu Beginn der Erzählung ist Lucy in Trauer, ihr David ist seiner schweren Krankheit erlegen, und William ist gerade von seiner inzwischen dritten Frau verlassen worden. Lucy hatte den Kontakt zu ihrem Exmann über all die Jahre nie verloren. In größeren Abständen haben sie sich immer mal getroffen oder auch nur miteinander telefoniert, wenn Lucy sich aussprechen oder wenn William seine Probleme mit jemand teilen wollte. Ihre beiden wohlgeratenen Töchter waren dabei eines der Bindeglieder für den nie abgerissenen, losen familiären Zusammenhalt.

Der Roman führt den Leser tief hinein in die typisch weibliche Gedankenwelt von Lucy, deren Erzählweise oft sehr sprunghaft ist und die angerissenen Themen auch nicht immer zu Ende führt, somit also reichlich Raum lässt für eigene Ergänzungen und Interpretationen. Während Lucys Herkunft und Kindheit mutmaßlich wenig erfreulich war, worüber man aber nichts erfährt, gibt es um Williams verstorbene Mutter Catherine ein Geheimnis. Estelle, die dritte Exfrau von William, macht ihn darauf aufmerksam, dass es inzwischen ja Internet-Dienste gebe, die Nachforschungen in familiären Angelegenheiten anbieten. Und tatsächlich stellt sich heraus, dass Williams Mutter ein dunkles Geheimnis hatte, dem er nun auf einer gemeinsamen Reise mit Lucy auf den Grund gehen will, womit die Autorin geschickt Spannung aufbaut, ehe es dann zu dem vorhersehbaren Showdown kommt.

Elizabeth Strout hat einen ganz eigenen, beiläufig wirkenden Erzählstil entwickelt, welcher einem intimen persönlichen Gespräch ähnelt, unter Frauen, versteht sich! Die obligaten Kleidungsfragen werden da genau so behandelt wie der Einrichtungsstil von Wohnungen, im Vordergrund aber stehen natürlich die Männer mit ihren (allseits bekannten) Fehlern und Schwächen. Ihre Erzählhaltung bleibt vage, oft enden Sätze mit den Worten «ich sage nichts weiter dazu», beginnen mit «Um ganz ehrlich zu sein» oder «Was ich auch noch sagen wollte». Einen Absatz über ihren zweiten Mann leitet sie mit den Worten ein: «Aber lassen Sie mich nur noch eines über diesen Mann sagen», und über William sagt sie: «Mein Gott, war der Mann mir ein Trost». Das ist es dann auch, was sie als Essenz aus all ihren Überlegungen zum Thema Zweisamkeit herausdestilliert hat: Wenn die erste, die große Liebe abgeklungen ist, wenn die Normalität die Oberhand gewonnen hat, dann ist das Gefühl der unbedingten Verlässlichkeit das entscheidende, Halt gebende Bindemittel. Was natürlich nicht ausschließt, dass Lucy immer wieder mal einen Stoßseufzer zum Himmel schickt, wie er so schön im Buchtitel zum Ausdruck kommt: «Oh William». Was verzweifelt klingt, aber oft spöttisch gemeint ist und nostalgisch zurückweist in vergangene Zeiten. Besonders kennzeichnend ist die offensichtliche Menschen-Freundlichkeit der Autorin, auch wenn sie zuweilen lakonisch, geradezu kopfschüttelnd von ihnen erzählt.

Fazit: lesenswert

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Illustrated by Luchterhand

Reise mit Clara durch Deutschland

Das glücklichste Buch

Der im Original 2010 erschienene Roman des spanischen Schriftstellers Fernando Aramburu schildert das Entstehen des Berichtes über eine Reise durch Deutschland. Den Reiseführer schreibt Clara, die Frau des Ich-Erzählers, die sich für den Auftrag ihres Verlags ein Jahr Auszeit als Lehrerin genommen hat, der Vorschuss für das Buch macht’s möglich. Ihren Mann, selbst Schriftsteller, hat sie gebeten, sie auf ihrer Recherche-Reise zu begleiten. Er soll ihr neben seinen Diensten als Chauffeur auch beim Sammeln des Materials helfen, soll insbesondere das Fotografieren für sie übernehmen. Nach dem Riesenerfolg von «Patria», der den ETA-Terror behandelt, ist dieser vorher entstandene Reise-Roman Aramburos nun ebenfalls auf Deutsch erschienen, er bleibt literarisch aber weit unter dem Niveau des Bestsellers von 2016.

Erste Station der Reise im Hitzesommer 2003, die in der Nähe von Wilhelmshaven beginnt, ist Tante Hildegard in Cuxhaven. Die stellt dem kinderlosen Ehepaar mittleren Alters kostenlos ihre Wohnung in Bremen zur Verfügung, in die sie anschließend fahren, um die Hansestadt zu erkunden. Es folgt ein Abstecher nach Hamburg mit Hafenrundfahrt und Striptease auf der Reeperbahn, weiter geht es zur Insel Rügen, zur ehemaligen Künstlerkolonie Worpswede, und auch das Arno-Schmidt-Haus in Bargfeld bei Celle wird besucht. Schließlich geht es noch nach Goslar, Göttingen und Berlin. Dort endet die Reise abrupt, denn Goethe ist erkrankt, der bei einer Nachbarin während der Reise untergebrachte Hund der Beiden.

