Die rote Pyramide

Irgendwie kommt es mir so vor, als könne man einen Text des russischen Schriftstellers Vladimir Sorokin nicht langsam lesen. Grundsätzlich nicht. Ich weiß nicht genau, woran es liegt, hege jedoch den Verdacht, dass es etwas mit Sorokins Schreibgeschwindigkeit zu tun hat. Siehe auch die neun Erzählungen, die im Band “Die rote Pyramide” auf 190 Seiten versammelt sind. Im Original sind die Texte in verstreuten Medien erschienen; als die von Kiepenheuer & Witsch 2022 veröffentlichte Zusammenstellung gibt es sie nur im deutschen Sprachraum. Sorokin lässt jede Handlung zu einem anderen Zeitpunkt in der russischen Geschichte spielen – nach dem 2. Weltkrieg und während der Jahrzehnte danach, während des Kalten Krieges, im Putin-Russland. 
Sorokin ist eine der wichtigsten literarischen Stimmen der russischen Gegenwartsliteratur, an Putin und seinem Apparat arbeitet sich der Schriftsteller mit allen literarischen Mitteln ab. Weder produziert er dabei plumpe Satire noch eindimensionale Polemik. Literatur ist letztlich immer die Erzählung vom Menschen: Er glaube, der Mensch sei die höchste Lebensform, sagt Sorokin, allerdings eine sehr beängstigende. Das untersucht er nicht zuletzt in den Erzählungen in “Die rote Pyramide”, etwa durch einen Ausflug in die sowjetische Vergangenheit. “Der Tag des Tschekisten”: Mark und Iwan spielen den Tschekisten abwechselnd, indem sie sich einen sowjetischen Uniformmantel umwerfen und sich von ihrem Gegenüber verhören lassen: “Hast du Provokateure eingeschleust? … Hast du Geiseln genommen? … Warst du selbst an Massenerschießungen beteiligt?” Jede Frage beantworten sie mit Ja, ob man sich schäme, verneinen sie rundheraus. Bis plötzlich das Hin und Her aufhört und Mark eine Geschichte über sexuelle Nötigung und Ausbeutung in einem Pionierlager erzählt.
       Registerwechsel, Wechsel des Schauplatzes oder der Bewusstseinsebene können in Sorokins Erzählungen (und nicht nur dort) jederzeit auftreten. “Hiroshima” besteht aus fünf Szenarien, in denen jeweils zwei Menschen sich gegenseitig würgen. Fünf von ihnen erleben während des Würgeprozesses nichts Auffälliges. Die anderen fünf teilen miteinander eine Vision, in der eine nackte Frau über Asche, Ruinen und sterbende Körper schreitet und sich einiger frisch geborener Hundewelpen annimmt. In diesen Visionen zeigt Sorokin eine kollektive Angst oder eine kollektive Heimsuchung: wie im Fall der titelgebenden roten Pyramide. Jura, der Protagonist der Erzählung, kann die Pyramide – nachdem er vor Jahrzehnten zum ersten Mal von ihr erfahren hat – erst im Moment des Todes sehen. Ihre Grundfläche nimmt den gesamten Roten Platz ein. Von Lenin in Gang gesetzt, verstrahlt sie das rote Rauschen, in dem die Menschen versinken, “das rote Rauschen deckte sie alle zu”. Die Erzählung “Lila Schwäne”, übrigens eine durch die aktuellen Geschehnisse aufgefrischte Satire auf das von Waffen starrende Putin-Russland, besteht aus einem Ineinander von Träumen. Aus irgendeinem Grund sind die russischen Atomsprengköpfe in Zuckerhüte verwandelt worden. Eine Abteilung Funktionär:innen aus unterschiedlichen Bereichen pilgert zu dem wundertätigsten Eremiten des Reiches, um ihn kniefällig zu bitten, er möge mit seinen Kräften die Atommacht wiederherstellen.
       Sorokin zu lesen ist wie Achterbahnfahren. Man hält sich die Hand über die Augen und linst zwischen den Fingern durch – man ahnt, etwas wird kommen, aber man weiß nicht, was. Der postmoderne Schriftsteller Sorokin beherrscht viele Tonarten und Stile, er kann subtil und einlullend sein, aber auch frech bis grotesk (siehe “Der Fingernagel”). Vom Magischen Realismus über die ländliche Erzählung à la Tolstoi bis hin zu Thrillerartigem, das an Filme von Christopher Nolan denken lässt, findet man bei ihm die unterschiedlichsten Erzählweisen. Vladimir Sorokin hat für die Art, wie er das literarische Schreiben in Russland neu aufgestellt hat, viel Gegenwind ausgehalten. Während Putins erster Amtszeit verbrannten dessen Sympathisanten vom rechten Flügel öffentlich Sorokins Bücher oder warfen sie demonstrativ in ein riesiges Klosett aus Papiermaché. Sorokin zu lesen, kann man heutzutage als Ausdruck einer friedlichen Solidarität sehen. “Die rote Pyramide” bietet einen guten Einstieg in seinen literarischen Kosmos und die Geschehnisse darin.

Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Am besten lebe ich ausgedacht / Bäume im Zimmer

       In diesem Frühling hat der Innsbrucker Haymon-Verlag zwei Lyrikbände veröffentlicht, “Am besten lebe ich ausgedacht” von Sabine Gruber, 1963 in Meran geboren, und “Bäume im Zimmer” von Josef Zoderer, geboren 1935, ebenfalls in Meran. Die Texte in beiden Sammlungen sind formal unterschiedlich, weisen auf einer tieferen Ebene aber doch Ähnlichkeiten in Themen, Bezügen und Stimmungen auf. Deshalb sollen sie hier zusammen besprochen werden.
       “Am besten lebe ich ausgedacht” von Sabine Gruber verzeichnet 43 Gedichte, auf festes Papier gedruckt, mit Fadenheftung in steifen Karton gebunden. Der Umschlag bezeichnet die Texte als “Journalgedichte” – damit wird auf eine Chronologie angespielt, auf einen Alltag, den diese Texte möglicherweise begleiten oder kommentieren. Das lyrische Ich erweckt einen dynamischen Eindruck von sich. Die Gedichte sind mit Zeit- und Ortsangabe versehen, gleich das erste z.B. mit: “Im März/ Leopoldstadt, Wien”. Insgesamt 25 von den 43 Gedichten sind mit “Wien” überschrieben, 11 tragen italienische Ortsbezeichnungen, 3 davon Südtiroler Schauplätze, 6 spielen an Orten in Deutschland oder Österreich, und ein Gedicht beschwört die Grenze zwischen Österreich und Italien, den Brenner.
       “Bäume im Zimmer” von Josef Zoderer ist ein schmales Hardcover, 81 Gedichte auf 85 Seiten. Das lyrische Ich erscheint in der Situation seines Sprechens statisch, als sei es eben an das Zimmer im Titel gebunden. Aber der Titel evoziert auch die unablässige Bewusstseinstätigkeit des lyrischen Ich, das sich eben die Eindrücke zu sich ins Zimmer holt. Erinnerung und Vorstellungskraft ermöglichen eine Überlappung  von Bewusstseinszuständen, für die das Gedicht eine gute Ausdrucksform zu sein scheint. Man könnte von “Mixturen der Zeit” sprechen, um eine Formulierung von Sabine Gruber zu entlehnen. Zoderers siebtes Gedicht “Was ich suche am Morgen” kann dafür vielleicht als programmatisch bezeichnet werden. Das lyrische Ich imaginiert einen Weg durch mediterrane Natur ans Meer als existenziellen Heimweg.
       Formal gehen die beiden Schreibenden unterschiedliche Wege. Mit Ausnahme der beiden letzten Texte gehen alle Gedichte in Sabine Grubers “Am besten lebe ich ausgedacht” über 20 Verszeilen. Grundsätzlich hat sie freies, oft der Prosa angenähertes Versmaß gewählt. Denkt man von Gedichten als Verdichtung von Sprache und Bildern, so schaden die Binnenverse, in die Sabine Grubers Sprache mitunter