Frau Krechels Stärke sind präzise Beschreibungen nach aufmerksamer Beobachtung. Zur Verleihung des Büchner Preises nennt der Tagesspiegel dies die „Innenansicht der Klassenverhältnisse“. Und Klassen sind nicht nur Herkunfts- oder Wohlstandsklassen, auch die von Rassen, Religionen oder politischen Meinungen werden beachtet.
Es beginnt mit Goethes „Unterhaltung deutscher Ausgewanderter“ von 1773, als die französische Revolutionsarmee auch rechtsrheinische Gebiete erobert hatte. Goethe fürchtete um seine Mutter in Frankfurt und um den Besitz.
Darum geht es in den Gesprächen dieser Aristokraten: Das Elend nicht ausstellen!
Manchmal übernimmt Krechel die Beobachtungen anderer Schriftsteller, die zeigen, welches Elend der Verlust von Heimat und Sprache für die Betroffenen bedeutet.
Das Buch ist ein kleines Taschenbuch mit gut 160 Seiten, zum stolzen Preis von € 18, die es dann auch wert ist. Die 24 Kapitel sind mit jeweils einem Substantiv umschrieben. Jedes Kapitel stellt ein Schicksal dar, aus verschiedenen Epochen, Gegenden und politischen Systemen.
Das zu Karl Marx heißt „Verdächtigung:“ Als die preußische Zensur den Autor der „Rheinischen Post“ verfolgt, geht es, wie bei Preußens üblich, nicht nur um Texte, sondern um die ganze Person. Marx flieht nach Paris, genießt die dortige Pressefreiheit und publiziert weiter.
Der preußische König schickt Wilhelm von Humboldt als Gesandten nach Paris und dieser erreicht, dass er Frankreich verlassen muss, es geht über Belgien nach London. Sie beschreibt auch seine Geldnot, und wie sie Marx und seine Familie anderen Menschen, die prekär lebten, näherbringt.
Beim Kapitel „Ordnung“ geht um die Einwanderungsbehörde der USA. Sie hatte auf Ellis Island ihre Zelte aufgeschlagen. Einwanderer, meist mit dem Wunsch nach einem „better life“, werden ärztlich untersucht und nach 9 Kategorien aussortiert. Tuberkulose steht an erster Stelle, Hinken oder Kopfhaut sind auch dabei.
Als ich mit 1964 Jahren als Austauschschülerin in die USA einreiste, brauchte ich eine Röntgenaufnahme der Lunge, nun verstehe ich das besser…
Frau Krechel geht es auch hier nicht um die Beschreibung eines Ordnungsprinzips: Sie fragt vor allem, wie es für die Abgewiesenen weiterging.
Wenn sie sich mit der aktuellen BRD-Einwanderungspolitik auseinandersetzt, geht es erst um die Motive: der Wunsch nach einem „better life“ gilt gar nicht. In den Kapiteln „Hürden“ und „Begriffe“ zerlegt sie die Wortschöpfungen, die entwickelt werden, um Hürden auszugestalten: „Vier Arten von Freiheitsentzug sieht das Aufenthaltsrecht vor“: die dann aufgeführt werden. Oder: „Der Abzuschiebende heißt in der juristischen Fachsprach Schübling. So heißt auch eine Allgäuer und Vorarlberger Wurstsorte.“
Wo überall wurde oder wird geflohen oder abgeschoben? Es geht um Armenier, deutsche Kommunisten, die in die Sowjetunion fliehen und dort dann wieder verfolgt werden, boat people, Shanghailänder.
Wie wurde die RAF bekämpft? Frau Krechel wurde einmal selbst für Adelheid Schulz gehalten und in Gewahrsam genommen, danach zog es sie nach New York, wo sie als Fremde lebte.
Der Titel ist von Thomas Mann entliehen, dem Migranten, der aus Nazideutschland floh und dann im Radio über die Verbrechen aufklärte. Im Kapitel „Vorwurf“ berichtet sie von der Ablehnung, die Migranten erfuhren, wenn sie in die BRD zurückkehrten. Da merke ich, dass ich in denselben Jahren aufwuchs: auch bei mir Hause waren es Feiglinge, die gar nicht mitreden könnten, weil sie nichts erlitten hätten. Carl Zuckmayer, Willy Brandt, Ernst Reuter werden zitiert. A. und M. Mitscherlich sprechen „vom Neid auf die größere Schuldlosigkeit“. Und was gab Adenauer zum Besten?
Ein wichtiges Buch zu einem Thema, dessen Bedeutung nicht abnimmt. Wegen seiner Empathie und klaren Sprache ist es trotz der Schwere der Leben im Exil gut zu lesen.