Helden. Klassische Sagen der Antike

Stephen Fry Helden

Oh Ikarus, Ikarus, mein geliebter Junge. Warum hast du nicht auf mich gehört? Warum musstest du so nah an der Sonne fliegen?“, klagt der Erfinder Daidolos seinen Sohn und sein Schicksal. Viele Väter dürften dieses Lamento schon gehegt haben, denn zumeist ist der Jugend kein Rat der Alten teuer. Dabei könnte man so viel von ihnen lernen!

Götter: personifizierte  Gefühle, Ideen, Impulse

Stephen Fry, der britische Schriftsteller, Schauspieler, Moderator, Kolumnist und Regisseur, legt mit “Helden” die Fortsetzung seiner klassischen Sagen der Antike vor, sie gehört ebenso wie “Mythos” und “Troja” zur Trilogie des fleißigen Mythologen. Wie im Vorgängerwerk habe er darauf geachtet, “die Geschichten ohne Erklärungen oder Deutungen zu erzählen”, wie er im Nachwort schreibt. Denn gerade die Produkte des “kollektiven Unbewussten” bedürften keiner solcher. Schließlich habe der Euhemerismus, die rationalistische Deutung von Mythen, längst bewiesen, dass etwa Troja oder Mykene wirklich existierten. Aber auch die Götter selbst existieren, denn es ist letztendlich egal ob wir die beschriebenen Regungen als “Gott, Impuls oder fixe Idee” bezeichnen, die Griechen seien einfach schlauer gewesen: “Sie zu personifizieren ist ziemlich schlau – vielleicht nicht ausreichend um mit ihnen klarzukommen, aber doch gut genug, um den unkontrollierbaren und unergründlichen Kräften, die uns im Griff haben, Form, Dimension und Charakter zu geben.

Helden ohne Furcht und Tadel

Wenn also Ikaros vom Himmel fällt, weil er mit seinen mit Wachs geklebten Flügeln zu nahe nahe an die Sonne geraten ist, beschreibt dies treffend ein Bild und vermittelt der unter ihm ihn beobachtenden Schiffsmannschaft von Theseus zugleich Trost und Verheißung. Daidolos war es nämlich, der Theseus half, den Minotaurus zu besiegen worauf er von König Minos eingesperrt wurde. Aber dank seines Erfindungsreichtums konnten er und sein Sohn fliehen. Ariadne hingegen bleibt alleine auf Naxos zurück, ein Schicksal da an anderer Stelle weitererzählt werden sollte. Aber was soll man sagen? “Theseus interessierte sich nicht für die Vergangenheit, nur für die Zukunft. Das ist eines der Merkmale von Helden, das sie anziehend und abstoßend zugleich macht.

Die vorliegende Ausgabe ist mit Gemälden aus der Kunstgeschichte illustriert und hat im Anhang zudem ein Register mit Helden und solchen, die es gerne geworden wären. Weitere Geschichten in diesem Band drehen sich um Jason und die Argonauten, den smarten Ödipus und die Sphinx, Perseus und die Perser, Herakles und seine 10-12 Aufgaben, Bellerophon, der mit Hilfe des fliegenden Pferdes Pegasos die Chimäre tötete, Orpheus, der nicht nur singen konnte und Atalante, die sich nur von dem entjungfern ließe, der sie im Wettkampf besiegte.

Stephen Fry
Helden. Die klassischen Sagen der Antike neu erzählt
Übersetzer: Matthias Frings
Gehört zu Die Mythos-Trilogie Bandnummer 2
2020, Paperback, 461 Seiten
ISBN 978-3-351-03481-8
Aufbau Verlag
26,00 €

 


Genre: Geschichte, Heldensagen, Legenden, Mythen, Sagen
Illustrated by Aufbau Berlin

Katzen und der Sinn des Lebens

Katzen und der Sinn des Lebens. Natürlich ist allein die Frage nach dem Sinn des Lebens gerade in Tagen wie diesen purer Luxus. Ebenso lapidar fällt denn auch die Antwort aus: leben. Das ist auch die Antwort die Katzen geben würden. Denn es ist genau das, was sie tun: leben.

Das Glück der struppigen Vierbeiner

Feline Philosophy” lautet der vorliegende Text im englischen Original, wo das Buch erstmals 2020, im Pandemiejahr, erschien. “Katzen ist ein Glück angeboren, das Menschen oft nicht erreichen”, heißt es darin etwa, weil der Mensch unablässig danach strebe etwas zu sein, was er nicht ist, während die Katzen einfach sie selbst sind. Ausgehende von der Phänomenologie Platons bestreitet Gray diese, indem er behauptet, dass jede einzelne Katze einzigartig ist und sogar mehr Individuum als so mancher Mensch. Anhand mehrerer Beispiele aus der Literaturgeschichte oder einfachen Erzählungen, weist Gray in Folge dann nach, was an dieser Einzigartigkeit der Katzen dran ist. Natürlich stets mit philosophischem Augenzwinkern und dem Ernst des Themas angemessen. Die sog. Selbstbewusstheit des Menschen habe die immerwährende Unruhe geweckt, von der uns die Philosophie vergeblich zu kurieren suche, schreibt Gray.

Vorbildhafte Katzen in der Menschengeschichte

Nicht erst seit Michel de Montaigne, dem Begründer des modernen Humanismus und Katzenliebhabers, wissen wir, dass vielmehr die Katzen mit uns spielen als wir mit ihnen. In der Geschichte “Mèos Reise“, dem ersten Beispiel von John Grays Katzenapotheose, wird die innige Beziehung eines GIs zu seiner vietnamesischen Katze, Mèo, beschrieben, die der amerikanische Soldat vor dem Massaker von Hué errettete. Und obwohl das Schicksal dieser einen Katze im Verhältnis zu 58.000 US-Soldaten und zwei Millionen vietnamesischen Zivilisten obszön ist, vermochte es die Katze doch zumindest ein Menschenleben zu verschonen: das des Erzählers, dem GI. Auch andere Katzen aus fernöstlichen und anderen Kulturen werden von John Gray um ihre Bedeutung für den Menschen festzuhalten erwähnt: Colette’s Saha, Highsmith’s Ming, Jun’ichiro’s Lily, Gaitskill’s Gattino, Berdjajew’s Murris, etc.

Katzen und der Sinn des Lebens

Katzen bringen keine Asphaltiere oder Anführer hervor, sie leben lieber alleine als im Rudel und kooperieren doch, wenn es draufkommt. Sie ordnen sich nie unter und gehorchen oder huldigen nicht, wenn sie gehen wollen, gehen sie, wenn sie bleiben wollen, bleiben sie aus ihrem eigenen Wunsch. Sie sind so ehrlich wie kein Mensch es vermöchte zu sein. “Während Glück bei Menschen ein künstlicher Zustand ist, ist es bei Katzen die Verfassung, die ihrer Natur entspricht.” Wir lieben Katzen, weil sie so anders sind als wir selbst und vielleicht auch, weil sie uns an unseren eigenen Tod gemahnen. John Gray zitiert Ernest Becker, wenn es um die Grausamkeiten des Menschen gegen den Menschen geht, ihre Lebenslügen und Ideen für die sie zu sterben vorgeben. Schon Wittgenstein aber wusste, dass nur jene ewig leben, die in der Gegenwart leben (“Unzeitlichkeit”) und genau das tun unsere Katzen: sie sind sterbliche Unsterbliche, leben ihrer Natur entsprechend und sind das, was sie am besten können. Sie selbst.

Ganz nebenbei lernen wir mit vorliegender unterhaltsam geschriebener Lektüre auch viel über andere Philosophen wie etwa Epikur, Lukrez, Seneca, Pascal, Spinoza, Comte und vor allem über den Sinn des Lebens: zu leben. Eine gute Einführung zu John Grays philosophischen Betrachtungen geben auch die vom Verlag auch online (im Buch im Anhang am Ende) zugänglich gemachten “10 Tipps von Katzen an Menschen” über den Sinn des Lebens. Hier abrufbar!