verfällt, den Gedichten mehr, als dass sie ihnen nützten. Auch der Zeilensprung, das Enjambement, das ein Wort auseinanderreißt, trägt nicht zur Verdichtung bei. Eines der stärksten Gedichte in der Sammlung, “Vierundzwanzigster August/Millstätter See, Kärnten” (S. 43) verzichtet auf diese Stilmittel. Grubers Tonfall spielt vorwiegend um die Färbungen Humor, Tapferkeit und Trotz.
     Auch Josef Zoderer hat sich für den freien Vers entschieden. Seine Verszeilen sind kurz, ebenso die einzelnen Gedichte. Der längste Text, ein Listen-Gedicht, geht über 11 Zeilen. Es war schon von der angestrebten Überlappung der Zustände die Rede – das sprechende lyrische Ich, das sich Erinnertes und Imaginiertes in sein Zimmer holt. Hier kann es passieren, dass eine Metapher doppelt gebucht wird, wie eben jene des Zimmers im 5. Gedicht – aus den vielen Zimmern des Schweigens werden die tanzenden Zimmer des lyrischen Ich. Hier droht die ästhetische Kohärenz unscharf zu werden. Zoderer tönt oft lakonisch, verstärkt durch den Verzicht auf jede Interpunktion, manchmal tastend, mitunter auch ängstlich.
       Motivisch setzt Sabine Gruber in “Am besten lebe ich ausgedacht” vor allem auf die verschiedenen Orte, die jeweils eigene Assoziationen heraufbeschwören. Im 15. Gedicht “Zweiundzwanzigster Jänner” beeinflusst z.B. Nestroy stark das lyrische Geschehen in der Leopoldstadt, das 37. Gedicht “Anfang März/Wien” hingegen führt über das Motiv der Schlange eine Begegnung zwischen dem Reich der Mitte und Dantes Universum herbei. Josef Zoderer hingegen setzt in “Bäume im Zimmer” auf zwei Naturmotive – eben den Baum, zu finden in 25 Gedichten, und auf das Wasser, das durch 20 Gedichte seiner Sammlung fließt oder darin steht, als Meer, als Regen oder Schnee, als Bach oder Fluss, einmal auch als Teich. Mitunter übt Wasser die Funktion eines Spiegels aus, öfters trennt der Fluss die Sphären oder Bewusstseinszustände, das Meer kann als Ursprung des Lebens auftreten, zu dem sich das lyrische Ich auf dem Rückweg sieht. Die Bäume, allen voran der Apfelbaum, stehen wohl eher für die Erinnerung – und hier ergibt sich eine Brücke zu Sabine Grubers Sammlung: Im 39. Gedicht – “Siebenundzwanzigster April / Prösels, Südtirol” – sehnt sich das lyrische Ich nach dem Nussbaum der Kindheit – doch geht es bei genauer Lektüre weniger um Erinnertes, sondern um den Wunsch nach der Wiedereinsetzung der Unschuld, nach dem Zurückgehen vor alle Lebenserfahrung, “ohne Tote, ohne Trauernde” zu sein, wie es im Gedicht heißt.
((c) Photo C. Pichler)
       
