Lichtungen

Eine gute Idee?

Der neue Roman von Iris Wolff ist auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2024 gewählt worden, ihr jüngstes Werk heißt «Lichtungen». Der kryptisch erscheinende Titel kommt im Romantext nur einmal vor, das Wort fällt eher beiläufig, in einem der vielen erzählten Gedankengänge des Protagonisten: «Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie ‹Lichtungen›. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand». Nur das Vergessen, sinniert er weiter, bleibe einem wirklich allein, alles sonst bleibe nur durch andere gegenwärtig. Thema des Romans ist die Liebe in Zeiten eines politischen Umbruchs, beginnend in der Ceaușescu-Ära über deren Ende hinaus bis in die Gegenwart. Das Besondere dieses Romans ist die Umkehr der Chronologie, erzählt wird von der Jetztzeit rückwärts bis zur Kindheit des Protagonisten. Ist das eine gute Idee, fragt man sich als Leser.

Der nicht-chronologischen Erzählweise entsprechend beginnt der Roman mit dem Kapitel neun in der Jetztzeit. Dabei lernen wir den Protagonisten Leonhard kennen, im Roman nur Lev genannt (rumänisch Löwe), er entstammt einer rumänisch-deutschen Familie. Als Enddreißiger trifft er in Zürich nach intensiver Suche Kato wieder, seine Freundin aus Kindheitstagen, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in den Westen gegangen ist. Sie arbeitet dort als Straßenmalerin und verdient gut dabei, lebt in einem schönen Wohnmobil und führt ein ungebundenes, freies Leben, eine Prägung, die sich schon in ihrer Kindheit abgezeichnet hat. In den mittleren Kapiteln wird erzählt, wie Lev nach der Schule im Sägewerk arbeitet und 1989, nach dem Ende der Ceauşescu-Ära, in einem Trupp von Waldarbeitern landet. Eine körperlich harte Arbeit, die ihn schließlich überfordert. Lev ist, erfährt man in den letzten Kapiteln, das einzige Kind seines früh verstorbenen Vaters aus zweiter Ehe. Er ist zu Hause ein krasser Außenseiter, der Verlust des Vaters ist eine sehr frühe Verlusterfahrung, die ihn lebenslang prägt. Nach einem Unfall ist er mit gelähmten Beinen lange ans Bett gefesselt. Ausgerechnet Kato, eine von allen gemiedene, eigenwillige Klassenkameradin, wird damit beauftragt, ihn täglich so gut es geht über den Lehrstoff zu informieren. Nach anfänglicher Skepsis verliebt er sich schließlich in sie. Bei einem Kuraufenthalt mit seinem Großvater Ferry, der später als einer der Ersten in den Westen gegangen ist, hat Lev als Kind ein ihn prägendes, traumatisches Erlebnis. Und es wird ihm auch prophezeit: «Irgendwann, davon war Ferry überzeugt, würde es eine Frau in Levs Leben geben, die er nicht gehen lassen dürfe. Für die sich das Warten lohne, jedes Wagnis, jede Zeit».

Typisch für den Erzählkosmos von Iris Wolff ist an erster Stelle das Erzählen selbst, der virtuose Umgang mit der Sprache. Ferner sind es menschliche Erfahrungen, die es gilt, dem stets drohenden Vergessen zu entreißen. Außerdem seien ihre Figuren, wie sie im Interview erklärt hat, durch Erfahrungen ihrer eigenen Familie geprägt. Und so ist auch diese Geschichte in den immer wieder mitreißend geschilderten, rumänischen Landschaften ihrer eigenen Kindheit angesiedelt, Siebenbürgen, Banat und Maramuresch. Die einzelnen Episoden des kapitelweise rückwärts springenden Plots decken einen Zeitraum von fast vierzig Jahren ab, ohne dass die rumänische Revolution selbst thematisiert wird. Jedem der von neun bis eins herunter gezählten, unbetitelten Kapitel ist, wie ein Motto, ein literarisches Zitat in einer jeweils anderen Sprache vorangestellt, deren Wortlaut und Quelle im Nachwort erläutert wird.

Die Liebe zwischen Lev und Kato ist seltsam unterkühlt und distanziert. «Manches war zwischen ihnen nie zur Sprache gekommen. Worüber man nicht sprach, war nie geschehen.» In einer oft poetischen Sprache chronologisch rückwärts erzählt, verlangt dieser Roman viel Geduld vom Leser. Ob das Experiment mit dem zeitlich umgekehrten Plot wirklich eine gute Idee war, ist zweifelhaft, kann also letztendlich von jedem Leser nur für sich selbst beantwortet werden!

 Fazit:   mäßig

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Genre: Roman
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