John Gray
Katzen und der Sinn des Lebens
Philosophische Betrachtungen
Übersetzer:in: Jens Hagestedt
2022, Hardcover, 159 Seiten
ISBN: 978-3-351-03923-3
Aufbau Verlag
22€

 


Genre: Abendland, Katzen, Lebenskunst, Philosophie, Ratgeber
Illustrated by Aufbau Berlin

Jesus von Texas

Bissige Medien-Satire

Der unter dem Pseudonym DBC Pierre veröffentlichende, australische Schriftsteller Peter Warren Finlay hat mit seinem Roman-Erstling «Jesus von Texas» 2003 den britischen Booker Prize gewonnen. Also die begehrteste Auszeichnung im englisch-sprachigen Raum, die dort im Ansehen zuweilen sogar noch vor dem weniger publikums-wirksamen Nobelpreis steht. Der ehrt ja bekanntlich den Autor selbst, nicht das einzelne Buch, – die Buddenbrooks waren eine berühmte Ausnahme. Aber davon trennen diesen Roman wirklich Welten! Das Pseudonym steht für «Dirty But Clean Peter» und soll den Lebenswandel des Autors andeuten. Der hat es nämlich, folgt man dem Klappentext, fertig gebracht, «von seinem Nachbarn in Mexico Stadt angeschossen zu werden, Schulden in Höhe von mehreren hunderttausend Dollar anzuhäufen, drogen- und spielsüchtig zu werden und eine Reihe von Frauen zu hintergehen».

Sein Roman ist denn auch eine bissige Satire auf die Sensationsgier der amerikanischen Medien-Gesellschaft, deren Auswüchse hier genüsslich auf die Spitze getrieben werden. Ort der Handlung ist eine fiktive Kleinstadt, die den Ruf der Barbecue-Saucen-Hauptstadt von Texas hat. Der fünfzehnjährige Schüler Vernon wird der Mittäterschaft an einem Massaker in seiner Schule verdächtigt. Diesen Amoklauf hat sein bester Freund Jesus während des Physik-Unterrichts begangen, sechzehn Mitschüler sind ihm zum Opfer gefallen, der Täter hat sich anschließend selbst erschossen. Nachdem Vernon ungeschickt ein Gewehr zu verstecken sucht und ihm die Polizei auch rein gar nichts glaubt, flüchtet er nach Mexico, wird dort aber verhaftet und ausgeliefert. Durch unprofessionelle Verteidigung, widrige Umstände und die unheilvolle Mitwirkung eines Klatschreporters bereits massiv von der Bevölkerung vorverurteilt, wird Vernon in einem absurden, schauprozess-artigen Verfahren unschuldig zum Tode verurteilt. Im Todestrakt veranstaltet ein Medien-Konzern die wöchentliche Wahl des jeweils nächsten Delinquenten in Form einer live übertragenen, publikums-wirksamen Reality-Show. Als schließlich Vernon gewählt wird, gelingt es ihm scheinbar durch einige Telefonate, sich doch noch aus der Schlinge zu ziehen.

«Irgendjemand hat mal gesagt, es sei heute unmöglich, Amerika satirisch darzustellen, die Wahrheit wäre immer viel lächerlicher als alles, was man sich ausdenken könnte. Ich glaube, dass stimmt weitgehend», hat sich der Autor geäußert. Und als Beispiel nennt er den letzten Wunsch eines Todeskandidaten in Texas, der vor der Hinrichtung noch eine Zigarette rauchen wollte, was ihm «mit dem Hinweis, dass Rauchen schlecht für seine Gesundheit sei», aber verweigert wurde. In diesem Lichte besehen erscheinen die satirischen Überspitzungen des Romans literarisch ebenso angemessen wie der vulgäre, auf Dauer abstoßende Jugend-Slang, in dem der pubertierende Romanheld erzählt. In der Übersetzung ist es weitgehend gelungen, die vielen Wortspiele in ihrem Aberwitz zu erhalten, was nicht wenig beiträgt zum Amüsement des Lesers, wenn er denn eine Antenne dafür hat. Oft versteckt sich in dem unflätigen Primitiv-Jargon des jugendlichen Ich-Erzählers aber auch eine tiefe Ratlosigkeit: «Ich hab wirklich versucht, das Leben zu kapieren, manchmal kam es mir sogar großartig vor. Doch damit hat sich’s jetzt erstmal, nach allem was passiert ist. Ich meine, was soll das denn für ein Scheißleben sein?»

Grenzenlose Medienmacht, ausufernder Konsumterror und schreiende Ungerechtigkeit sind die Reiz-Themen, die der Autor in seiner temporeich erzählten Geschichte vehement anprangert, ein offensichtlich in die Irre führender American Way of Life. Und Satire ist sicherlich auch die wirksamste Form, sich mit seiner flammenden Anklage einer breiteren Leserschaft verständlich zu machen, Vernunft im Sinne von Kant ist dafür nun mal nicht geeignet. Auch wenn hier auf amüsante Weise der Finger in die Wunde gelegt wird, ist dieser Roman eine von der Sprache her verstörende, auf Dauer nervige Lektüre.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Berlin

Was fehlt dir

Vom Ende aller Dinge

Nach ihrem Überraschungs-Erfolg mit «Der Freund» hat Sigrid Nunez nun einen Roman unter dem banal klingenden Titel «Was fehlt dir» vorgelegt, der im Original mit «What Are You Going Through» seine Thematik weitaus besser beschreibt. Es geht um das emphatische Einfühlen in das Schicksal anderer Menschen und die Frage, inwieweit das eigene Leben davon betroffen ist. Die New Yorker Schriftstellerin geht dieser Frage eher in essayistischer Form nach denn in erzählerischer, erst nach der Hälfte des Buches beginnt der eigentliche Plot um das schwierige Thema selbstbestimmtes Sterben.

Eine der Autorin ähnelnde Schriftstellerin (sic) soll ihre unheilbar an Krebs erkrankte beste Freundin beim geplanten Suizid begleiten, und auch in dieser Figur ist unschwer Susan Sontag zu erkennen, die Mutter von David Rieff, dem Exfreund der Autorin. Die namenlose Ich-Erzählerin hat sich über Airbnb bei einer Witwe eingemietet, um ihre in der Nähe im Krankenhaus liegende Freundin jederzeit besuchen und ihr beistehen zu können. Das Buch beginnt mit dem Satz «Ich machte mich auf den Weg, um mir den Vortrag eines Mannes anzuhören». In apokalyptischen Bildern sagt ein bekannter Professor da den längst unabwendbar gewordenen Untergang der Menschheit voraus als Folge der sich häufenden globalen Krisen. Mit diesem Einstieg spiegelt Sigrid Nunez den menschlichen Tod am bevorstehenden, selbst verschuldeten Ende der Zivilisation und weist darauf hin, was es bedeutet, gerade jetzt zu leben. Der Vortragende ist, erfährt man erst im Nachhinein, der Ex-Mann der Erzählerin. In ihm, den sie lange nicht gesehen hat, findet sie nun plötzlich einen kompetenten Gesprächspartner für die schwierigen Fragen, mit denen sie sich in ihrer bedrückenden Rolle als Sterbebegleiterin auseinander setzen muss. Ein weiterer Themenbereich dieses Buches ist die Frage, wie sich denn überhaupt darüber schreiben lässt, woran Menschen leiden, was der Tod für sie bedeutet, wie sie mit seiner Unabwendbarkeit umgehen.

Um dieses Themenspektrum herum entwickelt die Autorin in vielen anekdotischen Abschweifungen und Anspielungen aus Film und Literatur ihre literarische Tour d’Horizon ums Sterben und um die Frage, wie Mitgefühl die Sicht auf unser Leben verändern kann. Wobei das Altwerden hier im Roman vor allem ein Problem der Frauen ist. Sei es, dass sie vom Schlankheits-Wahn betroffen sind, ein passender Mann nicht zu finden ist, eine Paranoia zur absoluten Vereinsamung führt. In einer Anekdote erkennt eine krebskranke Frau, dass ihr ungeliebter Mann angesichts ihres nahen Todes immer führsorglicher wird und geradezu auflebt, nun regelrecht glücklich erscheint. Und sarkastisch wird die Geschichte eines Mannes und einer Frau kommentiert, die im Fahrstuhl stecken bleiben und nach der glücklichen Befreiung spontan beschließen, zu heiraten. Aber einem «Sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage» setzt Nunez trocken ein «Well, no» entgegen, so simpel ist das Leben halt doch nicht.

