Der Nazi und der Friseur

hilsenrath-1Widerlegt Adornos Diktum

Bis auf wenige Ausnahmen erfolgt die literarische Aufarbeitung des Holocausts unverändert in ehrfürchtiger Betroffenheit aus der Sicht der Opfer. Edgar Hilsenrath verlässt mit seinem Roman «Der Nazi und der Friseur» diesen Konsens, er erzählt aber nicht nur aus der Täter-Perspektive, sondern benutzt unbeirrt auch noch die Form des Schelmenromans, damit genüsslich sämtliche gängigen Klischees zu diesem höchst sensiblen Thema ad absurdum führend. Obwohl von dem 1971 in den USA erschienenen, auf Deutsch verfassten Roman bereits mehr als 2 Millionen Exemplare verkauft waren, wurde das Buch damals von mehr als 60 deutschen Verlagen unter fadenscheinigen Gründen feige abgelehnt, ehe es 1977 schließlich doch noch auch in Deutschland erschien, – mit großem Erfolg übrigens, gleich vom Start weg!

In dem als Groteske angelegten Plot erzählt der SS-Mann Max Schulz seine Lebensgeschichte. Als Sohn einer Nutte verbindet den aufgeweckten Jungen eine innige Freundschaft mit Itzig Finkelstein, dem Sohn des jüdischen Friseurs in der Nachbarschaft. Itzig ist gut aussehend, blond und blauäugig, während der arische Max wie ein Jude aussieht, schwarzhaarig, mit Hakennase, wulstigen Lippen und schlechten Zähnen. Bei Itzigs Vater lernt er schließlich den Beruf des Friseurs und arbeitet dort jahrelang sehr erfolgreich. Als die Naziherrschaft beginnt, tritt Max in die SA ein und wechselt später zur SS. Er folgt im Krieg mit seiner Einheit der Wehrmacht in die besetzten Gebiete Russlands, um dort die Juden auszurotten. Max landet 1942 schließlich als Aufseher im KZ Laubwalde in Polen, wo er im Winter 1944 auf der Flucht vor der Roten Armee von der Front überrollt wird. Bis Kriegsende versteckt er sich bei der alten «Waldhexe» Veronja und macht sich schließlich mit einem Sack voller Goldzähne aus dem KZ auf den Weg nach Deutschland. Die polnischen Behörden halten ihn für tot, sie identifizieren eine Leiche im Wald als den gesuchten SS-Mann Max Schulz.

In Deutschland nimmt Max die Identität von Itzig Finkelstein an, der den Holocaust nicht überlebt hat. Er besorgt sich neue Papiere, lässt sich von einem verschwiegenen Arzt beschneiden, seine SS-Tätowierung wegoperieren und eine Auschwitznummer auf den Arm tätowieren. Mit den Goldzähnen als Startkapital macht er nun Geschäfte am Schwarzmarkt in Berlin, bis ihn seine «blonde Gräfin» bei einer riskanten Transaktion um sein gesamtes Kapital bringt. Als die Gründung eines jüdischen Staates greifbar wird, entschließt er sich, stets in Furcht vor seiner Enttarnung, zur Emigration nach Palästina. Er fasst schnell Fuß dort und baut den neuen Staat Israel mit auf, heiratet auch, macht einen Friseursalon auf und beteiligt sich an den Kriegen mit den arabischen Nachbarn. Immer wieder aber holt ihn die Vergangenheit ein, ist er in Gedanken Max Schulz und nicht Itzig Finkelstein. Am Ende geht er gar eine Wette mit einem pensionierten Amtsgerichtsrat ein: Er sei sicher, dass Max Schulz lebe. Aber keiner nimmt ihn ernst, er habe einen Dachschaden von den schrecklichen Erlebnissen, heißt es, – aus seiner Rolle kommt er nicht mehr heraus!

In dieser mit schwärzestem Humor gewürzten, spannenden Groteske berichtet Ich-Erzähler Max in betont naiver Sprache geradezu lapidar von dem Ungeheuren, das er miterlebt oder als Täter – ohne jedes Schuldgefühl – selbst begangen hat. Der durch einen realen Fall inspirierte Hilsenrath konterkariert mit seiner scharfsinnigen Verspottung des verlogenen Philosemitismus auch die gängige Erwartungshaltung der Leser. In absurden Szenen ist sein ambivalenter Romanheld eine gelungene Karikatur seiner selbst, man kommt aus dem Schmunzeln kaum noch heraus, erfährt aber en passant auch viel Wissenswertes über die jüdische Geschichte, von der Thora über den Holocaust bis zur Gründung Israels. Zwischen abstrusem Witz und blutigem Ernst hat Hilsenrath hier literarisch eine bewundernswerte Balance gefunden und Adornos berühmtes Diktum über Auschwitz widerlegt.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

3 Gedanken zu „Der Nazi und der Friseur

  1. Hallo Bories, ich freue mich, eine Rezension über dieses Buch gefunden zu haben, das der Booktube-Welt und Literaturbloggern heute leider wenig bekannt zu sein scheint.
    Es haben sich zwei Fehler in Deine Rezension geschlichen: Es gibt keine Identifizierung einer Leiche im polnischen Wald als Max Schulz. Im Gegenteil, Finkelstein, ehemals Max Schulz, verfolgt ja in den Zeitungen, dass er weiterhin gesucht wird.
    Hilsenrath war auch nicht von einem wahren Fall inspiriert. Er hat erst später erfahren, dass es einen SS-Mann gab, der sich nach dem Krieg erfolgreich als Jude ausgegeben hat.
    Auch würde ich nicht sagen, Max Schulz sei “ohne jedes Schuldgefühl”. Du schreibst ja selbst, dass die Toten ihn verfolgen, die Vergangenheit ihn einholt.

  2. Vielen Dank für den Kommentar. Zu den ‹Fehlern› ist anzumerken:

    1. Es gab sehr wohl eine Identifizierung! Mein berühmter Kollege Dieter Wunderlich, der für seine äußerst präzisen Inhaltsangaben bekannt ist, schreibt dazu (ich könnte es nicht besser, – er nennt sogar das Funddatum):

    «Im Dezember 1967 trifft Itzig Finkelstein den inzwischen über achtzig Jahre alten Amtsgerichtsrat Wolfgang Richter wieder und erinnert ihn an die Wette. Einige Zeit später verlangt Richter die Flasche Champagner, denn er hat herausgefunden, dass Max Schulz tot ist. Der Massenmörder erfror im Winter 1945 in einem Waldstück in Polen. Bauern fanden seine Leiche, die daraufhin am 2. Juni 1947 von den polnischen Behörden geborgen wurde. Itzig Finkelstein meint zwar, die Behörden hätten es sich zu leicht gemacht, aber Wolfgang Richter hält an seinen Erkenntnissen fest, und als Itzig ihm seine wahre Geschichte erzählt, befürchtet der pensionierte Amtsgerichtsrat, sein Gesprächspartner habe den Verstand verloren».

    © Dieter Wunderlich
    Quelle: https://www.dieterwunderlich.de/Hilsenrath-nazi-friseur.htm

    2. Bei meinen Recherchen bin ich seinerzeit auf diesen Hinweis gestoßen, aber da wir es hier ja nicht mit einem wissenschaftlichen Aufsatz zu tun haben, sondern mit einer Rezension, habe ich meine Quelle nicht mit abgespeichert. Mag sein, dass sie unzuverlässig war! Bei meinen heutigen Recherchen fand ich nichts, was mich widerlegt, – aber ist das wichtig?

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