Feminine Sinnkrisen
Für ihren neuen Roman mit dem Titel «Halbinsel» wurde Kristine Bilkau kürzlich der Preis der Leipziger Buchmesse für Belletristik verliehen, sehr zur Überraschung mancher Kritiker. Vor dem Hintergrund der zunehmend bedrohlicher werdenden Klimakatastrophe schreibt die Autorin «mit feinem Einfühlungs-Vermögen über eine vielfache Entfremdung, über Einsamkeit des Alterns und die Hoffnung auf Versöhnung», so die Jury. Mit dieser Thematik hat sie in den unruhigen Zeiten unserer Gegenwart offenbar zielsicher einen Nerv getroffen. Vor allem aber hat sie damit auch dem erklärten Selbstverständnis der Leipziger Jury entsprochen, mit literarischen Mitteln auf die schwierigen existentiellen Fragen unserer Zeit Antworten zu finden.
Annett, die 49jährige Protagonistin des Romans, lebt allein in einem bescheidenen Haus auf einer Halbinsel im Wattenmeer Nordfrieslands nahe Husum. Nach dem plötzlichen, frühen Tod von Johan, ihrem Mann, hat die Bibliothekarin ihre inzwischen 25jährige Tochter allein großgezogen. Linn hat Umweltökonomie studiert, Praktika in den Wäldern Schwedens und Rumäniens absolviert und arbeitet bei einer Beratungsfirma für Klimaschutz in Berlin. Als sie bei einem Vortrag in einem Tagungshotel einen Schwächeanfall erleidet, holt ihre Mutter sie nach einem kurzen Krankenhaus-Aufenthalt zur Erholung für eine Woche zu sich. Linn ist apathisch geworden, redet kaum ein Wort mit der Mutter und ist plötzlich völlig antriebslos. Es bleibt nicht bei der einen Woche, sie kündigt ihren Job, will ihre Wohnung in Berlin auflösen und bei der Mutter wohnen bleiben. Und sie nimmt auch noch, beruflich völlig unter ihrem Niveau, plötzlich sogar eine Stelle als Verkäuferin in der örtlichen Bäckerei an.
Dieser Sommer mit Linn, wie die Ich-Erzählerin sinniert, «diese Wochen zwischen Ende Mai und Mitte September», würden für etwas stehen, sie wären eine Zeit, nach der sie sich später mal zurück sehnen würde. Die Autorin beleuchtet sehr überzeugend den Generationen-Konflikt zwischen der Mutter kurz vor Beginn des Klimakteriums und der gerade erwachsen gewordenen Tochter. Während Linn einen Blackout erleidet und in eine tiefe Sinnkrise stürzt, bildet Annett sich ein, daran schuld zu sein, als allein erziehende Mutter versagt zu haben, weil Linn nun alles hinschmeißt. Annett kann den Tag nicht vergessen, als ihr Mann beim Joggen an einem Herzschlag gestorben ist. Für sie ist und bleibt es der Tag, an dem Johan «nicht zurückgekommen ist», denn wenn sie davon spricht, sagt sie niemals «gestorben ist». Sein Tod ist und bleibt ein Trauma für sie, und sie kann sich auch kaum trennen von Sachen, die ihm einst gehört haben. Was Linn ihr vorwirft als unnötige Geste nach so vielen Jahren, sie lebe deshalb am wahren Leben vorbei.
In weiten Teilen ist diese Geschichte als innerer Monolog erzählt, und immer wieder kommt darin ihr Mann vor, «hörte ich Johan sagen» heißt es da, jeweils kursiv gedruckt. Mit dem Titel spielt die Autorin darauf an, dass sie und ihre Tochter gesellschaftlich nicht abgeschottet auf einer Insel leben, ihre soziale «Halbinsel» ist nicht losgelöst von den gesellschaftlichen Konventionen. Mit zwei Wanderungen durch das Watt zu einer Hallig, der Extremform einer Insel, werden außerdem auch Bezüge zu der mental labilen Situation der beiden Frauen hergestellt. Sei es, dass Anett auf der ersten Wanderung im Watt einen Ziegelstein findet als Zeugnis einer einst im Meer versunkenen Stadt, eine Metapher für die Vergänglichkeit alles Irdischen, Oder dass, mitten im Watt, ein Pferd wegläuft, aber nicht instinktiv Richtung Ufer, sondern Richtung Meer, Metapher für die Desorientierung der beiden Frauen. Die aufkeimenden Konflikte zwischen ihnen haben ihre Ursache im Verdrängten, was die Autorin knapp, aber prägnant, ohne ein Wort zuviel, aber auch ohne eins zu wenig schildert. Ihr betont ruhiger, angenehm lesbarer Stil ist stimmig, der Plot bleibt jederzeit nachvollziehbar, und ihre Botschaft im Hinblick auf den Klimaschutz kommt gottlob ganz ohne den erhobenen Zeigefinger aus!
Fazit: erfreulich
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