Eine «allertraurigste Geschichte» folgt der anderen, und mit Ford Madox Ford ist hier auch schon einer der vielen intertextuellen Verweis genannt, Faulkner, Sontag, Kafka, Bachmann und andere ergänzen diese literarischen Bezüge und werden teilweise ausführlich zitiert. Und es wimmelt von Aphorismen: «Eine Jugend, die belastet ist von dem Wissen, wie traurig und schmerzhaft Altern ist, würde ich überhaupt nicht Jugend nennen», lässt Nunez ihre Erzählerin sagen. In einer einfachen Sprache werden da, zuweilen recht amüsant, viele kluge Gedanken ausgebreitet, so wenn sie an einer Stelle fragt: «Und ist das nicht das Schöne am Lesen, dass es dich von dir selbst ablenkt». Auch Walter Benjamin kommt am Ende zu Wort: «Der Leser fühlt sich vom Roman angezogen in der Hoffnung, dass er sein zitterndes Leben mit einem Tod wärmen kann, über den er liest». Da scheint was dran zu sein, wird man sich nach der Lektüre dieses klugen Buches sagen, ob man es nun als Roman gelesen hat oder als Essay.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Berlin

Kleiner Mann, was nun?

Beklemmend aktuell

Mit dem Roman «Kleiner Mann, was nun?» gelang Hans Fallada 1932 literarisch der Durchbruch, der Bestseller wurde schon ein Jahr später verfilmt, sein Titel wurde zum geflügelten Wort. Eine ungekürzte Neuauflage mit einem informativen Nachwort ist 2016 erschienen. Wie sich zeigte, war die bisher verbreitete Buchfassung um fast ein Viertel gegenüber dem überraschend aufgetauchten Manuskript gekürzt, vor allem um politisch und moralisch ehedem bedenkliche Textpassagen. Als großartiger Zeitroman zeugt diese im Stil der Neuen Sachlichkeit erzählte Geschichte von der Fähigkeit seines Autors, Lebenswirklichkeit literarisch stimmig zu erfassen.

Der kleine Mann des Romans heißt Johannes Pinneberg, er arbeitet als Buchhalter und verliert durch eine Intrige seine Stellung. Als seine Freundin «Lämmchen» schwanger wird, heiratet er sie kurz entschlossen, das verliebte Paar freut sich trotz seiner bitteren finanziellen Nöte auf den «Murkel», wie sie das Ungeborene nennen. Pinnebergs Mutter, mit der er schon vor Jahren gebrochen hat, lädt die Beiden ein, zu ihr nach Berlin zu kommen, sie könnten bei ihr wohnen, und für eine Stellung würde sie auch sorgen. Wie von ihm befürchtet, geraten sie bei ihr jedoch in ein zweifelhaftes Etablissement. Jachmann allerdings, der zwielichtige Freund der Mutter, besorgt Pinneberg tatsächlich eine Stellung als Verkäufer in einem großen jüdischen Kaufhaus. Auch in diesem Job wird er aber nach einem Jahr fristlos gekündigt, das Paar mit dem inzwischen geborenen Sohn wohnt schließlich illegal in der Gartenlaube eines Freundes. Lämmchen verdient mit Näharbeiten ein wenig Geld, Pinneberg bekommt eine spärliche Arbeitslosen-Unterstützung. Am Ende des Romans muss er erleben, dass ihn ein Polizist vom Bürgersteig vor den eleganten Geschäften wegjagt, weil er dort als «Gesindel» nur stört. Er verliert dadurch schlagartig jede Selbstachtung. Als er völlig verzweifelt in die Laubenkolonie zurückkehrt, richtet ihn Lämmchen wieder auf. «Du bist doch bei mir, wir sind doch beisammen». Der versöhnliche letzte Satz lautet: «Und dann gehen sie in das Haus, in dem der Murkel schläft.»

In einem Brief hat Hans Fallada seinen Romanhelden als «Garnichts» bezeichnet, als einer von sechs Millionen dahin vegetierenden Arbeitslosen, von dem er erzähle, «was er fühlt, denkt und erlebt». Das sozialkritische Werk hatte während der Weltwirtschaftskrise den Nerv der Zeit getroffen, auch die Machtergreifung der Nazis warf bereits ihre Schatten voraus. Das Figuren-Ensemble enthält die verschiedenartigsten Typen: die Mutter als Lebedame, ihr Freund Jachmann als sympathischer, hilfsbereiter Krimineller, den netten, großzügigen Arbeitskollegen und FKK-Anhänger, die freundlichen Schwestern im Entbindungsheim, die fiesen Vorgesetzten, die desinteressierten Beamten. Von den beiden Protagonisten erweist sich Lämmchen als die Stärkere, ihr Lebenswille bleibt ungebrochen. Sie schöpft trotz der vielen Schicksalsschläge auch im ständigen sozialen Abstieg immer wieder neuen Mut und vermag ihrem verzagten «Jungen» ebenfalls Zuversicht einzuhauchen.

Hans Falladas Geschichte ist voller harter Lebenswahrheiten, die auch für sozial Abgehängte unserer Zeit, die heutigen »Garnichtse», unverändert gelten. Seine beklemmend aktuelle Kapitalismus-Kritik verdeutlicht er eindrucksvoll am Umgang der Unternehmer und Führungskräfte mit ihren Mitarbeitern. Die sind ihrer Willkür und ihren Launen hilflos ausgeliefert angesichts einer jederzeit verfügbaren «Reservearmee» Arbeitsloser. Pinneberg träumt wegen des ewigen Kampfes ums Geld und des Ringens mit einer abstrusen Bürokratie, angeregt durch Robinson Crusoe, von einem Rückzug in die innere Emigration. Das Ehepaar findet sein stilles Glück daheim bei ihrem Murkel, immer ehrlich bleiben ist ihre Maxime, allen Anfeindungen zum Trotz. Der in einer leicht lesbaren Sprache geschriebene, in vier Teile gegliederte und chronologisch erzählte Roman ist in seiner Thematik beklemmend aktuell geblieben.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Berlin

Hier ist noch alles möglich

Surrealer Eskapismus

Der Debütroman von Gianna Molinari mit dem Titel «Hier ist noch alles möglich» benutzt den Wolf als Symbol, – derzeit übrigens häufiger anzutreffen in deutschen Romanen -, er ist ein markantes Leitmotiv für die Verkörperung des freien, ungebändigten Lebens, wie es ähnlich zum Beispiel auch in Schimmelpfennigs Roman «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen» verwendet wird. Der Text des schmalen Bandes wird durch einige Dutzend Skizzen und Abbildungen grafisch ergänzt. Als erster Roman der jungen Schweizer Schriftstellerin hat das Buch auf Anhieb einige Preise errungen und wurde von Feuilleton und Leserschaft positiv aufgenommen. Während es bei Schimmelpfennigs eher trostloser Gesellschaftsbeschreibung im letzten Satz heißt: «Der Wolf war verschwunden», endet der rätselhafte, poetische Exkurs ins Unbestimmte hier mit dem Satz: «Die Falle ist bereit».

Eine junge, namenlose Ich-Erzählerin hat ihr bürgerliches Leben als Bibliothekarin radikal aufgegeben und als Nachtwächterin bei einer Kartonagefabrik angeheuert, die in ansehbarer Zeit allerdings geschlossen werden soll, sie wohnt dort provisorisch in einer schon leeren Fabrikhalle. Auf dem Firmengelände hat der Kantinenkoch anscheinend einen Wolf gesehen, daraufhin sind einige Tellereisen aufgestellt worden, die beiden Nachwächter sollen nun zusätzlich auch noch eine Fallgrube ausheben. Ein Kollege aus der Fabrik hat bei der Jagd vom Hochsitz aus undeutlich etwas vom Himmel stürzen sehen, dabei aber an eine Sinnestäuschung geglaubt. Wochen später wird dort im Wald eine Leiche gefunden, ein nicht identifizierbarer Afrikaner ist mutmaßlich bei seiner Flucht nach Europa – im Fahrwerksschacht einer Passagiermaschine – beim Landeanflug auf den nahegelegen Flugplatz aus seinem tödlichen Versteck herausgestürzt. Die neugierig gewordene Protagonistin besucht daraufhin den Flughafen, lernt dort einige Mitarbeiter kennen und schafft es schließlich, unauffällig das Fahrwerk einer solchen Verkehrsmaschine auf dem Rollfeld zu besichtigen, sie klettert unbemerkt probeweise sogar selbst in den Schacht hinein.

