Theorien-Diarrhö
Man könnte von einem Campusroman sprechen bei «Follens Erbe» von Michael Zeller, die literaturwissenschaftliche Fakultät einer deutsche Universität ist jedenfalls Hintergrund der Erzählung, das berufliche Umfeld seines Protagonisten, des Dozenten Hellmuth Buchwald. Die detaillierten Schilderungen der Interna des universitären Umfeldes lassen vermuten, dass einiges aus der Biografie des Autors in den Roman eingeflossen ist. War doch auch er Dozent für Literatur und habilitierte sich über zeitgenössische deutsche Lyrik, ehe er dann acht Jahre lang als Literaturkritiker für die FAZ arbeitete. Im Titel des Romans liegt ein weiterer Schlüssel für dessen Inhalt, denn Karl Follen war ein rebellischer Burschenschaftler, der zu den führenden Kräften des Vormärz in Deutschland zählt, der Untertitel «Eine deutsche Geschichte» unterstreicht dies noch. Zeller verbindet in seinem Roman die politische Situation nach der Ermordung August von Kotzebues durch Karl Ludwig Sand im Jahre 1819 und die im gleichen Jahre folgenden Karlsbader Beschlüsse mit der Zeit der RAF, genauer gesagt der Zeit der Entführung und Ermordung von Hanns-Martin Schleyer im Jahre 1977.
Wie einhundertfünfzig Jahre vorher mit den Demagogenverfolgungen war damals auch in der Bundesrepublik Deutschland eine reaktionäre Stimmung auf ihrem Siedepunkt angelangt und führte zu hysterischen Repressionen staatlicherseits. Eigentlich wollte sich Buchwald während seiner Zeit als Assistent mit einer Arbeit über den rebellischen Follen habilitieren, ein Thema, dem sein ganzer Arbeitseifer galt. Er beschäftigte sich dann aber auch mit zeitgenössischer Lyrik, ergriff sogar Partei für eine Lyrikerin, deren zeitkritisches Gedicht gerade Furore machte, indem er einen geharnischten Artikel für eine Fachzeitschrift verfasste und darin trotzig gegen die Angriffe auf die Autorin und ihr Gedicht Stellung bezog. Während eines Studentenstreiks kam es in seinem Seminar zu politischen Auseinandersetzungen, in denen er Verständnis für die Anliegen der Streikenden zeigte und hitzige Diskussionen darüber zuließ. Prompt sah er sich dem Vorwurf verfassungsfeindlicher Umtriebe ausgesetzt und entging nur knapp und mit viel Glück seinem universitären Karriere-Ende.
Geschichte wiederholt sich, sagt man, Zeller liefert mit seinem Roman den schlagenden Beweis dafür. In vier nach den Jahreszeiten benannten Kapiteln entwickelt er seine Geschichte vom Dozenten Buchwald, erzählt von dessen Privatleben in bescheidenen Verhältnissen, von seiner letztendlich scheiternden Liebe zu Judith und den verschiedenen Frauen, denen er, nicht immer erfolglos, hinterher steigt. Interessanter jedoch sind seine literarischen Erlebnisse, die mit feiner Ironie erzählten Studien über Follen und über den Universitätsbetrieb. Köstlich zum Beispiel sein Einschub über den «Classischen Cuddel», als Professor der absolute Paradiesvogel dieser Uni, ein einseitig auf Schiller spezialisierter Sonderling, dessen Marotten süffisant geschildert werden. Ebenso amüsant der Assistenten-Stammtisch mit einem hochgelehrten Disput, der sich an Franz Kafkas TBC entzündet und in linguistischen Spitzfindigkeiten endet, da fällt dann auch schon mal ein Wort wie Theorien-Diarrhö. Auch die scharfsichtige Schilderung der in jener Zeit in hoher Blüte befindlichen antiautoritären Erziehung lässt den Leser häufig laut auflachen.
Schade eigentlich, dass man so ein Buch heute nur noch antiquarisch erwerben kann, ich war jedenfalls hocherfreut über meinen Zufallsfund mit seinen reichlich vorhandenen, ebenso lehrreichen wie amüsanten Lesefrüchten.
Fazit: lesenswert
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