Mit ihrem mageren Plot kann die in der Tradition des Schelmen-Romans geschriebene Geschichte leider nicht überzeugen. Es fehlt jede Spannung, das Erzählte ist so banal wie der Alltag der vielen Menschen, denen das Paar begegnet. Gleichwohl werden die Figuren stimmig geschildert mit ihren teils schrulligen Eigenarten, werden in Aussehen und Verhalten detailliert beschrieben. Allerdings ohne dass dabei irgendwelche regionaltypischen Besonderheiten herausgestellt werden, die Land und Leute charakterisieren könnten. Erzählerisch markant sind nur die beiden Protagonisten selbst, deren gemeinsames Merkmal jedoch darin besteht, dass sie als Roman-Figuren keinerlei Emotionen erzeugen, sie bleiben einfach nur unsympathisch. Einzig die ironische Schilderung ihres Ehe-Alltags mit all den Neurosen und Macken, die der Autor verschmitzt immer aufs Neue als erzählerischen Trumpf aus dem Ärmel zieht und genüsslich vor dem Leser ausbreitet, machen diese Lektüre zumindest stellenweise amüsant. Auf Distanz bedacht, enthält der Autor sich dabei aber strikt jeder moralischen Wertung, denn die Fronten sind klar: Clara ist eine Nervensäge, die ihre dominante Rolle in der Beziehung so geschickt nutzt, dass «Maus», wie sie ihren Mann zuweilen nennt, immer klein beigibt, egal wie absurd ihr Ansinnen jeweils ist. Und «Mäuschen», so die Steigerungsform seines Kosenamens, geht jedem Dissens tunlichst aus dem Weg, er ist der Prototyp eines trägen Weicheis und knickt immer sofort ein, wenn es ernst wird.

Was der Ich-Erzähler in dem voluminösen Roman zu sagen hat, ist kaum von Belang, allzu platt sind die episodenweise erzählten Szenen geraten. Sie gehen spannungslos ineinander über, ihre Motive laufen ins Leere, statt näher beleuchtet zu werden und Erkenntnisse daraus zu ziehen. Äußerst platt ist auch der Humor, der das einzig markante Merkmal dieses Romans ist, er erinnert in seiner Vorhersehbarkeit aber eher an Klamauk als an brillanten Witz. Und auch wer als Leser erwartet, durch dieses Buch-im-Buch-Konstrukt literarische Einblicke zu erhalten, wird enttäuscht, denn was die «Frau Schriftstellerin» zu Papier bringt, das bleibt offen, einzig ihre Schreibblockaden werden erwähnt. Es gibt auch kaum nennenswerte intertextuelle Bezüge, die bei Schriftstellern als Protagonisten sich ja geradezu aufdrängen. Was Fernando Aramburu als sein «glücklichstes Buch» bezeichnet hat, wird seine Leser jedenfalls kaum glücklich machen.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Ein von Schatten begrenzter Raum

Kunst als Ersatzheimat

Die türkischstämmige Schauspielerin und Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar hat mit «Ein von Schatten begrenzter Raum» nach 17 Jahren wieder einen Roman veröffentlicht, der als autofiktionales Werk eine Bilanz ihres Lebens zieht. Gleich zu Beginn hält sich die Ich-Erzählerin, auf der Flucht vor den politischen Verhältnissen in Istanbul, 1971 auf einer der türkischen Inseln auf, von der aus Lesbos zu sehen ist. Dort sei Europa, erklärt ihr ein Einheimischer, dort werde es niemals dunkel. Der fiktionale Anteil des Romans wird schon bald deutlich, als ihr nämlich die Krähen auf der Insel dringend davon abraten, als Schauspielerin nach Deutschland zu gehen. «Auf einer deutschen Bühne ist eine türkische Frau eine türkische Frau, und eine türkische Frau ist eine Putzfrau. Das ist die tägliche Realität. Du kannst in Deutschland am Theater nur als Putzfrau Karriere machen», erklären ihr die schwarz gefiederten, visionären Unglücks-Boten, – und formulieren damit eines der Leitmotive dieses Romans.

Kann man als jemand, der die geografische Heimat verloren hat, in der Kunst seine Heimat finden, lautet die Kernfrage, ein weiteres Leitmotiv, das in diesem Roman in vielen Facetten, wenn auch oft ironisch, thematisiert wird. Die Protagonistin geht zunächst nach West-Berlin und arbeitet, zwischen West und Ost pendelnd, als Regieassistentin ihres Mentors Benno Besson an der Ostberliner Volksbühne. Ihre endlosen Streifzüge durch das «Kriegsinvalidenberlin» sind ein erster erzählerischer Höhepunkt des Romans. Mit scharfem Blick für die allgegenwärtigen Kriegsspuren an den zerschossenen Häusern nennt sie die zerstörte Metropole fortan «Draculas Grabmal». Man höre dort gleichermaßen das Schweigen der Täter wie auch die Stimmen der Opfer, für sie ein eher destruktives künstlerisches Arbeitsklima. Ab 1979 spielt sie dann am Schauspielhaus Bochum unter Matthias Langhoff, Intendant dort wird damals gerade Claus Peymann. Bis sie schließlich Benno Besson nach Paris holt, um an seiner Inszenierung von Brechts «Der kaukasische Kreidekreis» mitzuwirken.

Wesentlich stärker noch als die Berlin-Passagen prägen die endlosen Beschreibungen von Paris den Roman. Dabei stören schon bald die häufigen, oft wortwörtlichen Wiederholungen der immergleichen Szenen das Lesevergnügen. Sei es im Café, in der Metro, zuhause bei den diversen Freunden, die ihr selbstlos Unterkunft gewähren, beim Beschreiben der Eigenarten von deren Katzen oder dem täglichen Besuch eines psychopathischen Nachbarn, der Leser beginnt sich zu langweilen und schließlich zu ärgern. Hinzu kommt eine schwer zu bewältigende Fülle von erzählerischen Details, seien es die unüberschaubar vielen Figuren, denen die Protagonistin begegnet, oder die dauernd wechselnden Orte des Geschehens, die schiere Menge all dessen überfordert den Leser schlichtweg.