       Und damit wäre das große Motiv angesprochen, das beide Gedichtbände durchzieht – der Tod. Und mit ihm die Begleitmotive Vergänglichkeit, Nostalgie, Nacht, Angst und Traum. In Sabine Grubers Gedichten geht es vor allem um die Erinnerung an die Toten, an die toten Lebensmänner, an die Toten der Geschichte, an die Toten aus Afrika, die auf dem Meeresgrund liegen. In 11 Gedichten ist der Tod namentlich anwesend, in den anderen sorgt er gern fürs Hintergrundrauschen. In “Bäume im Zimmer” von Josef Zoderer begegnet uns der Tod in 16 Gedichten – als Todesflügel, als dunkle Tiefe, in der das lyrische Ich ertrinkt – verwandt mit der Meer-Metapher – als Todesröcheln, als Schnitter, als Nacht, als letzte Tür. Aber auch in einer Erinnerungssequenz als Tod, den das lyrische Ich Vögeln zugefügt hat. Wenn man von Dichtung als Möglichkeit denkt, in verdichteter Form Aussagen über die conditio humana zu treffen, so ist Zoderers stärkstes Gedicht das 45. – “Warum läufst du” – auf Seite 49. Ein siebenzeiliges Selbstgespräch, das gleichermaßen von Montaigne wie von japanischer Dichtung informiert zu sein scheint.
       “Am besten lebe ich ausgedacht” von Sabine Gruber und “Bäume im Zimmer” von Josef Zoderer – zwei Gedichtsammlungen, die sich einer jeweils eigenen Poetik verpflichtet haben. Doch zeigen beide Bücher das Bemühen, mit dem emotional aufgeladenen Erinnerungsgepäck zurande zu kommen, das uns Menschen begleitet. Ebenso finden sie Bilder für die schwierige Aufgabe, weiterzuleben, sich aus der Nacht zu schälen, jeden Tag aufs Neue zu beginnen, mit der geliebten oder unerwünschten Erinnerung an Vergangenes, mit den Sätzen, die sich an Tote richten, mit dem Tod selbst, der sich unaufhaltsam  nähert. Ein Leben mit der Angst und der irritierenden Unverlässlichkeit der Träume, aber auch mit dem Schatz, den ein gelebtes Leben darstellt. Denn was wäre eine Dichterin, ein Dichter ohne die eigenen Erfahrungen, ohne – um mit Josef Zoderer zu sprechen – “das Rätsel dieser Wahrheit”?

Illustrated by Haymon Innsbruck

connect

“Das ist eigentlich das Einzige, worum es bei connect geht. Um Nähe. Der Name sagt es ja schon und viel mehr steckt tatsächlich nicht dahinter. Verbindungen zwischen Menschen schaffen. Das ist alles.” (Dev)

Die Suche nach alternativen Lebensmodellen ist mehr denn je ein gesellschaftliches Thema. Die Pandemie hat dem noch einmal ordentlich Energie zugeführt. connect von Thea Mengeler ist aber kein Pandemie-Roman. Die Schriftstellerin stellt die Frage, wie wir leben wollen und sollen, weitaus grundsätzlicher. Die Gesellschaft als Ganzes, das “System” steht auf dem Prüfstand. Die gleichnamige Organisation im Roman connect bietet eine Alternative zum gängigen Mainstream an. An ihrer Hauptfigur Ava zeigt Thea Mengeler den konsequenten Wunsch nach Sinn und echten menschlichen Beziehungen, jenseits digitaler Freundschaftsanfragen.

Ava kommt aus einer dysfunktionalen Familie. Ihr Vater, ein Künstler, ist früh gestorben. Tante Gela hat Ava und ihre depressive Mutter Mia bei sich aufgenommen. Als junge Erwachsene führt Ava ein Leben, das sie nicht wirklich zufriedenstellt. Manchmal fragt sie sich, ob sie dieses Leben tatsächlich noch “führt”: auf selbstbestimmte Weise. Die meiste Zeit wird von ihrem Job in einer Werbeagentur in Beschlag genommen. Dort sitzt Ava zusammen mit ihren Kolleginnen Mel und Liz den ganzen Tag an den Rechnern, konzipiert und verwirklicht Ideen für Werbekampagnen. Die drei haben sich geschworen, eines Tages die Firma zu übernehmen. Bis es soweit ist, müssen sie ihre salbungsvollen Chefs ertragen und viele Überstunden machen – wer abends pünktlich heimgeht, wird scheel angeschaut. Und selbstverständlich sind die Ansprüche hoch!