Mit den beiden Grundmotiven Wolf und Flüchtling entführt uns die Autorin in eine literarische Welt der Ungewissheiten. Ihr prägendes Sinnbild als überschaubares Refugium ist dabei die einsame Insel. Mehrfach stellt sie den verschiedenen Abschnitten ihres Romans einen kurzen Absatz zu diesem geradezu magischen Ort der Selbstvergegenwärtigung voran. Im Text heißt es an einer Stelle: «Warum bist Du eigentlich in die Fabrik gekommen, fragt Clemens. Du könntest anderes tun. Studieren, reisen. Warum bist Du hier, fragt er. Es gefällt mir hier. Das ist ein guter Ort. Hier ist noch alles möglich. Sogar Wölfe, sagt Clemens.» Die Ich-Erzählerin arbeitet in der Leere ihrer sinnlosen Nachtwachen an einem Universal-General-Lexikon, dessen Inhalt aus lauter Abseitigem besteht, damit ihre aberwitzige Gedankenwelt spiegelnd. Viel Raum nehmen dabei auch Fragen nach dem Innen und Außen ein, nach der begrenzten Welt ihrer Fabrikhalle und der komplizierten Welt da draußen.

In einfach strukturierten Sätzen werden die immer wieder verblüffenden Gedanken und Schlussfolgerungen der stoischen Protagonistin vor dem staunenden Leser ausgebreitet. Deren irritierende Schlichtheit aber sollte nicht über die gedankliche Tiefe hinweg täuschen, mit der hier existenzielle Fragen scheinbar naiv behandelt werden. Der das Unzuverlässige betonende Plot ist zudem geradezu minimalistisch auf das Wesentliche beschränkt, seine Sprache ist äußerst karg und direkt. Vermutlich würde ein Computer das Adverb «vielleicht» als das häufigste im Text ermitteln, meistbenutztes Satzzeichen dürfte in dieser irritierenden Prosa über die Krise des Individuums das Fragezeichen sein. Am Ende sitzt dann sogar ein leibhaftiger Wolf in der Fabrikhalle, – an den Löwen in Lewitscharoffs «Blumenberg» erinnernd -, und ist in Gianna Molinaris kontemplativer Geschichte als Symbol für den Eskapismus auch genau so surreal.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Berlin

Rodin und Rilke

Die Geschichte der beiden berühmten Persönlichkeiten ist von der amerikanischen Autorin Rachel Corbett abwechslungsreich und gut fundiert erzählt. Einige Passagen sind etwas leblos verfasst, die größte Länge des Buchs aber ist mitreißend geschrieben. Wer Interesse an Künstlerbiographien hat, wird mit diesem Buch seine Freude haben. Rodin – Vorbild für den jungen Rainer Maria Rilke, welcher phasenweise gar dessen Sekretär war – arbeitet abseits der bedeutendsten Kunstakademien in Paris an seiner realistischeren, lebendigeren, von Bewegung und Aktion inspirierten Sicht der modernen Welt. Ergriffen von Antoine Luis Bayres Bronzeplastik zweier Windhunde formuliert er: „Das ist Kunst, das ist die Offenbarung eines großen Mysteriums, wie man Bewegung ausdrückt aus etwas, das sich im Zustand der Ruhe befindet“. Bayres Kurs über Tierstudien allerdings hatte er zuvor gelangweilt verlassen. Bemerkenswert ist, dass der Kritiker Edmond de Goncoourt über Bayres im Pariser Salon 1851 schrieb, dessen Jaguar einen Hasen verschlingend, markiere das Ende der historisierenden Skulptur und den Triumph der modernen Kunst.
Davon handelt das Buch umfassend auch. Von der Durchsetzung Moderner Kunst in der zweiten Hälfte des 19ten Jahrhunderts. Rilke fühlte sich von Baudelaires Blumen des Bösen fasziniert und versuchte eben wie dieser (und ebenso Gottfried Benn) aus dem Verwesen, aus dem Dinglichen neue Kenntnis des Seins zu schöpfen. Viele stellten das als Fortschritt dar – ist`s ja wohl auch – den Dinggedichten Rilkes werden in der gegenwärtigen Rezeption durch Literaturgeschichtler größere Aufmerksamkeit geschenkt als den Duineser Elegien… Dinggedichte Georg Trakls allerdings markieren für mich das Ende des Mensch-Seins und das Verschwinden in der Sache, in den Dingen – linke Literaturkritiker würden sagen: der Verdinglichung der Menschen. Diese Verdinglichung wird allerdings nicht wirklich beschrieben, begriffen und überwunden, sondern weitergeschrieben – bis ins Heute. Interessant für den Modernekritiker also zu lesen, wie das alles begann.
Cezanne dient ebenfalls als gutes Beispiel: wie seine flächige in den herrlichsten Farben schattierten Landschaften gering geschätzt wurden bis die Fauvisten speziell der Farbigkeit seiner Bilder hohen Wert beimaßen und selber dann die Tiefe der Gemälde aufgebend allein durch Farbigkeit Ausdruck suchten. Matisse scherenschnittartige Gouache „blauer Akt“ allerdings zeigt wohl eindeutig, wie sehr diese Haltung zur Verflachung führte, welche die Moderne Kunst bald beherrschte – bis sie eben wieder Weltflach wie eine Scheibe zirkelte.
Rodin schien von Arbeit besessen. Sein gesamtes Leben stand im Dienst künstlerischen Schaffens. Endlich galt er als der bestbezahlte Künstler seiner Ära und Größen wie Georg Bernhard Shaw und gar der Papst ließen durch ihn Büsten anfertigen.
Sein – oftmals von jungen Frauen selbst provozierter – zügelloser Umgang mit dem weiblichen Geschlecht ist sicher als Schwachpunkt des Künstlers zu deuten. Namentlich der Bildhauerin Camille Claudel tat er einiges an. Sie verfiel ihm menschlich und als Schülerin und litt bis zu ihrem Lebensende am Abbruch der Beziehung, jedenfalls insofern, dass sie schließlich im Irrenhaus verstarb – letztlich als Racheaktion der Familie zu begreifen, die ihr ihre künstlerischen Ambitionen und das ausschweifende moderne Leben nicht verzieh, sondern die aus allen traditionellen Lebensbezügen Herausgetretene nur als wahnsinnig begreifen konnte. Jedenfalls faszinierte Rodin junge Frauen, die ihre Befreiung aus dem Korsett der Bürgerlichkeit auch gern durch die Hände des Meisters persönlich suchten; wie etwa Isodora Duncen, die nach einer Aufführung ihres zeitgenössischen Tanzes erfuhr: „Mit halbgeschlossenen Augen starrte er mich an, sein Blick glühte, und mit dem gleichen Ausdruck, den er von seinen Werken zeigte, kam er auf mich zu. Seine kundigen Meisterhände strichen über meinen Nacken und meine Brust … Mein ganzes Wesen verlangte danach, mich ihm völlig hinzugeben, hätte mich nicht meine alberne Erziehung in Angst versetzt, so dass ich mich zurückzog, rasch mein Kleid überwarf und ihn in zitternder Verwirrung fortschickte. Wie sehr ich dies heute bedaure! Oft habe ich diesen kindischen Unverstand bereut, der mich um das göttliche Erlebnis gebracht hat, dem erhabenen Rodin – dem großen Pan selbst – meine Jungfräulichkeit zu opfern.“ Mir scheint, Duncen hat sehr natürlich und normal reagiert. Schade, dass sie das selbst später – unter dem Primat moderner Lebensweise – relativierte.
Die Freundschaft zwischen Rilke und Rodin endete abrupt aufgrund Rodins Pedanterie, ein Wiederaufkeimen war nur von kurzer Dauer.
Rilke verachtete Rodin in späteren Jahren aufgrund dessen hemmungsloser Gier nach Frauen, die sein hehres Credo: Disziplin und Arbeitseifer sowie Gottgleichsetzung der Kunst peinlich infrage stellte.
Der große Mann, der nur für sein Schaffen lebte, scheint wenig seelische Entwicklung erfahren zu haben. Vielleicht legte er seine Schönheit wie Oscar Wilde in Dorian Gray in seine Skulpturen…. Rilke immerhin hatte als einstiger Schüler Rodins begriffen, dass Sprache nicht ein Werkzeug sei „um zu beschreiben wo es … wehtut“, sondern um aus dem Schmerz etwas zu schaffen. Die Autorin des Buchs ist sicherlich keine Modernekritikerin, arbeitet sie doch als Redakteurin des Modern Painters Magazine in New York. In ihrer Recherche aber ist sie so genau, dass ihre aus schier endlosen Quellen zusammengetragenen Fundstücke sich wie ein Puzzle zu einem fragwürdigen Bild des damaligen Aufbruchs fassen lassen. Schließlich schreibt Rilke, unter Rodins Fittichen von Kunst besessen, in den „Briefen an den jungen Dichter“: „Auch die Kunst ist nur eine Art zu leben.“ Auf die Briefe geht die Autorin weiters zu wenig ein – sind diese meiner Meinung nach doch ein beeindruckendes Dokument gegen die modernistische Haltung in Kunst und Lebensstil. Überhaupt wird die spirituelle Dimension des Werkes Rilkes gar nicht gewürdigt, was ich auf die Ideologie der Autorin zurückführen würde.
Rodin, an der Spitze seines Erfolgs, wird von den nachdrängenden Avantgardisten als reaktionärer Kleingeist verhöhnt. Und setzt sich gegen den geschwind etablierten Zeitgeist recht hilflos zur Wehr. „Wer kann an Fortschritt glauben?“, fragt er. „Schon lange wären wir göttlich, wenn die Theorie des unbegrenzten Fortschrittes wahr wäre“. So aktuell und richtig seine Sätze im Ohr des Modernekritikers klingen, er selbst hatte mit dem „Denker“, einer Figur, die kauernd unter dem Gewicht der individualisierten Welt sich in den Handrücken beißt, und nichts mehr von der Harmonie und den Gewissheiten des in ein Weltganzes eingebetteten Seins spüren lässt, Moderne harsch vorangetrieben. Die Gnadenlosigkeit moderner Zeit und Fortschrittsglaubens verschlang ihn, wie Chronos die eigenen Kinder fraß – als eines ihrer ersten und bahnbrechendsten Sprösslinge.