Die Art und Weise, wie die Autorin die vielen, in sich abgeschlossenen Szenen ihres Romans mit durchaus auch dokumentarischem Anspruch aneinander reiht, das erinnert an die Techniken von Bühne und Film. Besonders überzeugend sind dabei die ins Mystische weisenden Szenen, wenn Tiere oder Gegenstände plötzlich zu reden beginnen, oder wenn die Romanheldin immer wieder mal auf dem berühmten Pariser Friedhof Père Lachaise am Grab von Edith Piaf zu der Sängerin spricht, ihr das Herz ausschüttet. Man kann diesen Roman auch als Versuch interpretieren, das libertäre Lebensgefühl einer Epoche herauf zu beschwören, um damit die gegenwärtige Leere, «Ein von Schatten begrenzter Raum», glücklich zu überwinden. Dabei wird nicht nur Vergangenheit und Gegenwart angenähert, es wird im Rückblick sogar, mit dem Terrorangriff auf Charlie Hebdo beispielweise, Jahrzehnte früher eine schreckliche Zukunft in den Text mit eingebunden. Weniger gelungen ist die traumatische Liebesgeschichte im letzten Drittel dieses in Teilen erfreulichen, dickleibigen Künstler-Romans, der als Ganzes aber nicht überzeugt, weil er mehr will, als er tatsächlich leistet.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Das Versprechen

Irrlichternde Erzählerstimme

Als dritter südafrikanischer Autor hat Damon Galgut mit seinem Roman «Das Versprechen» 2021 den britischen Booker Prize gewonnen. Der Titel bezieht sich auf das uneingelöste Versprechen der Mutter einer weißen Familie, die auf dem Totenbett ihrem Mann das Versprechen abgenommen hat, ihrer farbigen Dienstbotin die baufällige Hütte auf dem Farmgelände zu übereignen, in der sie wohnt. Im vorangestellten Motto wird Federico Fellini mit einer Anekdote zitiert, der von einer ziemlich überdreht auftretenden Frau gefragt worden sei: «Warum gibt es in ihren Filmen nicht einen einzigen normalen Menschen?» Ist das als Hinweis auf die Roman-Figuren gedacht?

Zeugin des Versprechens war Amor, die jüngste, damals 13jährige Tochter des Ehepaares Swart. In dem vierteiligen Roman ist jeweils ein Teil der Mutter, dem Vater, der ältesten Tochter und dem Sohn gewidmet. Die enden jeweils mit ihrem Tod, Ma stirbt an Krebs, Pa am Biss einer Kobra, Astrid wird ermordet und Anton erschießt sich, weil seine Farm hoffnungslos überschuldet ist. Der Roman berichtet von den tief reichenden Konflikten der auseinander driftenden Familie vor dem politischen Hintergrund der südafrikanischen Geschichte, ausgehend vom Tod der Mutter 1986 und über das Ende der Apartheid hinweg bis zur Auflösung der ‹Kleptokratie› von Präsident Zuma. In den vier Romanteilen wird in teils drastischen Bildern vom langsamen Verfall einer Familie erzählt, deren Probleme bei der Sinnsuche von Religions-Übertritten, Ehezwist, Versagensängsten oder Alkoholismus bestimmt sind. All das wird zudem überschattet von desillusionierenden Erfahrungen in der Nach-Apartheid-Ära, in der die Gewissheiten der weißen Bevölkerung von einst zunehmend verloren gehen.

Durch den gesamten Roman zieht sich als alleiniger Spannungsbogen, geradezu gespenstisch im Hintergrund bleibend, das im Titel apostrophierte Versprechen, welches weder der Vater einlöst noch der Sohn, der die Farm nach dessen Unfall-Tod übernimmt. Zur Schlüsselfigur wird die erzählerisch im Hintergrund bleibende jüngste Tochter Amor, die jahrzehntelang vergebens die Einlösung des Versprechens fordert. Sie ist als Kind nur knapp dem Tod entronnen, als ein Blitz dicht neben ihr eingeschlagen ist. Dieses Erlebnis hat sie zweifellos geformt und besonders sensibel gemacht. Sie hat sich völlig von der Familie gelöst und findet in der Arbeit als Krankenschwester ihre Erfüllung. Nach einigen gescheiterten Beziehungen bleibt sie alleinstehend und ist oft auf Jahre hin für die Familie nicht erreichbar. So auch beim Tod ihres Bruders, erst am Tage der Trauerfeier erfährt dessen Frau zufällig, dass Salome, die Dienstbotin, ihre aktuelle Telefonnummer hat. Als Amor verspätet eintrifft, findet sie das Manuskript des Romans, an dem Anton seit vielen Jahren schrieb, und wie sie an den wenigen fertigen Seiten erkennt, ist er auch daran gescheitert. Amor übernimmt es als letzten Liebesdienst, wunschgemäß Antons Asche auf dem Grundstück zu verstreuen.

Damon Galgut stellt dem nicht eingehaltenen Versprechen der Familie, das wie ein Fluch über den Protagonisten liegt, die ebenfalls nicht eingehaltenen Versprechungen der Politik gegenüber. Und er lässt seine Figuren oft recht drastische Töne anschlagen: «Anton steht [betrunken] in der Toilettenkabine und pisst. Er weiß zwar nicht genau, wie er hierher gekommen ist, aber Pissen ist eine grundsätzlich ehrliche Tätigkeit. Kacken auch. Da kann man sich nicht hinter gesellschaftlichen Umgangsformen verstecken. Diplomatie sollte grundsätzlich auf dem Scheißhaus stattfinden». Der in den ersten zwei Dritteln eher holprig erzählte Roman mit unkonventionell irrlichternder Erzählerstimme liest sich erst im letzten Drittel flüssiger, zumal auch das Geschehen erkennbarer auf ein Ziel hinsteuert und dann sogar in ein unerwartet poetisches Ende mündet. Und das, obwohl ansonsten alle Emotionen konsequent ausgespart bleiben von einem zu seinen Figuren sarkastisch Abstand haltenden Autor.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Die Erzählungen

