Die rote Pyramide
Am besten lebe ich ausgedacht / Bäume im Zimmer
connect
“Das ist eigentlich das Einzige, worum es bei connect geht. Um Nähe. Der Name sagt es ja schon und viel mehr steckt tatsächlich nicht dahinter. Verbindungen zwischen Menschen schaffen. Das ist alles.” (Dev)
Die Suche nach alternativen Lebensmodellen ist mehr denn je ein gesellschaftliches Thema. Die Pandemie hat dem noch einmal ordentlich Energie zugeführt. connect von Thea Mengeler ist aber kein Pandemie-Roman. Die Schriftstellerin stellt die Frage, wie wir leben wollen und sollen, weitaus grundsätzlicher. Die Gesellschaft als Ganzes, das “System” steht auf dem Prüfstand. Die gleichnamige Organisation im Roman connect bietet eine Alternative zum gängigen Mainstream an. An ihrer Hauptfigur Ava zeigt Thea Mengeler den konsequenten Wunsch nach Sinn und echten menschlichen Beziehungen, jenseits digitaler Freundschaftsanfragen.
Ava kommt aus einer dysfunktionalen Familie. Ihr Vater, ein Künstler, ist früh gestorben. Tante Gela hat Ava und ihre depressive Mutter Mia bei sich aufgenommen. Als junge Erwachsene führt Ava ein Leben, das sie nicht wirklich zufriedenstellt. Manchmal fragt sie sich, ob sie dieses Leben tatsächlich noch “führt”: auf selbstbestimmte Weise. Die meiste Zeit wird von ihrem Job in einer Werbeagentur in Beschlag genommen. Dort sitzt Ava zusammen mit ihren Kolleginnen Mel und Liz den ganzen Tag an den Rechnern, konzipiert und verwirklicht Ideen für Werbekampagnen. Die drei haben sich geschworen, eines Tages die Firma zu übernehmen. Bis es soweit ist, müssen sie ihre salbungsvollen Chefs ertragen und viele Überstunden machen – wer abends pünktlich heimgeht, wird scheel angeschaut. Und selbstverständlich sind die Ansprüche hoch!
“Wir sind noch nicht ganz da. “Da können wir noch ein bisschen mehr rausholen.” “Wir sollten die Extrameile noch gehen.” “Habt ihr am Wochenende ein bisschen Zeit?”
Ava schlägt der Stress auf die Gesundheit. Oft fehlt ihr abends die Kraft, noch einmal rauszugehen und mit ihren Freundinnen etwas zu unternehmen. Stattdessen liegt sie erschöpft auf der Couch, isst ungesunde Sachen und koma-glotzt Serien. Das Handy liegt sowieso ständig in Reichweite. Auf den Social Media Präsenz zu zeigen, ist ein Muss. Ava hat wenig Selbstbewusstsein. Sie hasst es, im Mittelpunkt zu stehen und orientiert sich gern an anderen. Sie scheint mit ihrer zurückhaltenden, manchmal linkischen Art Menschen regelrecht anzuziehen, die sie gern unter ihre Fittiche nehmen, die sie “coachen” möchten.Auf einer Ausstellung mit Kunstwerken aus Sexspielzeugen und Intim-Zubehör trifft Ada ihre frühere Mitschülerin Lina wieder. Obwohl die beiden sich lange nicht gesehen haben, können sie auf Anhieb über alles reden. Lina hat Verständnis für Avas allgemeines Unbehagen.
“Das Schlimmste ist, dass einem das eigene Leben entgleitet. Man verliert die Beziehung zu sich selbst, weil man so sehr darauf fokussiert ist, ein Bedürfnis zu erfüllen, das sowieso nie gestillt sein wird. Man hat nie genug getrunken, man hat nie genug gesehen und gelesen.”
