Ad infinitum
Mit seinem 1988 erschienenen Romandebüt «Rubinsteins Versteigerung» hat Rafael Seligmann ein autobiografisch geprägtes Werk vorgelegt, Henryk M. Broder etwa hat damals ganz selbstverständlich dessen Ich-Erzähler Jonathan Rubinstein als Decknamen des Autors angesehen. Viele biografische Details des zwölf Jahre nach dem zweiten Weltkrieg mit seinen Eltern aus Israel nach Deutschland eingewanderten Seligmann sind jedenfalls in diesen Roman eingearbeitet, von dem heute kaum noch Notiz genommen wird. Ein Schicksal, dass er mit unendlich vielen anderen Prosawerken teilt, oft sehr zu Unrecht, wie sich an diesem Beispiel mal wieder zeigt. Denn dieser Roman enthält alles, was eine lesenswerte Lektüre ausmacht: Er ist bereichernd und auf amüsante Art unterhaltend.
Sein Thema nämlich, um mit dem Bereichern zu beginnen, ist das schwierige Verhältnis der Deutschen und Juden zueinander, als studierter Politikwissenschaftler und Historiker sei dies seine «Mission», wie Seligmann es einmal formuliert hat. Dabei kritisiert er beide Seiten schonungslos, entblößt gegenseitige Vorbehalte als Überheblichkeit und in der Regel auch als grenzenlose Dummheit. Er polarisiert damit zwangsläufig bei dem Versuch, wenn nötig durch Streit die schreckliche Vergangenheit aufzuarbeiten, weil akademische Debatten allein seelische Verletzungen bei Tätern, Opfern und auch bei deren Nachkommen nicht heilen könnten. Der nichtjüdische Leser bekommt ungewohnte Einblicke in die Mentalität und Denkweise deutscher Juden der Nachkriegszeit, insbesondere verkörpert durch «Esel», wie Jonathan seine unbeirrbar orthodox denkende Mutter mit Kosenamen nennt, die allem Deutschen mehr als skeptisch gegenübersteht und damit ständigen für böse ausufernden Streit sorgt.
Bei seinem Romanerstling hat der Autor diese Thematik in eine Handlung eingebaut, die in lockerer Weise verschiedene Facetten des problematischen Verhältnisses aufzeigt, äußerst geschickt und unaufdringlich gespiegelt an den Schul- und Liebesnöten seines Helden. Er beschreibt dessen Erlebnisse in München, wenige Monate vor seinem Abitur im Jahre 1969. Es beginnt gleich virtuos und witzig, als Jonathan seinen Platz im Stuhl-Halbkreis direkt neben der unkonventionellen neuen Deutschlehrerin an seine Mitschüler versteigert, das Höchstgebot liegt am Ende bei hundert Mark. «Rubinsteins Versteigerung» ist nicht nur titelgebend für diese turbulente Geschichte, sie ermöglicht ihm auch seinen ersten Bordellbesuch, wobei die erhoffte Initiation des immerhin schon 21jährigen scheitert, wegen Ladehemmung, könnte man sagen. «Umsonst im Puff» ist deshalb dieses zweite von 34 Kapiteln des relativ kurzen Romans überschrieben. Es schließen sich weitere missglückte Versuche des testosterongesteuerten Jünglings mit standhaft bleibenden, jüdischen Mädchen an, denen von ihren Eltern Keuschheit vor der Ehe als höchstes Gut so nachhaltig eingetrichtert worden ist, dass all sein Charme nichts ausrichten kann. Sogar seine Deutschlehrerin wäre beinahe schwach geworden bei ihm, aber eben nur beinahe. Bis er endlich im Englischen Garten ein deutsches Mädchen kennenlernt, mit dem seine Mannwerdung dann glücklich gelingt.
In einem Extemporale beim Deutschunterricht schreibt Jonathan mal sehr lakonisch: «Die Aussagen des Romans ‚Der Untertan’ von Heinrich Mann sind heute ebenso aktuell wie vor sechzig Jahren». Und weiter: «…wessen Wille gebrochen wurde, kann selber nur gehorchen oder befehlen. In diesem Sinne wird in Deutschland eine Generation nach der anderen zu guten Untertanen erzogen – ad infinitum». Die Schatten der Vergangenheit werden schließlich auch beim überraschenden Ende übermächtig, ein sehr geschickter Handlungsaufbau, wie ich meine, mehr will ich hier aber nicht verraten, der Spannung wegen.
Fazit: lesenswert
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