33 literarische Fluchthelfer

Im Œuvre Thomas Manns nehmen seine Erzählungen und Novellen neben den Romanen einen wichtigen Platz ein. Nach seinem Debütroman «Buddenbrooks» von 1901 folgten zunächst 28 solcher Kurzprosa-Werke, ehe dann mit «Der Zauberberg» 1924 endlich sein beim Lesepublikum besonders erfolgreicher, dritter Roman erschienen ist. Ebenso positiv aufgenommen wurden aber auch Novellen wie «Tristan», «Mario und der Zauberer», «Tod in Venedig» und «Tonio Kröger». In der vorliegenden Taschenbuch-Ausgabe sind alle 33 Werke mit Kurzprosa Thomas Manns nach der Reihenfolge ihres Erscheinens zusammengefasst.

Es beginnt mit «Vision», einer 1893 noch für die Schülerzeitung geschriebenen Prosa-Skizze über verlorene Liebe. Dann folgt «Gefallen», seine erste größere Erzählung, Thema: Frauen-Emanzipation. In «Der Wille zum Glück» berichtet ein Ich-Erzähler von der tragischen Liebe eines in der Hochzeitsnacht verstorbenen Mannes. Auf dem Markusplatz in Venedig erzählt ein Unbekannter von den Enttäuschungen, die das Leben für ihn bedeutet. In «Der Tod» berichtet ein Graf in 15 Tagebuch-Einträgen von der fixen Idee eines ihm prophezeiten Todes. «Der kleine Herr Friedemann» scheitert als Krüppel daran, ein epikureisches Leben zu führen. Durchaus selbstironisch wird in «Der Bajazzo» ein junger Bonvivant geschildert, dem jede Anstrengung zuviel ist, «Tobias Mindernickel» ist ein menschenscheuer Mann, der vergebens Trost bei seinem Hund sucht. ‹Eine Geschichte voller Rätsel› lautet der Untertitel zu «Der Kleiderschrank, in der es um Visionen eines Todkranken geht, und «Gerächt» ist eine ‹novellistische Studie› über das zynische Verhalten eines jungen Mannes zum Erotischen. In «Luischen» macht sich ein Ehemann lächerlich, ähnlich wie «Professor Unrat» bei Heinrich Mann. Grotesk geht es zu in «Der Weg zum Friedhof», einer Novelle um einen verspotteten Choleriker, und in «Gladius Dei» wird der damalige Kunstbetrieb karikiert.

Zu den bedeutenderen und inhaltlich komplexeren Novellen gehört «Tonio Kröger», der von der tiefen Freundschaft des Protagonisten zu seinem Klassenkameraden Hans erzählt, den er wegen seiner Talente und seiner Unkompliziertheit sehr bewundert. In der Liebe hat er Pech, die lustige Inge ignoriert ihn völlig, sie bleibt unerreichbar. Tonio wird ein erfolgreicher Schriftsteller. Auf einer Reise nach Dänemark trifft er Jahre später auf ein Paar, das Hans und Inge sein könnten, der vergeistigte Künstler beneidet sie um ihre robuste Natürlichkeit. «Ich bin erledigt» konstatiert er resignierend in einem Brief an eine befreundete Malerin. In «Tristan» geht es, angelehnt an das Motiv aus Wagners Oper, um unglückliche Liebe, die in den Tod führt. Thematisiert wird hier parodistisch der Gegensatz zwischen zweifelndem, verletzlichem Künstlertum und selbstbewusster, vitaler Bürgerlichkeit. Auch vom Film her bekannt ist natürlich die Novelle «Der Tod in Venedig», in der ein asketisch lebender, 50jähriger Schriftsteller am Lido Urlaub macht und dort in verzehrender Liebe zu einem schönen Knaben entbrennt. Als Reiseerlebnis der besonderen Art entwickelt sich in «Mario und der Zauberer» während ihres Italienurlaubs der Besuch eines Paares mit zwei Kindern in einer Zauberschau, die ganz unerwartet tragisch endet.

Auch die übrigen, weniger bekannten Erzählungen Thomas Manns überraschen mit Motiven, die gedankliche Tiefe aufweisen, selbst wenn sie zuweilen eher parodistisch anmuten. Er sei, hat Doris Lessing angemerkt, der letzte Schriftsteller, der seine Werke für philosophische Aussagen benutzte. Erzählt wird all das in dem für ihn so typischen, von Kritikern als altväterlich bezeichneten, anspruchsvollen Stil. Dessen Merkmal ist nicht nur die syntaktisch komplexe Sprache, sondern auch ein im Deutschen von niemand anderem je erreichter, unglaublich üppiger Wortschatz. Dieser Sammelband bietet dem Leser folglich 33 ideale Möglichkeiten zur erquickenden Flucht aus den Niederungen der zeitgenössischen Erzählkunst!

Fazit: erstklassig

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Genre: Kurzprosa
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Ludwigshöhe

Der Tod als Programmfehler

Seinem Roman «Ludwigshöhe» hat Hans Pleschinski ein an den ‹Zauberberg› erinnerndes Setting zugrunde gelegt, eine in die Jahre gekommene, einst pompöse Jugendstil-Villa, die aber hier von keinen Patienten, sondern von Lebensmüden bevölkert wird. Der Autor benutzt sie für seine originelle Versuchs-Anordnung, Suizid-Kandidaten einen letzten Zufluchtsort zu bieten, an dem sie ohne bürokratische Hürden völlig ungehindert aus dem Leben scheiden können. Das Ganze wird durch eine riesige Erbschaft ausgelöst, die nur unter der Bedingung wirksam wird, dass die drei Erben dieses Hospiz ein Jahr lang ausschließlich zu diesem sehr speziellen Zweck betreiben.