“Wir sind noch nicht ganz da. “Da können wir noch ein bisschen mehr rausholen.” “Wir sollten die Extrameile noch gehen.” “Habt ihr am Wochenende ein bisschen Zeit?”

Ava schlägt der Stress auf die Gesundheit. Oft fehlt ihr abends die Kraft, noch einmal rauszugehen und mit ihren Freundinnen etwas zu unternehmen. Stattdessen liegt sie erschöpft auf der Couch, isst ungesunde Sachen und koma-glotzt Serien. Das Handy liegt sowieso ständig in Reichweite. Auf den Social Media Präsenz zu zeigen, ist ein Muss. Ava hat wenig Selbstbewusstsein. Sie hasst es, im Mittelpunkt zu stehen und orientiert sich gern an anderen. Sie scheint mit ihrer zurückhaltenden, manchmal linkischen Art Menschen regelrecht anzuziehen, die sie gern unter ihre Fittiche nehmen, die sie “coachen” möchten.Auf einer Ausstellung mit Kunstwerken aus Sexspielzeugen und Intim-Zubehör trifft Ada ihre frühere Mitschülerin Lina wieder. Obwohl die beiden sich lange nicht gesehen haben, können sie auf Anhieb über alles reden. Lina hat Verständnis für Avas allgemeines Unbehagen.

“Das Schlimmste ist, dass einem das eigene Leben entgleitet. Man verliert die Beziehung zu sich selbst, weil man so sehr darauf fokussiert ist, ein Bedürfnis zu erfüllen, das sowieso nie gestillt sein wird. Man hat nie genug getrunken, man hat nie genug gesehen und gelesen.”

Lina gibt Ava zu verstehen, dass sie in ihrem Leben womöglich die falschen Prioritäten gesetzt hat. Sie lädt Ava in die so genannte Halle ein, wo die junge Frau zum ersten Mal mit connect in Berührung kommt. Die Philosophie, die Körperübungen zu Musik, die Meditation, das Sich-Öffnen – was connect anbietet, erinnert ein wenig an die Methoden von Georges Ivanovitch Gurdjieff. Schon nach wenigen Besuchen stellt Ava Veränderungen an sich fest – sie hat mehr Energie, sie schläft besser, die Arbeit geht ihr leichter von der Hand, ihr Interesse an Social Media lässt nach. Bei connect ermutigt man sie auch, ihre Talente zu nutzen. Ava schießt eine Photo-Serie von connect-Mitgliedern – allesamt schöne, junge Menschen, die den Mainstream satt haben – und darf die Aufnahmen in der Halle ausstellen. Die Photos finden Käufer*innen, den Erlös spendet Ava an connect. Dann nimmt sie an einem intensiven Wochend-Workshop teil, den connect auf einem Gelände außerhalb der Stadt, dem Airfield, abhält. Zum ersten Mal sieht sie bei den abendlichen Versammlungen den geheimnisvollen Dev. Von ihm hört sie auch, was den Kern der connect-Lehre ausmacht.

“Das, worum es eigentlich geht, ist frei von Materie, ist pure Energie. Wenn ihr die anderen berührt, dann spürt ihr viel mehr als deren Haut. Ihr spürt ihr Wesen. Und das (…) geht mit dem Tod nicht verloren. Es wird bloß aus seiner menschlichen Hülle gelöst und verbindet sich endlich wieder mit allem, wozu es immer schon gehört hat. Es ist das, was ihr in der Meditation erlebt, nur um ein Vielfaches stärker. Es ist das reine Eins-Sein mit allem.”

