Surrealer Eskapismus
Der Debütroman von Gianna Molinari mit dem Titel «Hier ist noch alles möglich» benutzt den Wolf als Symbol, – derzeit übrigens häufiger anzutreffen in deutschen Romanen -, er ist ein markantes Leitmotiv für die Verkörperung des freien, ungebändigten Lebens, wie es ähnlich zum Beispiel auch in Schimmelpfennigs Roman «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen» verwendet wird. Der Text des schmalen Bandes wird durch einige Dutzend Skizzen und Abbildungen grafisch ergänzt. Als erster Roman der jungen Schweizer Schriftstellerin hat das Buch auf Anhieb einige Preise errungen und wurde von Feuilleton und Leserschaft positiv aufgenommen. Während es bei Schimmelpfennigs eher trostloser Gesellschaftsbeschreibung im letzten Satz heißt: «Der Wolf war verschwunden», endet der rätselhafte, poetische Exkurs ins Unbestimmte hier mit dem Satz: «Die Falle ist bereit».
Eine junge, namenlose Ich-Erzählerin hat ihr bürgerliches Leben als Bibliothekarin radikal aufgegeben und als Nachtwächterin bei einer Kartonagefabrik angeheuert, die in ansehbarer Zeit allerdings geschlossen werden soll, sie wohnt dort provisorisch in einer schon leeren Fabrikhalle. Auf dem Firmengelände hat der Kantinenkoch anscheinend einen Wolf gesehen, daraufhin sind einige Tellereisen aufgestellt worden, die beiden Nachwächter sollen nun zusätzlich auch noch eine Fallgrube ausheben. Ein Kollege aus der Fabrik hat bei der Jagd vom Hochsitz aus undeutlich etwas vom Himmel stürzen sehen, dabei aber an eine Sinnestäuschung geglaubt. Wochen später wird dort im Wald eine Leiche gefunden, ein nicht identifizierbarer Afrikaner ist mutmaßlich bei seiner Flucht nach Europa – im Fahrwerksschacht einer Passagiermaschine – beim Landeanflug auf den nahegelegen Flugplatz aus seinem tödlichen Versteck herausgestürzt. Die neugierig gewordene Protagonistin besucht daraufhin den Flughafen, lernt dort einige Mitarbeiter kennen und schafft es schließlich, unauffällig das Fahrwerk einer solchen Verkehrsmaschine auf dem Rollfeld zu besichtigen, sie klettert unbemerkt probeweise sogar selbst in den Schacht hinein.
Mit den beiden Grundmotiven Wolf und Flüchtling entführt uns die Autorin in eine literarische Welt der Ungewissheiten. Ihr prägendes Sinnbild als überschaubares Refugium ist dabei die einsame Insel. Mehrfach stellt sie den verschiedenen Abschnitten ihres Romans einen kurzen Absatz zu diesem geradezu magischen Ort der Selbstvergegenwärtigung voran. Im Text heißt es an einer Stelle: «Warum bist Du eigentlich in die Fabrik gekommen, fragt Clemens. Du könntest anderes tun. Studieren, reisen. Warum bist Du hier, fragt er. Es gefällt mir hier. Das ist ein guter Ort. Hier ist noch alles möglich. Sogar Wölfe, sagt Clemens.» Die Ich-Erzählerin arbeitet in der Leere ihrer sinnlosen Nachtwachen an einem Universal-General-Lexikon, dessen Inhalt aus lauter Abseitigem besteht, damit ihre aberwitzige Gedankenwelt spiegelnd. Viel Raum nehmen dabei auch Fragen nach dem Innen und Außen ein, nach der begrenzten Welt ihrer Fabrikhalle und der komplizierten Welt da draußen.
In einfach strukturierten Sätzen werden die immer wieder verblüffenden Gedanken und Schlussfolgerungen der stoischen Protagonistin vor dem staunenden Leser ausgebreitet. Deren irritierende Schlichtheit aber sollte nicht über die gedankliche Tiefe hinweg täuschen, mit der hier existenzielle Fragen scheinbar naiv behandelt werden. Der das Unzuverlässige betonende Plot ist zudem geradezu minimalistisch auf das Wesentliche beschränkt, seine Sprache ist äußerst karg und direkt. Vermutlich würde ein Computer das Adverb «vielleicht» als das häufigste im Text ermitteln, meistbenutztes Satzzeichen dürfte in dieser irritierenden Prosa über die Krise des Individuums das Fragezeichen sein. Am Ende sitzt dann sogar ein leibhaftiger Wolf in der Fabrikhalle, – an den Löwen in Lewitscharoffs «Blumenberg» erinnernd -, und ist in Gianna Molinaris kontemplativer Geschichte als Symbol für den Eskapismus auch genau so surreal.
Fazit: lesenswert
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