Genre: Biographien
Illustrated by Aufbau Berlin

Die Ordnung der Sterne über Como

zeiner-1Dance Me to the End of Love

Erfreulicherweise gibt es immer wieder Überraschendes auf dem Buchmarkt, denn Monika Zeiners Debütroman mit seinem zunächst kryptischen, auf eine Zäsur im Plot hinweisenden Titel, war für mich eine faustdicke Überraschung. Nicht nur sprachlich, sondern auch thematisch an Thomas Mann erinnernd, behandelt dieser ambitionierte Künstlerroman elementare Fragen wie Glück, Liebe, Freundschaft, Alter, Tod, Trauer, und den Sinn des Ganzen natürlich. Die Kunst ist auch hier die Musik, von der Autorin kenntnisreich eingewoben in die Handlung, ist sie doch in ihrer zweiten Karriere unter dem Namen Mona Stinelli Gründerin der Italoband «marinafon». Und auch zum Thema Liebesleid weist sie reichlich Fachkompetenz auf, sie hat ja schließlich über mittelalterliche Liebesmelancholie promoviert.

Ihr radikal illusionsloser Roman dreht sich um den chaotischen Antihelden Tom, ein labiler, schwermütiger, lethargischer Pianist, der in einer studentischen WG im Berlin der neunziger Jahre lebt, zusammen mit seinem besten Freund Marc, einem hoffnungsvollen Komponisten moderner Musik, und mit Betty, die eigentlich Medizin studieren soll nach dem Willen ihre Eltern, sich zeitweise aber eher als Sängerin sieht und mit den beiden zusammen gelegentlich in einer Jazzband auftritt. Marc und Betty werden ein Paar, Tom hat das selbstlos eingefädelt für seinen zunächst desinteressierten Freund, ist sich später aber nicht mehr sicher, ob das nicht ein Fehler war, auch er fühlt sich irgendwie zu Betty hingezogen. Und so endet diese Ménage-à-trois irgendwann am Comer See, als während Marcs Abwesenheit Tom und Betty doch noch zusammenfinden und dann nächtens den Sternenhimmel betrachten auf der Suche nach einer Ordnung dort oben. Am nächsten Tag kommt Marc bei einer Schneewanderung um, die Beiden sind entsetzt und gehen auseinander, sehen sich zehn Jahre lang nicht mehr.

Erzählt wird diese vielschichtige Geschichte von ihrem tragischen Kern aus, dem alles verändernden Tod von Marc, dieser fast als Lichtgestalt erscheinenden Figur. In Rückblicken schildert die Autorin anschaulich und metaphernreich das Leben der drei Freunde in Berlin, sie nimmt sich Zeit dafür, zuviel, glaubt man ihren Lektoren, denen angeblich auch 200 Seiten genügt hätten. Gottlob ist sie konsequent geblieben, es wären dem Leser sonst viele erfreuliche und behagliche Lektürestunden vorenthalten worden. Denn man würde, so man Gefallen an unaufgeregt erzählten Geschichten und die nötige Muße dafür hat, am liebsten ewig weiterlesen, freut sich immer wieder an philosophischen Betrachtungen, sympathisch gezeichneten Figuren, wird sogar, wie ich, zum Musikhören angeregt. Als nämlich Tom «Dance Me to the End of Love» am Klavier spielt und Betty spontan zum Singen auffordert, da konnte ich nicht anders und habe meine Lektüre unterbrochen, um mir mal wieder diesen wunderbaren Titel von Leonard Cohen anzuhören.

Man ist gespannt, wie die Geschichte ausgeht, denn nach langer Zeit treffen Tom und Betty am Ende in Neapel wieder zusammen. Bei diesem Showdown klärt sich der mysteriöse Tod von Marc als Freitod, Betty hatte ihm alles gebeichtet seinerzeit, und Tom gesteht, dass er zu lange gewartet hat damals, bis es für eine Rettungsaktion zu spät war. Beide, die sich nun wieder gefunden haben nach so vielen Jahren, sind unrettbar in ihrer Schuld verstrickt, es gibt selbstverständlich kein Happy End. Vielleicht liegt es an der weiblichen Perspektive der Autorin, dass die Männer in diesem Roman allesamt ein wenig trottelig wirken, die Frauen aber eher dominant sind wie die bourgeoise Anne zum Beispiel, die darauf besteht, beim «Sie» zu bleiben mit ihrem jugendlichen Liebhaber und Klavierlehrer. Dieser Roman hat unglaublich viele Facetten aufzuweisen, er bietet Lesefreude pur auf einer genüsslichen literarischen Entdeckerreise, seine überaus positive Rezeption ist absolut gerechtfertigt.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Berlin

Narrenweisheit

feuchtwanger-1Vitam impendere vero

Zum Spätwerk von Lion Feuchtwanger, einem der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller im vergangenen Jahrhundert, zählt der 1952 erschienene Roman «Narrenweisheit», dessen Untertitel «Tod und Verklärung des Jean-Jaques Rousseau» seine Thematik verdeutlicht. Er gehört zur Gattung der historischen Romane, mit denen der Autor, beginnend mit «Jud Süß», weltweit großen Erfolg hatte, und umfasst zeitlich die letzten Monate vor dem Tod des großen französischen Denkers und Schriftstellers 1778 bis zur feierlichen Überführung seines Leichnams ins Pariser Panthéon im Jahre 1794.