(© Photo C.Pichler)

Bei connect herrscht ein freundlicher Umgang, niemand wird zu etwas gedrängt oder genötigt. Allerdings dürfen keine digitalen Geräte benutzt werden, man soll einander ungefiltert begegnen. Die Leiterin des Workshops ermuntert Ava, möglichst nicht für sich, sondern in Gesellschaft von anderen zu bleiben. Das Essen ist frugal, leicht, aus Lebensmitteln zubereitet, die Mitglieder von connect systematisch aus den Müllcontainern der Supermärkte retten. Möbel und Einrichtungsgegenstände verdanken sich findigem Upcycling.Nach diesem Wochenende ist für Ava nichts mehr, wie es war. Sie verliert zunehmend das Interesse an ihrem gewohnten Leben, ihr Arbeitgeber ist ebenso alarmiert wie ihre Kolleginnen, ihre Tante und ihre Mutter. Entgegen allem Widerstand kündigt Ava ihren Job in der Agentur und zieht aufs Airfield, um sich ganz der Lebensweise von connect zu verschreiben. Lina ist schon dort und heißt sie willkommen. Ava fühlt sich endlich im richtigen Leben, aber der Friede dauert nicht lange: connect hat nicht nur Gönner und Freunde da draußen. Und eines Tages ist ausgerechnet Lina plötzlich verschwunden. Ava hingegen wächst als Streiterin für connects Sache über sich hinaus.

Alle für einen, muss Ava flüchtig denken. Ja, alle für einen. Und einer für sie.

Gruppen, die auf die eine oder andere Weise einen gesellschaftlichen Umschwung herbeiführen wollen, sind wir in Büchern schon öfter begegnet. Josef Haslingers Opernball fällt mir ein, Fight Club von Chuck Palahniuk oder 23.000 von Vladimir Sorokin. In all diesen Fällen gehen jene, denen es reicht, mit aggressiven Mitteln vor – die Elite wird vergast, Ökonomie und Börse sollen in Gestalt von Banken und Kreditinstituten zum Einsturz gebracht werden oder aber das Leben auf dem Planeten wird zugunsten der Apotheose weniger Auserwählter vernichtet. Der Roman connect von Thea Mengeler hebt sich von diesen Vorgängern ab, denn das Buch positioniert sich nicht eindeutig. Es gibt hier keine bösen Terroristen, die ihrer verdienten Strafe zugeführt werden müssen. Die Organisation connect ist tatsächlich nicht perfekt und vor allem nicht immer geschickt in der Wahl ihrer Mittel. Ambiguitäten sind – wie in jeder größeren Gruppierung – an der Tagesordnung. Andererseits findet Ava längst nicht alle Vorwürfe, die gegen connect erhoben werden, bestätigt. Durch ihre Augen gesehen, erscheint die Organisation mit ihrer Lebenseinstellung als ernst gemeinte Alternative zu einem frustrierenden Mainstream-Alltag. Als dessen Facetten zeigt die Autorin die Arbeitswelt als Hamsterrad; Small Talk, gesellschaftliches Posieren und Social Media statt wirklicher Begegnungen; Übersexualisierung in Werbung und Medien, während menschliche Nähe verkümmert. Möglicherweise werden viele Leser*innen hier auf Gedanken, Kummer, Vorbehalte und Überdruss stoßen, die ihnen nicht unbekannt sind. connect hat auch den Charakter einer Versuchsanordnung, anhand derer wir beobachten können, wie Ava ihren Weg mit Konsequenz geht. Konsequenz – das vierte der Prinzipien, auf denen die Philosophie von connect ruht. Spannend erzählt, die Perspektiven hält Thea Mengeler klug in Schwebe, für einfache Antworten und schnelle Lösungen ist der Roman zu intelligent.


