Vitam impendere vero
Zum Spätwerk von Lion Feuchtwanger, einem der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller im vergangenen Jahrhundert, zählt der 1952 erschienene Roman «Narrenweisheit», dessen Untertitel «Tod und Verklärung des Jean-Jaques Rousseau» seine Thematik verdeutlicht. Er gehört zur Gattung der historischen Romane, mit denen der Autor, beginnend mit «Jud Süß», weltweit großen Erfolg hatte, und umfasst zeitlich die letzten Monate vor dem Tod des großen französischen Denkers und Schriftstellers 1778 bis zur feierlichen Überführung seines Leichnams ins Pariser Panthéon im Jahre 1794.
Bereits der Titel spielt darauf an, dass Rousseau, der im Roman fast nur Jean-Jaques genannt wird, neben seiner unbestrittenen Weisheit auch ein Narr war mit wahnhaften Ängsten und psychotischen Abwehrreaktionen. Unbeholfen zudem, was seine privaten Lebensumstände betraf, sein Unvermögen beispielsweise, aus seinen Werken den ihm gebührenden finanziellen Nutzen zu ziehen. Wie so oft in seinem Leben war er auch 1778 nach heftigen Querelen in Paris wieder mal auf die Gastfreundschaft eines seiner Gönner und grenzenlosen Bewunderer angewiesen, des Marquis de Girardin, Seigneur von Ermenonville. Der aber konnte sich nicht lange im Ruhme des gefeierten Gastes sonnen, Rousseau verstarb ganz plötzlich, nach offizieller Version an einem Schlaganfall. Feuchtwanger, der sein Buch einen «Detektivroman mit historischem Hintergrund» nannte, ergänzt die Fakten jedoch um eine Mordgeschichte, der Liebhaber von Rousseaus Ehefrau Théresè habe den berühmten Denker aus Geldgier erschlagen, der Mord aber wurde aus den verschiedensten Gründen vertuscht und als haltloses Gerücht abgetan. Ebenfalls in die Handlung eingebettet ist die Romanze von Girardins Sohn Fernand mit Gilberte, eine Jugendliebe, die sich erst auf vielen Umwegen zu erfüllen scheint, wenn da nicht die Einberufung zur republikanischen Armee wäre, die ein mögliches Happy End für die Beiden letztendlich in Frage stellen könnte.
Das Besondere dieses stilistisch ausgezeichneten Romans ist die Fülle von historischen Ereignissen und berühmten Zeitgenossen, die hier eingebaut sind und die eigentliche Handlung immer wieder überlagern, die oft sogar im Zentrum des Erzählten stehen. Man erlebt als Leser den Beginn der französischen Revolution aus der Perspektive der Aristokratie, als deren geistiger Vater Rousseau angesehen wird, von Robbespiere, der ihn in Ermenonville besucht, grenzenlos bewundert. Im Verlauf der Revolution jedoch werden auch Girardin und sein Sohn denunziert und geraten ins Visier des republikanischen Tribunals, Fernand landet in Untersuchungshaft, sei Vater steht unter Hausarrest, beide trotz ihrer republikanischen Gesinnung. Gilberte, die durch Heirat in den Adelsstand erhoben wurde, muss sogar erkennen, dass die frisch errungenen Privilegien nun eher nachteilig, sogar hochgefährlich sind in Zeiten der Revolution mit ihren unvorhersehbaren Auswüchsen an Gewalt. Rousseaus eigentlich ja unpolitische Thesen erweisen sich als widersprüchlich und fragwürdig angesichts des jakobinischen Terrors, den er mit heraufbeschworen hat, Fernands einst felsenfeste Überzeugungen jedenfalls sind gewissen Zweifeln unterworfen.
Der flüssig lesbare Roman veranschaulicht durch seine historische Thematik, trotz mancher fiktiven Ergänzungen, recht eindrucksvoll und ohne wissenschaftlichen Anspruch die Wirkungen des Werkes von Jean-Jaques Rousseau auf den Gang der Geschichte. Insoweit bietet die Lektüre neben ihrem Unterhaltungswert en passant eine Auffrischung, wenn nicht sogar einen nicht unbeträchtlichen Zugewinn an Geschichtswissen für den Normalleser, bei mir war es jedenfalls so. Weit mehr als der ihm zugeschriebene, wirkmächtige Aufruf «Zurück zur Natur» überzeugt mich Rousseaus Wahlspruch «Vitam impendere vero», sein Leben der Wahrheit weihen scheint mir ein nachahmenswerter Vorsatz, auch wenn genau das, wie wir in diesem Roman erfahren, allzu schnell als Narretei abgetan wird.
Fazit: erfreulich
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