Bereits der Titel spielt darauf an, dass Rousseau, der im Roman fast nur Jean-Jaques genannt wird, neben seiner unbestrittenen Weisheit auch ein Narr war mit wahnhaften Ängsten und psychotischen Abwehrreaktionen. Unbeholfen zudem, was seine privaten Lebensumstände betraf, sein Unvermögen beispielsweise, aus seinen Werken den ihm gebührenden finanziellen Nutzen zu ziehen. Wie so oft in seinem Leben war er auch 1778 nach heftigen Querelen in Paris wieder mal auf die Gastfreundschaft eines seiner Gönner und grenzenlosen Bewunderer angewiesen, des Marquis de Girardin, Seigneur von Ermenonville. Der aber konnte sich nicht lange im Ruhme des gefeierten Gastes sonnen, Rousseau verstarb ganz plötzlich, nach offizieller Version an einem Schlaganfall. Feuchtwanger, der sein Buch einen «Detektivroman mit historischem Hintergrund» nannte, ergänzt die Fakten jedoch um eine Mordgeschichte, der Liebhaber von Rousseaus Ehefrau Théresè habe den berühmten Denker aus Geldgier erschlagen, der Mord aber wurde aus den verschiedensten Gründen vertuscht und als haltloses Gerücht abgetan. Ebenfalls in die Handlung eingebettet ist die Romanze von Girardins Sohn Fernand mit Gilberte, eine Jugendliebe, die sich erst auf vielen Umwegen zu erfüllen scheint, wenn da nicht die Einberufung zur republikanischen Armee wäre, die ein mögliches Happy End für die Beiden letztendlich in Frage stellen könnte.

Das Besondere dieses stilistisch ausgezeichneten Romans ist die Fülle von historischen Ereignissen und berühmten Zeitgenossen, die hier eingebaut sind und die eigentliche Handlung immer wieder überlagern, die oft sogar im Zentrum des Erzählten stehen. Man erlebt als Leser den Beginn der französischen Revolution aus der Perspektive der Aristokratie, als deren geistiger Vater Rousseau angesehen wird, von Robbespiere, der ihn in Ermenonville besucht, grenzenlos bewundert. Im Verlauf der Revolution jedoch werden auch Girardin und sein Sohn denunziert und geraten ins Visier des republikanischen Tribunals, Fernand landet in Untersuchungshaft, sei Vater steht unter Hausarrest, beide trotz ihrer republikanischen Gesinnung. Gilberte, die durch Heirat in den Adelsstand erhoben wurde, muss sogar erkennen, dass die frisch errungenen Privilegien nun eher nachteilig, sogar hochgefährlich sind in Zeiten der Revolution mit ihren unvorhersehbaren Auswüchsen an Gewalt. Rousseaus eigentlich ja unpolitische Thesen erweisen sich als widersprüchlich und fragwürdig angesichts des jakobinischen Terrors, den er mit heraufbeschworen hat, Fernands einst felsenfeste Überzeugungen jedenfalls sind gewissen Zweifeln unterworfen.

Der flüssig lesbare Roman veranschaulicht durch seine historische Thematik, trotz mancher fiktiven Ergänzungen, recht eindrucksvoll und ohne wissenschaftlichen Anspruch die Wirkungen des Werkes von Jean-Jaques Rousseau auf den Gang der Geschichte. Insoweit bietet die Lektüre neben ihrem Unterhaltungswert en passant eine Auffrischung, wenn nicht sogar einen nicht unbeträchtlichen Zugewinn an Geschichtswissen für den Normalleser, bei mir war es jedenfalls so. Weit mehr als der ihm zugeschriebene, wirkmächtige Aufruf «Zurück zur Natur» überzeugt mich Rousseaus Wahlspruch «Vitam impendere vero», sein Leben der Wahrheit weihen scheint mir ein nachahmenswerter Vorsatz, auch wenn genau das, wie wir in diesem Roman erfahren, allzu schnell als Narretei abgetan wird.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Berlin

Hool

41YX++daNcL._SX289_BO1,204,203,200_Ach was muss man oft von bösen Schlägern hören oder lesen, wie zuletzt als streitbare Anhänger des BVB Dortmund auf die Fans des Bayern-Jägers RB Leipzig losgingen. Mit seinem Romandebüt liefert Philipp Winkler nun prosaische Innenansichten dazu ab.

Hauptfigur ist der ganz und gar unzart besaitete Heiko K.. Er ist ebenso wie sein überschaubarer Freundeskreis eingefleischter Fan von Hannover 96. Wenn ihr Verein auf Tournee geht, richten sie gemeinsam mit Schlachtenbummlern von gegnerischen Mannschaften ihre ganz eigenen Spielpaarungen aus. Anstelle mit den Füßen wird mit Knien und Fäusten herausgefunden wer das stärkere Team ist, mal in Shopping-Malls, mal auf der grünen Wiese.

Heiko hat sich mit seinem scheidungs- und alkoholgeschädigten Vater überworfen, hat eine viertelintakte Beziehung zu seiner Schwester, lebt zur Untermiete bei einem schrägen Vogel auf dem Land, der ihn in im wahrsten Sinne des Wortes in tierisch krumme Geschäfte hinein zieht und hasst seinen Schwager, weil der die Verstachelung einer Frisur vermittelst Haargel für ganz toll Hipster hält. Seinen Lebensunterhalt verdingt er als Laufbursche im Boxstall seines Onkels Axel. Onkel Axel macht in der Szene den Talent-Scout und mischt auch selbst immer wieder mal handgreiflich mit. Zu seiner Ex-Freundin hält Heiko gebührend artige Trennungsdistanz.

Es liegt in der Natur der Sache, dass solche Arten von Freizeitgestaltung nicht ganz ohne Risiken für die Gesundheit bleiben und so werfen enge Freunde nach und nach das Handtuch, sie wollen oder sie können ob ihrer zerschlagenen Glieder einfach nicht mehr. Allein Heiko bleibt seinen Randale-Idealen treu. Im Prinzip ist damit auch über die zentrale Schwäche des Romans schon viel gesagt. Es mutet durchaus kurz gegriffen an, wenn der Autor seinem Protagonisten jedwede Sehnsucht nach einer höheren Solidarität, nach sinnstiftender Zugehörigkeit abgehen lässt. Die vor Kampfeslust berstenden Frontlyriker des ersten Weltkrieges hatten zumindest zu Beginn ihren Spaß, Schutzschildbürger für Kaiser und Vaterland zu sein, die Freikorpsliteraten der zwanziger Jahre, die Schauweckers und Ballas ihren Glauben an die Wiedererweckung der Nation.  Bei dem eigentlich gar nicht mal so unhellen Heiko führt der Kampf dagegen ein Waisendasein, ist ein inneres aber gänzlich isoliertes Erlebnis.

Hochexplosiver Gemütszustand bleibt im Wesentlichen sich selbst überlassen und die Story damit zur relativen Flachheit verdammt. Mit Nazis will er, wenngleich er nichts dabei findet, Schwule zu klatschen, auch nichts zu tun haben. Mit dem Verweis auf familiäre Zerrüttungen und eine sich im Wesentlichen selbst kultivierende Perspektivlosigkeit wird auch tief in die Kiste gängiger  Erklärungsmuster gegriffen.

Die Sprache ist es, die das Tagebuch des inneren Grolls dennoch lesenswert macht. Trotzige Sarkasmen wie der Nachbar, der zum Herumkrakeelen seine Visage über den Gartenzaun schiebt oder ein Stillleben seines Onkels Axel, wie er sich in seiner „Schnellficker-Jogginghose“ auf einem kurz vor dem Spagat stehenden Stuhl herumfläzt sind einfach gelungen und machen Lust auf mehr. Wie die Karabinerhaken klinken sie sich an dem geheimen Spott-Voyeurismus des Lesers fest und trösten sogar über die Dichte der  Kraftausdrücke  und Unappetitlichkeiten hinweg. Über die durchaus gekonnten dramatischen Zuspitzungen hinaus halten sie Neugier und Leselust am Laufen und schaffen es, das Poesiealbum der fliegenden Fäuste tatsächlich in Literatur zu verwandeln.