Illustrated by Leykam Buchverlag Wien

Beinahe Alaska

 

Die Ich-Erzählerin ist unglücklich. Sie hat mehrere Schicksalsschläge hinter sich. Sie geht auf eine so genannte Expeditionskreuzfahrt und setzt sich ihren Mitreisenden aus. Die sind alt und krank, wie George, der nach drei Schlaganfällen am Stock geht und von seiner steinernen Gattin Agnes gemanagt wird. Oder sie sind herrisch-zappelig, wie die rothaarige Österreicherin, absolut nichtssagend, wie ein Mutter-Tochter-Gespann aus Deutschland oder weltgewandt-weise, wie der mit feiner Ironie gesegnete Herr Mücke. Und da ist auch der Journalist Lewis, der seine eigene Zeitbombe mit sich herumträgt.

Es menschelt an Bord, während die MS Svalbard ihre geplante Route in Angriff nimmt: “… von der Südspitze Grönlands nach Norden (…) bis zur Diskobucht, dann westwärts über den Atlantik und durch das arktische Labyrinth der kanadischen Küste bis nach Alaska.” Einhundert Passagiere auf einer umgebauten Autofähre, die Reise soll zweieinhalb Wochen dauern. Der Alltag an Bord besteht aus den Mahlzeiten, die die menschenscheue Ich-Erzählerin manchmal schwänzt, unvermeidlichen, dann auch wieder überraschenden Gesprächen, Vorträgen, Landausflügen. Zwischendurch hilft nur ein langer Blick aufs Meer, doch sogar dieses Schauen aufs Wasser will gelernt sein (freundlicher Hinweis von Herrn Mücke). Obwohl es schmerzt, lässt sich die Ich-Erzählerin auf die Geschichten einzelner Einheimischer ein, denen sie in Labrador bei Stippvisiten an Land begegnet: im heruntergekommenen Hopedale – hier leben hauptsächlich Inuit – oder im schöneren Makkovik, wo vor allem Norwegischstämmige angesiedelt sind.

Die Geister vergangener Arktis-Expeditionen sind natürlich mit von der Partie – Amundsen, Franklin, Wegener. Ausgehend von deren Leiden und Fährnissen stellt sich für die irritierte Ich-Erzählerin die Frage: “Warum waren die Menschen immer und immer wieder in die Arktis gefahren, auch nachdem längst bekannt war, dass die Seewege nicht wirtschaftlich sein würden? Die Expeditionen kosteten ein Heidengeld. Ein Schiff nach dem anderen ging verloren.” Und daraus folgend die beinahe ebenso oft wie der Blick aufs Meer wiederholte Selbsterforschung: “Was will ich eigentlich hier?”

Offiziell reist die Ich-Erzählerin im Auftrag ihrer Verlegerin, sie soll Arktis-Feeling einfangen. Also photographiert sie den Himmel in all seinen phantastischen Verwandlungen, das Wasser, den Boden, dessen angepasste Vegetation in der Arktis als Wald durchgeht. Sie notiert und malt. In seelischer Hinsicht nutzt sie die Kreuzfahrt – im Grunde eine teurere Variante der Busgruppenreise – um sich im Nachvorneschauen zu üben. Wie die pflegende Agnes ist sie lange “im Zug des Lebens mit dem Rücken zur Fahrtrichtung” gesessen.

Das Schiff wird ihr Trainingscamp: unmöglich, sich hier allem und allen zu entziehen, keine Chance, hier die Einsiedlerin spielen zu dürfen. Gehst du nicht zu den Menschen, dann kommen sie zu dir. Dein einsames Herumsitzen, zumal als Frau, wird nachgerade als Aufforderung zur Kommunikation gedeutet. Die betuchte Französin Edith, zum Beispiel, gibt der Ich-Erzählerin reichlich von ihrer Erfahrung mit verheirateten Männern mit auf den Weg. Am Tisch im Speiseraum bekommt es unsere Reisende mit der hyperaktiven, notorisch nörgelnden Influencerin Karen Peng aus China zu tun. Und schließlich sind da die an ADHS leidenden Outdoor-Menschen, stets bereit, in ihren Windjacken “wie orange Blattläuse” arktische Waldvegetation niederzutrampeln, um als erste auf einem Ausflugsgipfel, an einer Ausgrabungsstätte oder wieder im Tenderboot zu sein. Im Bus buhen sie einen aus, falls man zu spät kommt.

