Der Unruhestifter
by Ha Jin

Eigentlich ist die Story schnell erzählt. Ein chinesisches Ehepaar träumt von einem gesellschaftlichen Aufstieg, am besten mit dem Sprungbrett eines Studiums oder einer beruflichen Karriere in den USA. Die Ehefrau Haili bekommt früher eine Ausreisegenehmigung. Der Kontakt zum Ehemann Danlin in China wird – wie bei so vielen Long-Distance-Love-Affairs – spärlicher und als er schließlich auch in den USA ankommt, überreicht sie ihm die Scheidungspapiere.

Es gibt da einen anderen, amerikanischen Mann, der geschickterweise auch noch vermögend ist. Mit viel Mühe überwindet Danlin den Schock, aber auch die schwierige Assimilation an das neue gelobte Land. Als Journalist kommt er bei verschiedenen chinesischen Online-Magazinen unter, wo er irgendwann erfährt, dass seine immer schon karriereversessene Ex ein von ihr schon in China begonnenes Buch parallel in China und in den USA auf den Markt bringen will. Und nicht nur das. Obwohl er weiß, dass von dem Buch allenfalls ein paar schlecht geschriebene Kapitel existieren, prahlt sie in allen Medien mit den schon für eine Million Dollar verkauften Filmrechten. Er wittert tiefere Verflechtungen hinter der ganzen Aktion, recherchiert, gräbt und behält letztendlich recht.

Höchste chinesische Kaderkreise mischen sich irgendwann ebenso ein wie FBI und US-Heimatschutz. Lange klammert er sich daran, dass der Skandal in einem freien Land doch öffentlich gemacht werden muss, er doch nun einen amerikanischen Pass habe, dass ihm China doch eigentlich hier nichts mehr anhaben könne. Aber weit gefehlt. So bleibt er am Schluß allenfalls der moralische Sieger, aber eher im Sinne eines Don Quichotte. Die Gewinner im westlich-kapitalistischen Sinne sind mal wieder andere.

Auch wenn das aufgrund dieser Stichworte so scheinen mag. Nein, dieser Roman ist kein Thriller. Man kann ihn mit Fug und Recht als gesellschaftskritisches Werk bezeichnen, und zwar mit ganz viel internem Know-how und analytischer Schärfe.

Der Autor Ha Jin wurde 1956 in der nordchinesischen Stadt Jinzhou geboren. 1985 emigrierte er in die USA. Nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens kehrte er nicht mehr nach China zurück, 1997 wurde er US-Staatsbürger.  Inzwischen arbeitet er als Professor für englische Literatur in Boston. Man kann also konstatieren – der Mann weiß, worüber er schreibt.

Jin schafft es sowohl die historischen wie die aktuellen politischen Zustände in der Volksrepublik China in das Buch einfließen zu lassen. Manchmal tritt die Geschichte des Paares darüber fast in den Hintergrund, wenn er über die Bedeutung von Land, Staat und Patriotismus allgemein doziert, wobei er auch die westlichen Systeme nicht verschont – im kleinen persönlichen Denken wie im gesamt-gesellschaftlichen Wertesystem. Dass die Story selbst etwas lapidar ist und ganz offensichtlich mehr als Rahmen für diese Gesellschaftskritik herhalten muss, ist darüber verschmerzbar. Aber auch diesbezüglich  darf man Jin nicht ganz unrecht tun.

Der Umgang des Paares untereinander und mit ihren Freunden und Kollegen, ihre Emotionen, ihre Artikulation und Kommunikation, ihre Persönlichkeiten und Charaktere sind ein sehr gut und treffend gemaltes Bild von Menschen zwischen den Welten. Existentialismus zwischen zwei politischen und kulturellen Weltmächten. Ein Schachspiel, bei dem man nicht durchschaut, wer die Regeln bestimmt. Und wie könnte man das besser erfassen, als an einzelnen Individuen und Schicksalen.

Und noch etwas schafft Jin. Malt man sich aus, was heutzutage möglich ist und sicherlich tagtäglich geschieht, befällt einen eine ziemliche Unruhe. Ziel des Titels erreicht.


Genre: Belletristik, Politik und Gesellschaft, Romane
Illustrated by Arche Zürich

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