Der reiche Onkel aus Brasilien hat diese Hürde für drei Geschwister aufgebaut. Sie alle sind wenig zufrieden mit ihren persönlichen Lebensumständen und träumen von dem Luxusleben, das sie erwartet, wenn sie unter den strengen Augen des Notars die makabre Erbauflage erfüllen. Aber wie an die Kandidaten kommen? Jede öffentliche Werbung wäre ja sittenwidrig und würde die Behörden auf den Plan rufen! Also stecken sie im Wartebereich von Arztpraxen und Arbeitsagenturen in die dort ausliegenden Zeitschriften und Broschüren diskret schwarze Visitenkarten, auf denen Folgendes geschrieben steht: «Reicht es? Reicht es wirklich? Und nicht mehr weiter? Kein Weg mehr? Aber prüfen Sie sich. Alles in Ruhe. Wenn Sie verstehen, verstehen Sie», gefolgt von einer Telefonnummer. Und es melden sich auch tatsächlich Interessenten für diesen notgedrungen so verklausuliert angebotenen Service. Nach und nach füllt sich die Villa mit fast zwanzig «Finalisten», wie die Kranken, Verbitterten, Enttäuschten, Gescheiterten und Mutlosen hausintern genannt werden. Da ist zum Beispiel die von ihrem Lover verlassene Domina, ferner eine abgehalfterte, ehemals bekannte Schauspielerin, die nervlich an ihren Schülern gescheiterte Lehrerin, ein bankrotter Verleger, eine vom Alltagsstress ausgebrannte Verkäuferin, die medikamentensüchtige Witwe, der verzweifelte Bühnenbildner und ein medienmüder Radioredakteur. Wie zu erwarten folgen aber, von zwei Ausnahmen abgesehen, die im Keller tiefgekühlt gelagert sind, die Moribunden kaum noch ihrem ursprünglichen Ziel. Es entwickeln sich neue Beziehungen in diesem seltsamen Mikrokosmos, das Leben scheint weniger unerträglich zu sein als ursprünglich angenommen.

Die alte Villa dient als Bühne für menschliche Verrücktheiten und als Laboratorium für Wege aus dem ewigen Dilemma allen Lebens, seiner unabweisbaren Endlichkeit. Kann man dem denn wenigstens mit passiver Sterbehilfe beikommen, weil die aktive ja doch nur theoretisch möglich ist? Will man ein Fazit ziehen aus all den Gedanken, die in diesem lebensprallen Gesellschafts-Roman angesprochen und oft auch durchdekliniert werden, so kommt man letztendlich auf die einfache Formel: Unsterblichkeit wäre ein Fluch!

Humorvoll nutzt Hans Pleschinski seine Satire zu einem Feuerwerk an herber Gesellschafts-Kritik und zu verschmitzt vorgetragenen, philosophischen Diskursen über ein im Kern ja durchaus ernstes Thema. Aber wie eine Finalistin im Roman es sich wünscht, nämlich tot zu sein ohne sterben zu müssen, das funktioniert leider auch auf der «Ludwigshöhe» nicht. Es sind solche Verrücktheiten, die bei der Lektüre dieses makabren Plots immer wieder ein Schmunzeln erzeugen, den Leser aber öfter auch laut auflachen lassen. Sprachlich nutzt der fabulierlustige Autor mit seinem ironischen Plauderton alle Register seines Könnens. Er bleibt auch im Fiktionalen dem Realismus verhaftet, überzeugt zudem mit vielerlei intellektuellen Betrachtungen, aber auch mit fundiertem Alltagswissen. Dabei verzeiht man ihm dann, dass er seinen Stoff derart über Gebühr ausgewalzt hat, weniger wäre hier mehr gewesen. Das Wichtigste an dieser Moralsatire aber ist die beißende Kritik an einem Zeitgeist der intellektuellen Verflachung, in welchem der Tod, wie es im Roman heißt, «zum Programmfehler heruntergekommen ist».

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Rauschzeit

Redundanter Lebensgefühls-Roman

Das Opus magnum des Büchner-Preisträgers Arnold Stadler mit dem Titel «Rauschzeit» ist ein Roman ohne Plot, der allein von seinem eigenwilligen Stil lebt und genau damit eine sehr konträre Rezeption in Feuilleton und Leserschaft erzeugt hat. Am Beispiel eines Paares in der Beziehungskrise wird hier resignierend eine illusionslose Weltsicht thematisiert, die ihr Vorbild in Jean Paul hat, auf den der Autor in seinem intertextuell reich ausgeschmückten Roman häufig Bezug nimmt.

Der Buchtitel spielt auf die begrenzte Paarungszeit der Wildschweine an, die ihre Entsprechung findet im Sexualverhalten von Alain und Mausi, die eigentlich Irene heißt. Das in Berlin lebende, kinderlose Ehepaar, beide vierzigjährig und als Übersetzer tätig, hat sexuell seine «vegetarische Zeit» erreicht, sie beschimpft ihn, nicht ganz zu Unrecht, als «Waldschrat». Die sich über zwei Mittsommer-Tage, den 25. und 26. Juni 2004, erstreckende Handlung ist schnell erzählt: Alain reist zu einem Symposium nach Köln und trifft dort zufällig nach langer Zeit erstmals wieder auf seine Jugendliebe Babette. Mausi hat von Freunden eine Karte für ‹Toska› geschenkt bekommen und fiebert schon dem Opernabend entgegen, die zweite Karte ging nämlich an einen ihr unbekannten Dänen, der dann ja neben ihr sitzen wird. Und wie vorauszusehen finden Alain und Babette wieder zueinander, und Mausi und der blonde Däne werden ebenfalls ein Paar. So weit, so profan, – denn mehr ist da nicht! Der Autor hält sich an Mark Twain, den er häufig mit dem bezeichnenden Satz aus «Huckleberry Finn» zitiert: «Persons attempting to find a plot in will be shot». Also Vorsicht, verehrter Leser!