Als dann der hohe Norden anfängt, die gewohnten Rhythmen durcheinander zu wirbeln – Körper, Schlaf, Handys – liegt der allgemeine Abenteuergeist darnieder. Auch Tiere haben sich, entgegen allen Verheißungen der Veranstalter, nicht gezeigt: nur einmal ein verwaschener Eisbär in der Ferne, ein andermal ein brauner Pelzhintern. Den Polarfuchs hören die Passagiere höchstens in ihren Träumen bellen.

Und dann ereignet sich das Skandalon schlechthin für Geltungs- und Servicekonsument*innen: Es. Wird. Nicht. Geliefert. Die Prophezeiung im Buchtitel erfüllt sich – die zu durchquerende Bellotstraße ist vereist, die MS Svalbard wird Alaska nicht erreichen. Während das Schiff wendet und wieder Richtung Süden fährt, hat sich den Enttäuschten bereits ein Anwalt empfohlen. Das ist kein Spoiler, denn – wie gesagt – diese Wendung wird im Buchtitel angedeutet und im Text vorbereitet. Als klar wird, dass die Reise mit dieser Antiklimax zu Ende geht, hat das für die Ich-Erzählerin eigentlich schon keine Bedeutung mehr. Anders als der Blick aufs Meer.

Arezu Weitholz ist Journalistin und Textdichterin u.a. für Herbert Grönemeyer, Die Toten Hosen, Udo Lindenberg und 2raumwohnung. “Beinahe Alaska” ist ihre erste längere literarische Veröffentlichung. Bei diesem Text haben wir es mit einer selten gewordenen Form von Alltagsrealismus zu tun, im besten Sinne gemeint; die emotionale Färbung stimmt, keine große Fanfare, es werden genau die Noten gespielt, die es braucht. In den Beschreibungen von Wetter, Meer, Natur zeigt sich das Auge der visuellen Künstlerin, die Arezu Weitholz auch ist.

Anton Cechov hat mal geschrieben: “Die Leute gehen nicht zum Nordpol. Sie gehen ins Büro, streiten sich mit ihrer Frau und essen Suppe!” Arezu Weitholz widerlegt in “Beinahe Alaska” Cechovs ersten Satz – die Leute streben sehr wohl zum Pol, sie versuchen es zumindest – aber sie zeigt auch, dass sie es genau in Stimmung und Modus von Cechovs zweitem Satz tun: also im Grunde ohne das eigene Wohnzimmer zu verlassen. Leidvolle Momente, zumal jene aus der Vergangenheit der Ich-Erzählerin, werden nicht unmäßig aufgeladen. Wir folgen ihrem niedergeschlagenen, irritierten, dann wieder hellauf begeisterten Blick. Zusammen mit ihr lernen wir (oder dürfen uns daran erinnern), dass man unweigerlich auf Leiden stoßen wird, sowie man sich dazu entscheidet, den Small Talk zu unterlaufen und einem anderen Menschen wirklich zu begegnen. Und dass das immer auch ein Risiko birgt. 

Die vom Leben gebeutelte Ich-Erzählerin macht eine Entwicklung durch. Wie Ursus mit dem Bullen steckt sie zunächst noch verbissen fest in einem SloMo-Ringkampf mit der Welt. Doch zu reisen heißt, sich zu bewegen, und das ist gut gegen quälende Blockaden. Die in mehreren Abwandlungen gestellte Frage, warum denn so viele in den Norden fahren, wird auf jeden Fall beantwortet. Sie wird nicht ausformuliert, aber die Antwort steckt im Buch. Eher in seinen weißen Bereichen.


Illustrated by Marebuchverlag Hamburg