 

312 Seiten


Illustrated by Aufbau Berlin

Das siebte Kreuz

51W1oiNw2DL._SX302_BO1,204,203,200_Deutschland 1937: Im Konzentrationslager Westhofen bei Worms lässt der Kommandant aus Platanen sieben Kreuze errichten, um daran sieben geflohene Häftlinge nach erfolgter Gefangennahme als abschreckendes Beispiel zur Schau zu stellen. Einer der Flüchtlinge ist Georg Heisler, ein kommunistischer Aktivist, der sich nun auf die Suche macht nach alten Freunden und Verbindungen, die es ihm ermöglichen, das Land zu verlassen. Dabei muss er auf der Hut sein, denn in den zwei Jahren seiner Inhaftierung haben sich nicht nur die politischen Verhältnisse im Land geändert, sondern mit ihnen auch die Menschen; er weiß nicht, auf wen noch Verlass ist. Seine Verfolger, eine unheilige Allianz aus Polizei, Gestapo und SS, sind ihm stets dicht auf den Fersen und sie schrecken vor nichts zurück. Nach und nach werden alle Sträflinge gefasst, nur Georg, unterstützt von seinen Genossen und anderen aufrichtigen Menschen gelingt am Ende die Flucht nach Holland; das siebte Kreuz bleibt leer.

Dieser Roman gehört zu meinen Lieblingsbüchern, ich habe ihn unzählige Male gelesen. Anna Seghers erzählt darin Georg Heislers Geschichte in ruhigem und unaufgeregtem Stil, aber mit Worten von enormer Klarheit und Wichtigkeit. Sie vermeidet Plattheiten, auch die Nazis werden nicht als unmenschliche Monster dargestellt, sondern als die feigen Dummköpfe, die sie waren. Die Autorin weiß wovon sie schreibt, war doch auch ihr eigenes Leben geprägt von Flucht vor den Faschisten und Exil in fremden Ländern. Der Roman zeichnet ein beklemmendes Bild Deutschlands während der Hitler-Diktatur in einem Klima von Misstrauen und Bespitzelung, wo die Grenze zwischen Gut und Böse mitunter innerhalb einer Familie verläuft und nicht einmal Eheleute sicher sind, ob sie einander vertrauen können. Ebenso ein Thema ist die Entfremdung der Kinder von ihren Eltern durch die perfide Gehirnwäsche in den verschiedenen Nazi-Organisationen.

Dennoch ist es ein optimistisches Buch, es zeigt nämlich Menschen, die sich auch durch schlimmste Misshandlungen nicht zerbrechen lassen und andere, die, obwohl sie durch die Begegnung mit dem Staatsfeind in einen tiefen emotionalen Zwiespalt gestürzt werden, ohne nachzudenken das Richtige tun, weil sie ihre Anständigkeit nicht verloren haben. Nicht zuletzt Georg selbst – in seiner Jugend noch ein unbekümmerter Frauenheld – reift durch die Erfahrungen im KZ und auf der Flucht, er lernt, was wirklich wichtig ist; die schrecklichen Ereignisse bringen in ihm das Beste zum Vorschein. Es handelt sich somit auch um einen Roman über Freundschaft und Treue, über „die Entschleierung der Menschen, das Durchblitzen ihres wahren Gesichts“. „Das siebte Kreuz“ wurde unter der Regie von Fred Zinnemann erfolgreich verfilmt (Hauptrolle: Spencer Tracy), wer Gelegenheit hat, sollte sich dieses Werk nicht entgehen lassen. Schließen möchte ich mit dem Motto des Romans von Anna Seghers:

Dieses Buch ist den toten und lebenden Antifaschisten Deutschlands gewidmet


Genre: Politische Romane
Illustrated by Aufbau Berlin

Magnolienschlaf

Zwei Frauen, eine junge Russin und eine neunzigjährige Deutsche, sind aufeinander angewiesen: Jelisaweta braucht das Geld, Wilhelmine ist nach einem Sturz von der Leiter pflegebedürftig. Einfühlsam und umsichtig nimmt sich die Junge der dankbaren Alten an, doch plötzlich, nach einem Telefonat mit Rußland, beginnt die Katastrophe. Wilhelmine kann die Russin nicht mehr ertragen. Hilflos sucht sie das Mädchen aus dem Haus zu treiben und kann doch ohne sie nicht sein. Längst verdrängte Erinnerungen drohen sie zu überwältigen. Krieg, Angst, Verlust ergreifen Besitz von ihren Gedanken und Gefühlen und lassen keinen Dialog zu. Jelisaweta ist ratlos, aber auch entschlossen, ihre Rechte zu verteidigen. Immer wieder versucht sie die alte Frau zum Einlenken zu bewegen oder zumindest eine Erklärung zu bekommen. Was wirft sie ihr vor? Sie hat doch nichts Unrechtes getan, sich wirklich nach Kräften um die alte Dame bemüht. Froh ist Jelisaweta gewesen, der gespannten Atmosphäre daheim in Smolensk zu entkommen, wo ihre Mutter nach dem Tod der Großmutter den Boden unter den Füßen noch weiter verloren hat. Daß ihre Tochter ausgerechnet bei den Deutschen ihr Leben bestreiten will, verdrießt sie sehr. Und nun machen sich auch hier Beklemmung und Ratlosigkeit breit, verdrängen alle Freude an der ersehnten Freiheit. Wie nur, wie soll es weitergehen?
Eva Baronsky debütierte im Jahr 2010 mit dem originellen und hintersinnigen Roman „Herr Mozart wacht auf“. Nun präsentiert sie ein ganz andersartiges Werk, das durch seine Intensität und Dramatik besticht. Sie bindet ein Stück europäischer Geschichte in zwei unterschiedliche Lebenswege ein und inszeniert ein faszinierendes Kammerspiel von großer Eindringlichkeit. Diese Autorin verfügt über ungeahnte Facetten an Themen und Charakteren und begeistert ihre Leser mit magischen Geschichten.


Genre: Romane
Illustrated by Aufbau Berlin

Prinzessinnensuite

Was für eine Frau! Sprühend vor Energie, überquellend von Geschichten, strahlend, charmant und auch im Alter auf besondere Weise schön. Zu ihrem 90. Geburtstag hat Ilse Eliza Zellermayer sich selbst und die Leserschaft mit einem Buch beschenkt, das aus dem alten und „mitteljungen“ Berlin sowie aus der Welt der Musik erzählt.
1920 geboren, wuchs sie im vornehmen Hotel am Steinplatz aus, das ihr Vater, der Bankier Max Zellermayer, aufgebaut und zugleich als Wohnstatt für seine nun fünfköpfige Familie auserkoren hatte. Von klein auf hatte die Autorin Umgang mit verschiedensten Gästen aus vielen Ländern, mit emigrierten russischen (wie zum Beispiel den Nabokows) und polnischen Adligen, mit Künstlern und Gelehrten, die hier immer wieder und oft langfristig Aufnahme fanden. Unterhaltsam und aufschlußreich schildert sie den Hotelalltag, die großen und kleinen Marotten der Gäste und wie liebevoll die Zellermayers und ihre Mannschaft sich um ihr Wohlergehen kümmerten. Der Geiger Yehudi Menuhin gehörte zu den treuesten Gästen: Bereits in den Goldenen Zwanzigern war das Wunderkind am Steinplatz zu Gast und kam auch nach dem Krieg immer wieder gern zurück.
Das Hotel war der Fixpunkt der Familie Zellermayer und blieb dies trotz schwerer Schicksalsschläge wie der Tod des Vaters 1933 und die Jahre von Nationalsozialismus und Krieg.
Anekdoten berichten vom schwierigen Neuanfang, von Ziege Beate, die für die Gäste Milch und Sahne lieferte, von Tomaten auf dem Dach und Champignonzucht im Keller. Bruder Heinz setzte sich erfolgreich für die Aufhebung der Sperrstunde ein und wurde später Herr eines ganzen Gastronomie- und Hotelimperiums zwischen Berlin und Paris, während Bruder Achim sich unter anderem beim Aufbau der Künstlerkneipe Volle Pulle verwirklichen konnte, die dem Hotel am Steinplatz angeschlossen war und Stammgäste wie Gottfried Benn, Heinrich Böll oder Günter Grass anzog.
Ilse Eliza Zellermayer wirkte über Jahrzehnte im Familienbetrieb mit, verfolgte aber stets auch eigene Wege. Als ihr die Karriere als Opernsängerin verwehrt blieb, setzte sie sich mit Leidenschaft und Charisma für andere Sänger ein und eröffnete als erste Frau in Deutschland eine Opernagentur. Sie lebte und litt mit ihren Künstlern und managte deren Auftritte. Durch ihre zahlreichen Kontakte und ihre Weltläufigkeit, durch ihr Wissen um die Musik und ihre Einfühlsamkeit war ihre Arbeit außerordentlich erfolgreich. Mit ihrer Unterstützung eroberten Luciano Pavarotti, Mirella Freni, Giuseppe Di Stefano oder Anna Moffo die großen Opernbühnen der Welt.
Über allem aber steht bei Ilse Eliza Zellermayer die Liebe, im beruflichen wie im privaten Leben. Zweimal war sie verheiratet, doch die wahre Liebe fand sie in dem Pianisten, Organisten und Komponisten Jean Guillou, mit dem sie Anfang der sechziger Jahre liiert war und der sie wie durch ein Wunder kurz vor ihrem 88. Geburtstag wiederfand. Mit ihm verbindet sie eine wunderbare Vertrautheit, die sie glücklich macht.
Der Aufbau Verlag präsentiert mit diesem Buch das charmante Zeitzeugnis einer eigenwilligen Frau, das durch diverse diskret-indiskrete Klatschgeschichten seinen zusätzlichen Reiz bekommt.