Lina gibt Ava zu verstehen, dass sie in ihrem Leben womöglich die falschen Prioritäten gesetzt hat. Sie lädt Ava in die so genannte Halle ein, wo die junge Frau zum ersten Mal mit connect in Berührung kommt. Die Philosophie, die Körperübungen zu Musik, die Meditation, das Sich-Öffnen – was connect anbietet, erinnert ein wenig an die Methoden von Georges Ivanovitch Gurdjieff. Schon nach wenigen Besuchen stellt Ava Veränderungen an sich fest – sie hat mehr Energie, sie schläft besser, die Arbeit geht ihr leichter von der Hand, ihr Interesse an Social Media lässt nach. Bei connect ermutigt man sie auch, ihre Talente zu nutzen. Ava schießt eine Photo-Serie von connect-Mitgliedern – allesamt schöne, junge Menschen, die den Mainstream satt haben – und darf die Aufnahmen in der Halle ausstellen. Die Photos finden Käufer*innen, den Erlös spendet Ava an connect. Dann nimmt sie an einem intensiven Wochend-Workshop teil, den connect auf einem Gelände außerhalb der Stadt, dem Airfield, abhält. Zum ersten Mal sieht sie bei den abendlichen Versammlungen den geheimnisvollen Dev. Von ihm hört sie auch, was den Kern der connect-Lehre ausmacht.
“Das, worum es eigentlich geht, ist frei von Materie, ist pure Energie. Wenn ihr die anderen berührt, dann spürt ihr viel mehr als deren Haut. Ihr spürt ihr Wesen. Und das (…) geht mit dem Tod nicht verloren. Es wird bloß aus seiner menschlichen Hülle gelöst und verbindet sich endlich wieder mit allem, wozu es immer schon gehört hat. Es ist das, was ihr in der Meditation erlebt, nur um ein Vielfaches stärker. Es ist das reine Eins-Sein mit allem.”
(© Photo C.Pichler)
Bei connect herrscht ein freundlicher Umgang, niemand wird zu etwas gedrängt oder genötigt. Allerdings dürfen keine digitalen Geräte benutzt werden, man soll einander ungefiltert begegnen. Die Leiterin des Workshops ermuntert Ava, möglichst nicht für sich, sondern in Gesellschaft von anderen zu bleiben. Das Essen ist frugal, leicht, aus Lebensmitteln zubereitet, die Mitglieder von connect systematisch aus den Müllcontainern der Supermärkte retten. Möbel und Einrichtungsgegenstände verdanken sich findigem Upcycling.Nach diesem Wochenende ist für Ava nichts mehr, wie es war. Sie verliert zunehmend das Interesse an ihrem gewohnten Leben, ihr Arbeitgeber ist ebenso alarmiert wie ihre Kolleginnen, ihre Tante und ihre Mutter. Entgegen allem Widerstand kündigt Ava ihren Job in der Agentur und zieht aufs Airfield, um sich ganz der Lebensweise von connect zu verschreiben. Lina ist schon dort und heißt sie willkommen. Ava fühlt sich endlich im richtigen Leben, aber der Friede dauert nicht lange: connect hat nicht nur Gönner und Freunde da draußen. Und eines Tages ist ausgerechnet Lina plötzlich verschwunden. Ava hingegen wächst als Streiterin für connects Sache über sich hinaus.
Alle für einen, muss Ava flüchtig denken. Ja, alle für einen. Und einer für sie.
Gruppen, die auf die eine oder andere Weise einen gesellschaftlichen Umschwung herbeiführen wollen, sind wir in Büchern schon öfter begegnet. Josef Haslingers Opernball fällt mir ein, Fight Club von Chuck Palahniuk oder 23.000 von Vladimir Sorokin. In all diesen Fällen gehen jene, denen es reicht, mit aggressiven Mitteln vor – die Elite wird vergast, Ökonomie und Börse sollen in Gestalt von Banken und Kreditinstituten zum Einsturz gebracht werden oder aber das Leben auf dem Planeten wird zugunsten der Apotheose weniger Auserwählter vernichtet. Der Roman connect von Thea Mengeler hebt sich von diesen Vorgängern ab, denn das Buch positioniert sich nicht eindeutig. Es gibt hier keine bösen Terroristen, die ihrer verdienten Strafe zugeführt werden müssen. Die Organisation connect ist tatsächlich nicht perfekt und vor allem nicht immer geschickt in der Wahl ihrer Mittel. Ambiguitäten sind – wie in jeder größeren Gruppierung – an der Tagesordnung. Andererseits findet Ava längst nicht alle Vorwürfe, die gegen connect erhoben werden, bestätigt. Durch ihre Augen gesehen, erscheint die Organisation mit ihrer Lebenseinstellung als ernst gemeinte Alternative zu einem frustrierenden Mainstream-Alltag. Als dessen Facetten zeigt die Autorin die Arbeitswelt als Hamsterrad; Small Talk, gesellschaftliches Posieren und Social Media statt wirklicher Begegnungen; Übersexualisierung in Werbung und Medien, während menschliche Nähe verkümmert. Möglicherweise werden viele Leser*innen hier auf Gedanken, Kummer, Vorbehalte und Überdruss stoßen, die ihnen nicht unbekannt sind. connect hat auch den Charakter einer Versuchsanordnung, anhand derer wir beobachten können, wie Ava ihren Weg mit Konsequenz geht. Konsequenz – das vierte der Prinzipien, auf denen die Philosophie von connect ruht. Spannend erzählt, die Perspektiven hält Thea Mengeler klug in Schwebe, für einfache Antworten und schnelle Lösungen ist der Roman zu intelligent.