Dem Roman ist mit «Wir wissen wenig voneinander» ein Zitat von Georg Büchner vorangestellt. Und Arnold Stadler selbst beginnt seinen sechsteiligen Roman mit den sinnigen Worten: «Was ist Glück? Nachher weiß man es», den er später immer wieder mal zitiert und variiert. In oft kurzen, mit ihrem Namen überschriebenen Kapiteln lässt er jeweils abwechselnd seine zwei Protagonisten zu Wort kommen, Alain als Ich-Erzähler, die Mausi-Kapitel werden auktorial erzählt. Nur im vierten Teil schildert Alain unter dem Titel «Ma vie» auf fast zweihundert Seiten ohne jede Gliederung sein Leben. Das Besondere daran sind jedoch nicht die Inhalte, die erzählerisch wenig hergeben, es ist der alle Konventionen negierende Stil, in dem da erzählt wird. Er ist, typisch für Stadler, gekennzeichnet durch eigenwillige Sprachbilder, häufige Selbstzitate und Wiederholungen, aphoristische Irrwege oder Sackgassen und oft ins Groteske verzerrte Figuren. Und deren ständiger Begleiter auf ihrer unentwegten Suche nach Glück und Lebenssinn ist der Schmerz, der in ständigen Vor- und Rückblenden und mit vielen, meist wörtlichen Wiederholungen thematisiert wird. Besonders der mutmaßliche Freitod von Mausis bester Freundin, der trucksüchtigen Fotografin Elfi Rauschzeit (oh wie sinnig, dieser Nachname!) wächst sich im Roman schon fast zu einer Art Totenklage aus.

Erzählt wird in einer an Neologismen reichen Sprache, in der das unbekümmerte Wortspiel tragendes Element ist sowie die ungehemmte Lust am Verschieben von Buchstaben oder das eifrige Variieren zusammengesetzter Wörter mit phonetisch ähnlichen. Ein gleichartiges Spiel wird auch mit ganzen Sätzen veranstaltet, was zu bestenfalls komischen, aber auch zu oft völlig sinnlosen Aussagen führt. Befremdlich wirken zudem viele der vom Autor eingestreuten Aphorismen aus eigener Feder, deren tieferer Sinn sich oft nicht erschließt. «Mein Leben war eine Vermeidungsstrategie, damit es glückte» wird da verkündet, oder, ebenso sinnig: « Ich? Ein Joint Venture aus Schmutzfink und Sprachgitter». Als alles beherrschendes Formschema aber bläht ausufernde Redundanz die Textmasse des Romans unnötig auf und ärgert den geplagten Leser. Als stilistisch holperiger Lebensgefühls-Roman spricht «Rauschzeit» allenfalls einen äußerst kleinen, esoterischen Leserkreis an!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Brooklyn soll mein Name sein

Kontemplative Hochliteratur

Als Roman eines Romans ist «Brooklyn soll mein Name sein» von Eduardo Lago, der nun erstmals auch auf Deutsch vorliegt, ein typisch selbst-referenzielles Werk, das insbesondere auch die Lust und den Frust beim Schreiben thematisiert. Der in Deutschland weitgehend unbekannte, in Madrid geborene und in New York lebende Schriftsteller und Hochschullehrer gewann für seinen kritischen Vergleich dreier spanischer Übersetzungen des «Ulysses» den ältesten und prestige-trächtigsten spanischen Literaturpreis, den ‹Premio Nadal›. Er ist zudem Gründungs-Mitglied des ‹Order of Finnegans›, kein Wunder also, dass sein grandioser erster Roman als intellektuelle Hochliteratur in manchem an James Joyce erinnert.

Mit «Die Toten leben einzig in uns» als Begleitzitat von Marcel Proust beginnt der Roman am ‹Fenners Point›, einem längst aufgelassenen Friedhof von dänischen Matrosen, die einst an dieser gefährlichen Steilküste des Atlantiks zu Tode kamen. Nur mit einer Sonder-Genehmigung darf der Schriftsteller Gal Ackerman dort, seinem Wunsch entsprechend, bestattet werden. Ich-Erzähler des Romans ist sein bester Freund, der von seinen Freunden nur Ness genannte Journalist Néstor Chapman. Er hat Gal versprochen, dessen unvollendeten Lebens-Roman an Hand des hinterlassenen Materials unter dem Titel «Brooklyn» fertig zu schreiben. So wollte Gal post mortem erreichen, dass seine seit Jahren verschollene, große Liebe, die in Sibirien geborene Pianistin Nadja Orlov, ihn als Einzige lesen kann. Es gibt mehrere Erzählstränge in diesem Roman, einer davon ist die Amour fou mit der deutlich jüngeren, geheimnisvollen Nadja, ferner die Herkunfts-Geschichte von Gal, die er erst mit 14 Jahren erfährt und die ein düsteres Geheimnis birgt. In einer Bar in Brooklyn, dem Oakland, laufen viele weitere Handlungsfäden zusammen. Dort ist quasi der Lebens-Mittelpunkt nicht nur für den Ich-Erzähler, sondern auch für eine illustre Schar von Stammgästen verschiedenster Couleur. Unter ihnen viele Seeleute, kaputte Typen, Getriebene, Aussteiger und Gestrandete, die untereinander ein enges Gefecht von Beziehungen und Abhängigkeiten verbindet, – und ein unbändiger Durst auf Alkohol, der nicht selten in Trunkenheits-Exzessen endet. Weitere Episoden beschäftigen sich zum Beispiel mit dem Chelsea, einem legendären Hotel mit berühmten Gästen, oder mit Coney Island und seinen Attraktionen, einst «Insel der Träume» für den jungen Gal.

