Hingabe

Im Zentrum Dorothea Schafraneks Buch steht der Atem. Nicht, wie seit 5o Jahren in zeitgeistiger Literatur geklont: der Mensch. Welcher dann sich auch gleich über die Tiere, die Pflanzen und die gesamte Welt stellt, und sie kaputtmacht. Nein, Schafranek folgt den Rhythmen der Natur. Und dem Atem.

Dieser hat auch seine Wichtigkeit im Yoga, im Pranayama, der Lenkung des Atems, und damit der Lebensenergie, denn allem Leben liegt das Prana zugrunde, was mittlerweile zwar in alternativer Medizin, aber weder in Literatur noch der Schulmedizin ankam.

Der Atem ist derart zentral in Schafraneks Gedichten, dass selbst ihre Interpunktionen eher diesem, als den grammatikalisch gewohnten Regeln folgen. Das Leben ist der Vielschreiberin lieber, als das Korsett der Gebote, was sich ebenfalls in den Themen äußert, die sie aufgreift. Der Atem ist der Rhythmus ihrer Arbeit. Er kann ein Sog sein, ein Strudel, der unter die Oberfläche zieht, wo man tiefer blickt, als an der Oberfläche möglich, wo man mithechelt mit all den Zeitgenossen, die sich Wissenschaft, Technik und Konsum hingeben. Doch unter der Oberfläche, tief und tiefer gezogen, kann auch die Atemlosigkeit einsetzen, das Gefühl, ersticken zu müssen, bis der mitgerissene Leser wieder emporschnellt, aus der Tiefe, um etliche Erkenntnisse reicher, an der Oberfläche nach frischer Luft schnappend, und nun die Farben der Welt, den Ton des Lebens klarer wahrnimmt. Der Rhythmus, der dies Ergebnis zeitigt, ist wesentlicher als der „reine“ Versuch, Literatur zu verfassen, als immer und jederzeit eloquent und originell zu wirken.

Zu den Themen gehören speziell die Empathie, die als wichtiger geschätzt wird, als rein technisches, buchstäbliches Wissen, das nichts an der Welt zu ändern imstande ist, außer durch noch mehr Technik endgültig diese ins Verderben zu stürzen. Empathie, Sorge füreinander, Einfühlung sind die Medizin, welche die Welt, die Beziehungen der Menschen, die einzelnen zu heilen vermögen. Oft kreisen die Gespräche, die Geschichten im Buch um das Spiegelgesetz. Was am meisten am Gegenüber stört, ist das, was man an sich selbst verdrängt.

Immer wieder fordern die Protagonisten in ihren Texten auf, bei sich selbst zu forschen, den eigenen Anteil an Konflikten zu sehen, dadurch sich zu entwickeln. Gerade dass das Gegenüber die eigenen Taten spiegelt, ist die gewichtige These ganzheitlicher Spiritualität. Mittels dieser Methode lassen sich exakt die verdrängten Impulse wahrnehmen, sie möglicherweise auch verarbeiten, jedenfalls aber bearbeiten, statt sie auf andere zu projizieren und dort abgrundtief zu hassen. Meinem Wissen nach findet man in der Gegenwartsliteratur solch tiefschürfende Erkenntnis nirgends.

In der aktuellen Spiritualität ist sie Basis, allerdings auch noch zu diskutieren. Es gibt Situationen, in denen das Spiegelgesetz nicht anzuwenden ist. In hierarchischen Verhältnissen kann der Überlegene zu leicht behaupten, die – gerechtfertigte – Kritik an ihm sei nur Projektion: wir fänden uns in mittelalterlichen Missverhältnissen wieder, wo der Priester, Meister, Guru dem nach Freiheit Strebenden, diese verwehrt. Die Ebenen dürfen nicht verwechselt werden. Was sich politisch, psychologisch oder gewerkschaftlich klären muss, auf jenen Ebenen bearbeitet zu werden hat, darf nicht auf die seelische getragen werden. Dort geht es um spirituelles Wachstum, dort ist das Spiegelgesetz unerlässlich. Wenn die Mutter der Tochter Vorhaltungen macht, sie kritisiere zu Unrecht, solle in sich selbst blicken, kann darin ein Funken Wahrheit glimmen, aber auch ein riesiges Feuer des Hasses, der Lüge und der Eifersucht lodern.

Bei sich selbst natürlich mag dieses Hineinblicken in sich Wunder bewirken. Im Text „Grausamkeit“, in dem die Protagonistin sich fragt, warum die Tochter die nun alte Mutter quasi abschiebt, fällt es der Reflektierenden wie Schuppen von den Augen: einst schob sie das hilflose Wesen auf die Seite, weil sie in ihrer Arbeit aufgegangen war. Der Zorn schwindet, das Gefühl der Hilflosigkeit, die quengelnde Mutter kann sich vielleicht neu an ihre Tochter annähern.

In Paarbeziehungen allerdings, die in „Hingabe“ massiv thematisiert sind, besteht die Gefahr für Frauen, statt den eigenen Anteil bei Konflikten zu sehen, bei sich Schuld zu suchen. Dazu neigen Frauen. Dann aber wäre die Anwendung des Spiegelgesetzes nur die Fortführung christlicher Leidenstradition, die vor allem die Frauen zu üben hatten, während die Männer sich der Doppelmoral, der Herrschaft und den Kriegen hingaben. Schafranek pocht derart vehement auf die Neubewertung der Geschlechterrollen, ohne diese aus Bequemlichkeit, wie es heute Usus ist, aufzugeben, dass oft das Wachstum, das Erkennen der Muster der Beziehung wichtiger scheint, als der Fortbestand einer verlogenen Liaison.

Lieber erkennen, was frau sich zu oft gefallen lässt, wo sie zu geduldig, zu nachgiebig war, zu sehr indirekt lenken wollte, als dass der Mann aus seinen Irrtümern lernen konnte. Dann muss frau die Beziehung, die ja eigentlich keine war, abbrechen, bei aller Hingabe, zu der sie fähig ist, denn die Hingabe bezieht sich primär ja aufs Leben, nicht aufs naive Nachgeben einem Typen gegenüber, der seiner patriarchalen Prägung auch als „neuer Mann“, nicht entkommt. Bloß seine Infantilität und seinen Narzissmus für Weichheit und Mitgefühl hält. Empfindlichkeit hat aber mit Sensibilität nichts zu tun. Schafraneks Werk aber viel mit wahrhaft zeitgemäßer Literatur, die den Negativ- und Ausweglosigkeitsschund der gehypten Gegenwartsliteratur leuchtend in den Schatten stellt.

Manfred Stangl

Dorothea Schafranek: „Hingabe“ sonne und mond 2o21; Tb, 2o8 Seiten; ISBN: 978-395o4897-9-8


Genre: Kurzgeschichten
Illustrated by edition sonne und mond

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