Beinahe Alaska
Die Ich-Erzählerin ist unglücklich. Sie hat mehrere Schicksalsschläge hinter sich. Sie geht auf eine so genannte Expeditionskreuzfahrt und setzt sich ihren Mitreisenden aus. Die sind alt und krank, wie George, der nach drei Schlaganfällen am Stock geht und von seiner steinernen Gattin Agnes gemanagt wird. Oder sie sind herrisch-zappelig, wie die rothaarige Österreicherin, absolut nichtssagend, wie ein Mutter-Tochter-Gespann aus Deutschland oder weltgewandt-weise, wie der mit feiner Ironie gesegnete Herr Mücke. Und da ist auch der Journalist Lewis, der seine eigene Zeitbombe mit sich herumträgt.
Es menschelt an Bord, während die MS Svalbard ihre geplante Route in Angriff nimmt: “… von der Südspitze Grönlands nach Norden (…) bis zur Diskobucht, dann westwärts über den Atlantik und durch das arktische Labyrinth der kanadischen Küste bis nach Alaska.” Einhundert Passagiere auf einer umgebauten Autofähre, die Reise soll zweieinhalb Wochen dauern. Der Alltag an Bord besteht aus den Mahlzeiten, die die menschenscheue Ich-Erzählerin manchmal schwänzt, unvermeidlichen, dann auch wieder überraschenden Gesprächen, Vorträgen, Landausflügen. Zwischendurch hilft nur ein langer Blick aufs Meer, doch sogar dieses Schauen aufs Wasser will gelernt sein (freundlicher Hinweis von Herrn Mücke). Obwohl es schmerzt, lässt sich die Ich-Erzählerin auf die Geschichten einzelner Einheimischer ein, denen sie in Labrador bei Stippvisiten an Land begegnet: im heruntergekommenen Hopedale – hier leben hauptsächlich Inuit – oder im schöneren Makkovik, wo vor allem Norwegischstämmige angesiedelt sind.
Die Geister vergangener Arktis-Expeditionen sind natürlich mit von der Partie – Amundsen, Franklin, Wegener. Ausgehend von deren Leiden und Fährnissen stellt sich für die irritierte Ich-Erzählerin die Frage: “Warum waren die Menschen immer und immer wieder in die Arktis gefahren, auch nachdem längst bekannt war, dass die Seewege nicht wirtschaftlich sein würden? Die Expeditionen kosteten ein Heidengeld. Ein Schiff nach dem anderen ging verloren.” Und daraus folgend die beinahe ebenso oft wie der Blick aufs Meer wiederholte Selbsterforschung: “Was will ich eigentlich hier?”
Offiziell reist die Ich-Erzählerin im Auftrag ihrer Verlegerin, sie soll Arktis-Feeling einfangen. Also photographiert sie den Himmel in all seinen phantastischen Verwandlungen, das Wasser, den Boden, dessen angepasste Vegetation in der Arktis als Wald durchgeht. Sie notiert und malt. In seelischer Hinsicht nutzt sie die Kreuzfahrt – im Grunde eine teurere Variante der Busgruppenreise – um sich im Nachvorneschauen zu üben. Wie die pflegende Agnes ist sie lange “im Zug des Lebens mit dem Rücken zur Fahrtrichtung” gesessen.