Quelle für all diese Episoden ist die «letzte Ruhestätte», Gals unerschöpfliches Archiv direkt über der Bar, wo er geschrieben hat und woher nun all die Tagebücher, Briefe, Notizen und Zeitungs-Ausschnitte stammen, die Ness als sein Testaments-Vollstrecker in den Roman einbringt. Mit einer ausgeprägten Intertextualität verbunden sind hier außer den Schriftsteller- auch viele Künstler-Geschichten. Gal hat Thomas Pynchon und Dylan Thomas im Chelsea getroffen, und er berichtet zum Beispiel auch vom Freitod des manisch-depressiven Mark Rothko in seinem Atelier.

Es ist nicht leicht, sich in diesem Mikrokosmos des Autors zurechtzufinden, weil eine Überfülle von Motiven, Szenen und Gedanken auf den Leser einstürzt und zum Verständnis dessen volle Konzentration fordert. Ein wenig hilft dabei das angeschlossene Register, das in der Reihenfolge ihres Erscheinens nicht weniger als 148 Personen verzeichnet, womit sogar Tolstois «Krieg und Frieden» in den Schatten gestellt wird. Hilfreich ist auch eine Chronologie der Ereignisse in Kurzform sowie ein siebenseitiges Glossar mit erläuternden Anmerkungen, so zum Beispiel zu Sacco und Vanzetti, die ebenfalls ihren Platz finden in diesem labyrinthischen Roman. Was Dublin im Ulysses ist, ist New York in diesem fragmentiert angelegten Exil-Roman, dessen Protagonist den ‹Big Apple› rastlos durchstreift und seine Wege und Beobachtungen minutiös beschreibt. Wer sich darauf einlässt als Leser, der wird hier kontemplativ herausgefordert, aber literarisch auch überreich belohnt.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Kröner Verlag

Kazimira

Baltisches Epos

Der neue Roman von Svenja Leiber weist mit dem slawischen Frauennamen «Kazimira» als Titel auf eine starke Frau als Protagonistin hin. Auf dem Umschlag ist Bernstein abgebildet, ein einst beliebter Schmuckstein, in dessen Abbaugebiet an der Kurischen Nehrung die Handlung räumlich angesiedelt ist. Der zeitliche Rahmen der Geschichte reicht von der Reichsgründung 1871 über beide Weltkriege bis 1945, und ergänzend ist dann auch noch ein Handlungsstrang im Jahre 2012 mit eingebaut.

Die mit einem Bernstein-Schnitzer verheiratete Titelheldin hat eine geniale Idee. Man könnte doch, erklärt sie ihrem Mann, das mühsame und verlustreiche Säubern der landeinwärts geförderten, aber stark verschmutzten Steine mit Hilfe einer künstlich erzeugten Brandung erledigen. In der würden sie dann automatisch ebenso sauber gewaschen werden wie die Zufallsfunde am Strand ja auch. Der jüdische Unternehmer Hirschberg greift diese Idee gerne auf und begründet damit in Weststrand, dem heutigen russischen Jantarny, eine lukrative Bernstein-Förderung im großen Stil, die ihm und auch seinen Arbeitern einigen Wohlstand bescheren. Neben diesem primären Handlungsstrang erzählt die Autorin im Rahmen einer breit angelegten Familiengeschichte über vier Generationen hinweg auch vom Ringen ihrer Heldin um Anerkennung und ein frei bestimmtes Leben. Sie will partout «kein Kindchen» und bekommt doch eins. Auch eine lesbische Episode wird erzählt, in der Kazimira die in ihr schlummernden, männlichen Anlagen entdeckt und mit einer Freundin auslebt. Als sie sich aber die Haare kurz schneidet und Hosen trägt, löst das einen Skandal aus, sie wird fortan von allen geächtet. Und auch der zunehmende Antisemitismus in Ostpreußen wird thematisiert. Die Unternehmer-Familie wird immer öfter angefeindet, verkauft schließlich den Betrieb und flieht in das vermeintlich weltoffenere Berlin, – bis die Nazis an die Macht kommen.

Es gibt als Binnenhandlungen etliche weitere Geschichten, von denen am meisten bedrückend die von Kazimiras Urenkelin mit Down-Syndrom ist. Eines Tages wird das Kind unter falschen Versprechungen zu einem Heimaufenthalt abgeholt. Sie kommt nie wieder, denn in Wahrheit fällt sie für die Nazis in die Kategorie «lebensunwertes Leben». Auch ein SS-Massaker kurz vor Kriegsende wird thematisiert, die greise Kazimira ist hilflose Zeugin des Mordens. Und die nachrückenden Russen bringen bald wieder neues Unheil. Ein weiterer Handlungs-Strang im Jahre 2012 berichtet von einem plötzlichen Boom für Bernstein. Nachdem dieser Anfang des Jahrhunderts völlig aus der Mode gekommen war und die Förderung eingestellt wurde, entstand durch die hohe Nachfrage aus China ein neuer Markt mit hohen Profiten. An denen wollen auch Kazimiras Ururenkelin und ihr Mann beteiligt sein, sie werden dabei aber in kriminelle Machenschaften hinein gezogen.