Genre: Erinnerungen
Illustrated by Aufbau Berlin

Herr Mozart wacht auf

Kaum hat ihn der kalte Bruder Tod zu sich geholt, wacht Herr Mozart wieder auf – in einer chaotischen WG am Rande von Wien. Nichts ist mehr so wie vorher, nur der alte Stephansdom steht noch an der alten Stelle, sonst ist alles fremd. Menschen, Straßen und Gepflogenheiten. Wie soll er hier zurechtkommen? Der polnische Straßenmusiker Piotr bietet dem verwirrten Compositeur für gelegentliche Klavierbegleitung Kost und Logis, registriert aber schon bald, daß dieser Pianist ein genialer Musiker ist. Ansonsten jedoch stellt er sich ziemlich tollpatschig an, weiß weder mit Technik noch mit der U-Bahn umzugehen.
Als Mozart merkt, daß er quasi 200 Jahre übersprungen hat und niemand ihm diese Zeitreise glaubt, nennt er sich kurzerhand Wolfgang Mustermann und studiert beharrlich die neue Welt. Vor allem die Musik aus dem Mechanikum hat es ihm angetan. Begierig nimmt er alle Töne in sich auf, staunt über neue Strömungen ebenso wie über Altbewährtes und freut sich, daß die meisten seiner Widersacher und Rivalen vergessen scheinen. Den Nachfolgern lauscht er sehr aufmerksam: Apart findet er den lyrisch-milden Franz Schubert, recht ichsüchtig den schroffen Beethoven, der sich einen blauen Teufel um sein Publikum zu scheren scheint, oder ein wenig langatmig den ansonsten harmonischen Chopin.
Den eigentlichen Zweck seiner Wiedergeburt aber sieht der Zeitreisende in der Vollendung seines Requiems, dessen „stümperhafte“ Fortschreibung durch einen seiner Schüler er für unerträglich hält. Immer wieder ringt er sich weitere Teile des Schicksalswerkes ab. Was er sonst schreibt, stößt auf unterschiedliches Interesse: Ein Musikverleger ist perplex, empfiehlt ihm aber, sich „von Mozart freizumachen“, die Besucher eines Jazzclubs hingegen bejubeln unvoreingenommen Mustermanns geniale Improvisationskraft. Endlich entdeckt ihn ein erfahrener und wohlgesonnener Musikinstrumentenhändler und führt ihn anläßlich eines Benefizkonzerts in die gehobene Wiener Gesellschaft ein.
Doch Mustermann hat indessen Wichtigeres zu regeln: Ihm ist die Liebe begegnet, die ihn gleichermaßen beglückt und schmerzt. Mit Anju verbindet ihn vom ersten Augenblick an die innigste Seelenverwandtschaft, doch als er ihr seine wahre Herkunft offenbart, hält sie ihn für geisteskrank. Verzweifelt irrt er durch die Stadt, verursacht einen Verkehrsunfall und kommt ins „Tollhaus“. Seiner Mission aber bleibt er treu.

Unser modernes Leben mit den Augen einer anderen Zeit zu betrachten, ist an sich schon vergnüglich und kurzweilig, denn „Fuhrwerke ohne Pferde, Öfen ohne Feuer, Musik ohne Instrumente, Kaffee ohne Herdstelle“ sind nur für uns so selbstverständlich. Tiefe und Emphase aber erreicht Eva Baronsky vor allem durch die einfühlsame Darstellung der Musik als Medium zwischen allen Zeiten und Kulturen. Auf wundersame Weise findet ihr Mozart dank seines außergewöhnlichen Musikverständnisses einen erstaunlichen Anschluß an die Neuzeit, auch wenn ihn sein Temperament und seine überschäumende Phantasie des öfteren in Konflikt mit den Notwendigkeiten des Alltags geraten lassen.
Das unterhaltsame Debüt mit Hintersinn aus dem Berliner Aufbau Verlag macht gespannt auf weitere Werke aus der Feder von Eva Baronsky!


Genre: Romane
Illustrated by Aufbau Berlin

Der Sterne Tennisbälle

Endlich kann man seine Rache leben, denkt der Leser bei der Lektüre dieses Buches, der mit Nedd Madstone fiebert, der fantastisch aussieht, der gute Noten im College hat, einen Vater im Unterhaus, eine feste Freundin, mit der er auch richtig guten Sex hat und der dann lesen muss, wie Nedd Madstone übelst mitgespielt wird, als die Polizei Rauschgift bei ihm findet, obwohl er nie kokst, der dann auch noch, zu allem Unglück, einen geheimnisvollen Brief einer Dame übergeben muss und man Nedd dafür die Rippen bricht und anschließend den Arm auskugelt. Und alles nur, weil sein charmantes Auftreten ihm nicht nur Freunde, sondern Neider und zwar Nedds drei beste Freunde bringt. Des Lesers Wut wird über diese Ungerechtigkeiten angeheizt, man fiebert mit, ärgert sich über die Gemeinheiten, die Nedd angetan werden.

Die Verursacher des Ärgers: Ashley, von Ängsten zerfurchter Emporkömmling, der vor Neid zerfressen wird, Rufus, rauschgiftsüchtig, und der liebeskranke Gordon, der scharf auf Nedds Freundin ist und sie ihm nicht gönnt. Und der Leser, der mit Nedd fiebert, hofft, dass ihm nichts mehr passieren wird, als er kaputtgeschlagen auf ein Schiff verfrachtet wird und wie der Leser weiter Horrornachrichten lesen muss (und die Wut sich immer mehr in ihm aufbaut), wie ihm Psychopharmaka gespritzt werden, als er auf einer schwedischen Insel, auf der eine Nervenklinik für ausländische »Kranke« unterhalten wird (und der Leser denkt, so etwas gibt es doch nur in totalitären Staaten) und Nedd nun 18 Jahre seines Lebens dort verbringen wird, bis ihm eines Tages eine spektakuläre Flucht gelingt, die er dem Tod seines dort kennengelernten Freundes verdankt, der ihm auch den Weg zu seinem großen, zukünftigen Reichtum zeigt, und der Leser weiß, der Graf von Monte ist wieder gekommen und setzt nun seine Gerechtigkeit in die Tat um. Und der Leser muss erfahren, dass alle Beteiligten, auch die Leser, mitnichten ihres eigenen Glückes Schmied sind, sondern lediglich »der Sterne Tennisbälle«.


Genre: Thriller
Illustrated by Aufbau Berlin