Pecunia non olet
Schwerer Tobak wartet da auf die Leser mit Clemens Meyers Roman «Im Stein», von der anrüchigen Thematik her sicherlich Neuland für die meisten, so auch für mich. Vor dem Hintergrund einer ungenannten, aber leicht als Leipzig identifizierbaren Stadt und ihrer Geschichte von der Wende bis in die jüngste Vergangenheit hinein begegnen uns sämtliche archetypischen Subjekte des Rotlichtmilieus und deren Helfershelfer aus Politik und Verwaltung. Ein Roman aus dem sächsischen Sumpf der Prostitution mithin, in dem der Autor kein Blatt vor den Mund nimmt bei der vermutlich authentischen, in jedem Fall aber kenntnisreichen und drastischen Beschreibung der Sexbranche und ihrer Usancen. Wir erleben die zugehörigen Nachtgestalten aus größter Nähe: Nutten, Zuhälter, Betreiber von Eroscentern, Immobilienhaie, Dealer, korrupte Kommissare und willfährige Beamte, allesamt bemüht, auf der Jagd nach dem Geld der Freier möglichst viel für sich abzukassieren.
Ein Tross von Schmarotzern also profitiert da von der Arbeit der Prostituierten, einer sexuellen Dienstleistung, die als ein Wirtschaftszweig wie jeder andere angesehen wird, der dem Staat einiges an Steuern in die Kassen spült, immer nach dem Motto: Geld stinkt nicht! Der Leser wird mit kriminellen Machenschaften bis hin zu Mord und Totschlag, aber auch mit vielen unappetitlichen Details der Sexarbeit und allen ihren perversen Auswüchsen knallhart konfrontiert von einem Autor, der als Enfant terrible gilt unter den deutschen Autoren. Alles das wird collageartig erzählt, die oft krassen Geschichten bleiben fragmentarisch, ein stringenter Plot fehlt. Immer wieder wird man an Kriminalfilme erinnert, an Typen und Szenen, die einem dort schon mal begegnet sind, wo dann aber schamhaft abgeblendet wird, wenn es richtig zur Sache geht bei der «Arbeit», während hier die Kamera weiterläuft gewissermaßen. Voyeure kommen allerdings nicht auf ihre Kosten dabei, statt pornografisch wird hier nämlich geradezu technokratisch erzählt, und die Finanzen stehen immer im Mittelpunkt, BWL-Kenntnisse helfen also ungemein.
Ein gefälliger, leicht verdaulicher Roman ist «Im Stein» jedenfalls nicht, aber ein wohltuend anderer, die üblichen Leseerwartungen brutal konterkarierender aus einer Welt, die es halt auch gibt und die hier eine offene Bühne gefunden hat für ein milieufremdes Publikum. Man verliert als Leser leicht die Orientierung bei der rasanten Erzählweise des Autors, der auch noch ständig die Erzählperspektive wechselt. Die ist sehr häufig der innere Monolog, der dann auch in der Variante des Bewusstseinsstroms vorkommt, sogar als Selbstgespräch in der Du-Form. Teilweise hektisch und mit vielen Zeitsprüngen erzählt, erfordert die Lektüre also ständig die volle Aufmerksamkeit des Lesers. Das gilt auch für die häufigen Abkürzungen von Namen und auch «Fachbegriffen» aus der Branche, die zu dechiffrieren ohne reichlich «schmutzige Phantasie» kaum gelingt. Die Figuren werden stimmig und detailreich vorgestellt, wobei die Huren meist liebevoll beschrieben werden in ihren Hoffnungen, Wünschen und Plänen, aber auch in ihren manchmal rührend naiven Ansichten über die anrüchige Welt, in der sie ihr Geld verdienen.
Ist die Lektüre also zu empfehlen? Im Prinzip ja, könnte man wie bei Radio Eriwan antworten, aber man muss schon ein robustes Durchhaltevermögen mitbringen, denn der dickleibige Roman weist einiges an Längen auf. Ganz abgesehen davon wird man häufig Probleme haben, nicht die Orientierung zu verlieren in diesem Labyrinth von Innensichten seiner oftmals nur mühsam zu identifizierenden Protagonisten. Aber es ist ja auch kein Blümchensex, der da praktiziert wird im Puff, und so hat wohl der Autor seine Erzählweise dem unkonventionellen Milieu angepasst, über das er so kundig schreibt. Polarisierend ist das allemal, wie die außergewöhnlich konträre Rezeption dieses Romans recht deutlich zeigt.
Fazit: lesenswert
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