Das Schiff wird ihr Trainingscamp: unmöglich, sich hier allem und allen zu entziehen, keine Chance, hier die Einsiedlerin spielen zu dürfen. Gehst du nicht zu den Menschen, dann kommen sie zu dir. Dein einsames Herumsitzen, zumal als Frau, wird nachgerade als Aufforderung zur Kommunikation gedeutet. Die betuchte Französin Edith, zum Beispiel, gibt der Ich-Erzählerin reichlich von ihrer Erfahrung mit verheirateten Männern mit auf den Weg. Am Tisch im Speiseraum bekommt es unsere Reisende mit der hyperaktiven, notorisch nörgelnden Influencerin Karen Peng aus China zu tun. Und schließlich sind da die an ADHS leidenden Outdoor-Menschen, stets bereit, in ihren Windjacken “wie orange Blattläuse” arktische Waldvegetation niederzutrampeln, um als erste auf einem Ausflugsgipfel, an einer Ausgrabungsstätte oder wieder im Tenderboot zu sein. Im Bus buhen sie einen aus, falls man zu spät kommt.
Als dann der hohe Norden anfängt, die gewohnten Rhythmen durcheinander zu wirbeln – Körper, Schlaf, Handys – liegt der allgemeine Abenteuergeist darnieder. Auch Tiere haben sich, entgegen allen Verheißungen der Veranstalter, nicht gezeigt: nur einmal ein verwaschener Eisbär in der Ferne, ein andermal ein brauner Pelzhintern. Den Polarfuchs hören die Passagiere höchstens in ihren Träumen bellen.
Und dann ereignet sich das Skandalon schlechthin für Geltungs- und Servicekonsument*innen: Es. Wird. Nicht. Geliefert. Die Prophezeiung im Buchtitel erfüllt sich – die zu durchquerende Bellotstraße ist vereist, die MS Svalbard wird Alaska nicht erreichen. Während das Schiff wendet und wieder Richtung Süden fährt, hat sich den Enttäuschten bereits ein Anwalt empfohlen. Das ist kein Spoiler, denn – wie gesagt – diese Wendung wird im Buchtitel angedeutet und im Text vorbereitet. Als klar wird, dass die Reise mit dieser Antiklimax zu Ende geht, hat das für die Ich-Erzählerin eigentlich schon keine Bedeutung mehr. Anders als der Blick aufs Meer.
Arezu Weitholz ist Journalistin und Textdichterin u.a. für Herbert Grönemeyer, Die Toten Hosen, Udo Lindenberg und 2raumwohnung. “Beinahe Alaska” ist ihre erste längere literarische Veröffentlichung. Bei diesem Text haben wir es mit einer selten gewordenen Form von Alltagsrealismus zu tun, im besten Sinne gemeint; die emotionale Färbung stimmt, keine große Fanfare, es werden genau die Noten gespielt, die es braucht. In den Beschreibungen von Wetter, Meer, Natur zeigt sich das Auge der visuellen Künstlerin, die Arezu Weitholz auch ist.
Anton Cechov hat mal geschrieben: “Die Leute gehen nicht zum Nordpol. Sie gehen ins Büro, streiten sich mit ihrer Frau und essen Suppe!” Arezu Weitholz widerlegt in “Beinahe Alaska” Cechovs ersten Satz – die Leute streben sehr wohl zum Pol, sie versuchen es zumindest – aber sie zeigt auch, dass sie es genau in Stimmung und Modus von Cechovs zweitem Satz tun: also im Grunde ohne das eigene Wohnzimmer zu verlassen. Leidvolle Momente, zumal jene aus der Vergangenheit der Ich-Erzählerin, werden nicht unmäßig aufgeladen. Wir folgen ihrem niedergeschlagenen, irritierten, dann wieder hellauf begeisterten Blick. Zusammen mit ihr lernen wir (oder dürfen uns daran erinnern), dass man unweigerlich auf Leiden stoßen wird, sowie man sich dazu entscheidet, den Small Talk zu unterlaufen und einem anderen Menschen wirklich zu begegnen. Und dass das immer auch ein Risiko birgt.
Die vom Leben gebeutelte Ich-Erzählerin macht eine Entwicklung durch. Wie Ursus mit dem Bullen steckt sie zunächst noch verbissen fest in einem SloMo-Ringkampf mit der Welt. Doch zu reisen heißt, sich zu bewegen, und das ist gut gegen quälende Blockaden. Die in mehreren Abwandlungen gestellte Frage, warum denn so viele in den Norden fahren, wird auf jeden Fall beantwortet. Sie wird nicht ausformuliert, aber die Antwort steckt im Buch. Eher in seinen weißen Bereichen.