Das Leben in diesem abgelegenen Landstrich Ostpreußens wird sehr anschaulich, detailliert und teilweise in geradezu poetischen Sätzen beschrieben, man fühlt sich mittendrin im Geschehen. Allerdings ist es ein gewagtes Unterfangen, eine Familiengeschichte über mehr als ein Jahrhundert in all den gravierenden historischen Umbrüchen zu spiegeln. Zumal eine kaum noch überschaubare Anzahl von Figuren in immer neuen Episoden und unterschiedlichen Handlungs-Strängen auftritt. Die werden für sich genommen alle einfühlsam erzählt und sind zudem bereichernd, in Summe aber ist der Plot dadurch deutlich überfrachtet. Nicht zuletzt stören auch die vielen Zeitsprünge, sie tragen nicht gerade zu einem angenehmen Lesefluss bei und erfordern immer wieder ein lästiges gedankliches Umschalten. Svenja Leiber erzählt in weiten räumlichen und zeitlichen Bögen eine Geschichte, die in Teilen von Grausamkeiten berichtet und dann wieder, fast schon lyrisch, eine scheinbar heile, ländliche Welt beschreibt, die in eine raue Natur eingebettet ist. Leider ist es ihr nicht gelungen, ihre überbordende Stofffülle  zu einem stimmigen Ganzen zu fügen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Lavaters Maske

Die Nöte eines Schreiberlings

Der Titel «Lavaters Maske» von Jens Sparschuh verrät, dass es um die Maskerade des Lebens geht, um Physiognomik, hier im Roman speziell um die wissenschaftliche Methode, aus den Gesichtszügen auf den Charakter eines Menschen zu schließen. Johann Caspar Lavater war im achtzehnten Jahrhundert Begründer und wichtigster Vertreter dieser Lehre, heftig angefeindet von Lichtenberg, später auch von seinem Jugendfreund Goethe. Das Thema des 1999 erschienenen Romans ist insoweit hochaktuell, als China die heutigen technischen Ressourcen radikal nutzt, um einen lückenlosen Überwachungs-Staat zu realisieren. Dieses totalitäre Regime kontrolliert seine Bürger auf Schritt und Tritt mit modernster Software zur Gesichts-Erkennung, um Rückschlüsse auf ihre seelische Verfasstheit zu ziehen. Die Orwellsche Dystopie «1984» ist also doch noch Realität geworden.

Ich-Erzähler des Romans ist ein ehemaliger Germanist und wenig erfolgreicher Schriftsteller, dem für sein letztes Buch das «Wühlischheimer Ehrenstipendium» zugesprochen worden war, damit er eine Zeit lang in ländlicher Ruhe schreiben kann. Er führt nun ein mit Residenzpflicht verbundenes, ziemlich langweiliges Stadtschreiber-Dasein. Ausgerechtet jetzt aber leidet er an einer Schreib-Blockade, ihm fällt partout kein neues Thema ein. Auf telefonische Nachfrage seines Agenten, woran er denn derzeit arbeite, antwortet er ohne lange zu überlegen mit einer Notlüge: Er schreibe über Lavater. Er hat das gar nicht vor, aber daraus wird dann tatsächlich Ernst, als sich nämlich auch noch ein Filmboss für den eher ungewöhnlichen Stoff interessiert. Da winken ihm ja schließlich dringend benötigte Vorschüsse. Er beginnt also, über seinen Protagonisten zu recherchieren, und stößt dabei schon bald auf eine Selbstmord-Geschichte. Enslin, der jugendliche Sekretär von Lavater, hatte sich mit einem Gewehr erschossen, ein mysteriöser Suizid, der bis heute viele Fragen aufwirft.

Die Recherchen zu dem Exposé für den geplanten Film nehmen breiten Raum ein in diesem Roman, unterbrochen nur von gelegentlichen Lese- und Vortragsreisen, mit denen der Ich-Erzähler zwischendurch seine notorisch klamme Kasse wieder auffüllt. Dieser ergänzende Erzählstrang ist witzig und zeugt davon, dass der Autor wohl vertraut ist mit den Gegebenheiten und Ritualen, denen sich heute ein Schriftsteller unterziehen muss als Promoter seiner eigenen Werke. Weniger lustig ist allerdings, was man in Form von historischen Briefen, Lexikonbeiträgen und zeitgenössischen Zitaten über Lavater und seinen Schreiber Enslin erfährt. Dieser eigentliche Haupt-Strang des Romans ist äußerst langweilig zu lesen, er führt zudem mit den wilden Spekulationen des Ich-Erzählers, was denn nun wirklich passiert ist in der Causa Enslin, ins Leere. Ebenso ins Leere führen auch die wirren Versuche des schreibenden Romanhelden, seinem Exposé eine tragfähige, glaubhafte und zündende Idee als Handlungsgerüst zu Grunde zu legen. Das Ganze wird nur immer wirrer, er macht die aberwitzigsten Erfahrungen, trifft auf die merkwürdigsten Leute und scheitert letztendlich auch im privaten Bereich, das Zwischenmenschliche ist nicht seine Stärke.

Ähnlich ergeht es auch Jens Sparschuh, es ist ihm nämlich nicht gelungen, das Lavater-Thema mit dem seiner Romanfigur, des Schriftstellers in der Identitäts-Krise, stimmig zu verbinden, beides steht in dieser doppelbödigen Geschichte unabhängig voneinander für sich. Da passt es dann auch, dass der eher trottelige, gleichwohl aber sympathische Protagonist am Ende des Romans in einer Festrede zum Thema Physiognomik kläglich scheitert. Gerade diese fachspezifischen Passagen wirken als Störfaktor, sie sind einfach nicht stimmig in ein erzählerisches Werk zu integrieren. Insoweit ist dieser anekdotenreiche Roman allenfalls wegen seiner gekonnt erzählten, amüsanten Einblicke in die Nöte eines mittelmäßigen Schreiberlings zur Lektüre zu empfehlen, als Ganzes aber ist er leider misslungen.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln