Unser Deutschland Märchen

 

Unser Deutschland Märchen

Der autofiktionale Debütroman des bisher mit seiner Lyrik bekannt gewordenen Schriftstellers Dinçer Güçyeter trägt den deskriptiven Titel «Unser Deutschland Märchen». Vielstimmig beschreibt der am Niederrhein in Nettetal, also in Almanya geborene Autor in seiner Familiengeschichte, wie die Einwanderer aus Anatolien mit der harten Realität konfrontiert wurden in dem gelobten Land, «wo das Geld an den Bäumen hängt und man es nur zu pflücken braucht». Der mit etlichen Fotos der Familie collageartig angereicherte Roman wurde 2023 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. «Traditionell wie innovativ queer erzählt, reißt einen diese Einwanderer-Geschichte mit ihrer Emotionalität und großen politischen Bedeutung von Anfang an mit» heißt es in der Begründung der Jury.

Dinçer Güçyeter erzählt in 68 kurzen, mit oft amüsanten Überschriften beginnenden Kapiteln chronologisch und in Form von Rückblicken seine Familiengeschichte. Meistens wird aus der Sicht des Autors selbst erzählt, sehr häufig berichtet im Wechsel auch seine Mutter Fatma, die Erzählerstimme wird jeweils benannt. Eher selten treten zudem weitere Figuren als Erzähler auf, und das reicht bis hin zur Urgroßmutter, die das erste Kapitel bestreitet und schon fast lapidar von der Gesellschaft in Anatolien anfangs des vorigen Jahrhunderts berichtet. Fest verwurzelt mit den archaischen Traditionen, Sitten und Gebräuchen geraten die von Deutschland dringend benötigten Einwanderer in Konflikte mit der ihnen fremden Gesellschaft. Sie scheitern an den Herausforderungen der modernen Arbeitswelt, beherrschen die Sprache nicht, werden als billige Gastarbeiter ausgenutzt.

Viele fristen in Almanya als Hilfsarbeiter, Handlanger oder Putzfrauen ein hartes Leben, das ihnen alles abverlangt. Fatma arbeitet in der Fabrik, macht oft zwei Schichten hintereinander, fährt nach Feierabend aufs Land und schuftet noch bis zur Dunkelheit als Erntehelferin. Tragisch ist für sie, dass ihr Mann ein fauler Nichtsnutz ist, der mit seiner gepachteten Kneipe nicht nur nichts verdient, er lässt großzügig anschreiben, verjubelt das Geld oder leiht es großzügig seinen fragwürdigen Kumpels und sieht es dann nie wieder. Und Fatma erträgt das alles geduldig, sie ist ja nur die Ehefrau und steht eine Stufe unter ihm, beugt sich widerspruchslos den archaischen Konventionen. Ihr Sohn aber soll es mal besser haben, dafür schuftet sie und ebnet ihm den Weg, beschafft ihm eine Lehrstelle als Mechaniker in ihrer Fabrik. Dinçer jedoch merkt schon bald, dass er so nicht leben möchte, er fühlt sich zur Literatur hingezogen, liest viel und schreibt Gedichte. Seine Mutter kann die Vorstellung des inzwischen Dreißigjährigen vom erfüllten Leben nicht verstehen. Zu der Tragik mit ihrem nichtsnutzigen Ehemann kommt nun auch noch die Enttäuschung über den Sohn hinzu, der mit seiner künstlerischen Neigung beruflich auf eine brotlose Kunst hinsteuert, also nach ihrer Ansicht scheitern wird. Denn der für ihn erhoffte Aufstieg, der ersehnte Wohlstand sei so nicht zu erreichen, wirft sie ihm entsetzt vor!

Der Zusammenprall westlicher und östlicher Kultur, der deutschen und der anatolischen, wird in diesem Roman in einem äußerst eigenwilligen Stil aus Monologen, Gedichten, Briefen, Theaterdialogen, Träumen und gebetsartigen Einschüben thematisiert, selbst ein «Lied der Huren» ist dabei. Das Buch bekommt durch die Problematik der Migration und die islamistischen Demonstrationen, die in der absurden Forderung nach einem Kalifat in Deutschland gipfeln, gerade jetzt eine ganz unerwartete Aktualität. Es gelingt dem Autor in bewundernswerter Weise, auch mit poetischen Mitteln, eindringlich die Unvereinbarkeit der konträren Moral-Vorstellungen und Gesellschafts-Systeme zu verdeutlichen. Das Lob für diesen eigenwilligen, stilistisch jenseits aller Konventionen stehenden Roman werden allerdings viele Leser, die geläufige Prosa erwarten, partout nicht nachvollziehen können!

Fazit: mäßig


Genre: Roman
Illustrated by mikrotext

Unser Deutschlandmärchen

Im Buch sprechen Dincer, Fatmas Sohn, und Fatma in Monologen über ihre Erlebnisse, ihre Sorgen und Nöte, ihre Träume und Hoffnungen. Dincer ist Fatmas große Hoffnung, was muss sie stolz gewesen sein, als er den Preis der Leipziger Buchmesse bekam! Bei der Preisverleihung, ich erinnerte mich, kam eine Frau mit auf die Bühne. Beim Lesen war ich mir sicher, dass das Fatma gewesen sein musste, als Mitautorin; aber es war seine Frau, stellvertretend für alle Frauen.

Dass Frauen in der Gesellschaft Unrecht geschieht, sagt uns auf der ersten Seite schon Hanife, Fatmas Mutter: „Es gibt in unserem Glauben eine Regel, die den Männerschwänzen dient: Ein obdachloses Weib zu behüten ist die Pflicht eines jeden Mannes. Die ersten Männer dieser Frauen waren im Krieg gefallen. Jetzt warteten hier die nächsten auf sie, mit ihren steifen Werkzeugen. Bekamen die Möglichkeit, das Gewissen ihrer Schwänze zu beruhigen.“

Auf gut 200 Seiten gibt es rund 60 Kapitel, bebildert mit Fotos der Familie, von 1962 bis 2022: da sitzt Fatma und Dincer steht neben ihr.

Fatmas Mutter wird, in Anatolien, früh Witwe, die beiden Brüder sind behindert, die Hoffnung der Familie liegt auf Fatma, also muss sie Yilmaz, „dem mit dem großen Kopf“, nach Deutschland folgen, als er um ihre Hand anhält. Das Leben dort ist schwer, am schlimmsten ist: Fatma muss über ein Jahrzehnt warten, bis sie schwanger wird, sie lässt kein ihr bekanntes Hilfsmittel aus, betet sogar zu Maria …

Da sie keine eigenen Kinder versorgt, bittet sie Yilmaz, ob sie arbeiten darf, und wird Fabrikarbeiterin (Akkordbrecherin!), und hat Nebenverdienste als Erntehelferin, die die Familie ernähren.

Als Yilmaz eine Kneipe aufmacht, putzt sie und unterstützt im Hintergrund. Aber die Kneipe bringt kaum Geld ein, denn die Kunden lassen anschreiben. Yilmaz ist ein liebenswerter Loser, der viele scheinbar gewinnbringende Ideen hat, die dann scheitern, der Schuldenberg wächst und Fatma arbeitet immer daran, ihn abzutragen. Aber: Als Dincer geboren ist, gibt es eine Woche lang Freigetränke, so hat es, da es nach ihm geht, zu sein.

Als der Vater zusammenbricht, wird die Kneipe geschlossen, die Schulden sollen gepfändet werden. In der größten Not kommt das Rettende in der Person von Herrn Hoeke, Richter am Amtsgericht. Er bekommt am nächsten Tag eine Vollmacht, regelt alles. Als er erfährt, dass Dincer schreibt, kommt er freitags „nach der Schicht“, liest alles, „bringt Bücher mit: Novalis, Rilke, Eichendorff, Fried, Lasker-Schüler. Bespricht mit mir alle Texte.“ Jahre später wird er anregen, „Dincer, deine Zeit kommt langsam, du musst vor Menschen lesen, die müssen deine Gedichte hören.“ Nach der Lesung in der Stadtbibliothek im Nettetal steht in der Westdeutschen Zeitung: „Jedes Jahr gibt Nettetal mit Martin Walser, Elke Heidenreich … an, wird das nicht langweilig? Endlich konnte man gestern Abend eine junge Stimme hören, die viel spannender klingt.“

Das Kapitel geht weiter: „Die Figur Hans Hoeke gibt dem schweigenden Märchen eine Hand, das Märchen beginnt, seine zukünftige Stimme zu suchen.“

Soweit der Plot. Ihn zu erfassen dauert etwas, in den vielen Kapiteln kommen einzelne Mosaiksteinchen. Das macht das Lesen zu einem spannenden Erlebnis, denn es besteht aus vielen Stimmen, in Lyrik und auch Prosa, die mit Offenheit und Zuversicht die Entwicklungen der Familie beschreibt.

Andere Stimmen sind in Anatolien zu hören, die der Eidechsen, Kräuter und der Steine. Und wie klingt Dincers Ablehnung bei seinen Arbeitskollegen? Da ist er, weil er Bücher liest, die Schwuchtel. Oder wie er als Arbeiter neben den StudentInnen in der Theatergruppe gesehen wird. Wie geht es der gut integrierten Gastarbeiterfamilie mit Solingen und Hanau?

Ausführlich beschrieben ist Dincers Abnabelungsprozess von Fatma, die lange hoffte, Dincer könnte als Mann ihre Enttäuschungen über Yilmaz heilen.

Besonders beeindruckt hat mich die Begegnung mit Bernd, „der Kollege, der immer die Gießformen auseinandergebaut hat.“ Er beglückwünscht ihn, dass er „den Sumpf“ hinter sich gelassen hat. Sumpf? Für ihn war es die Schule des Lebens, die ihn zu dem gemacht hat, was er heute ist. „Hätte ich mir damals diese robuste Art nicht zu eigen gemacht, wäre ich heute auch in der Theater- und Literaturszene verloren … Hab Jahre später Gedichte geschrieben und diese der Drehmaschine mit der Nummer 630, dem Schraubstock, der Bandsäge gewidmet.“

Und in der Danksagung kommen nach seinen Nächsten „alle, die mit Körperkraft und Schweißperlen auf der Stirn, mit Verstand und Gewissen versuchen, das Leben für sich und alle erträglicher zu gestalten.

Euer Dincer“


Genre: Frauenrechte, Gastarbeiter, Literatur als Elixier
Illustrated by mikrotext