Wild nach einem wilden Traum

Wild nach einem wilden Traum. Nach “Das Vorkommnis” und “Das Liebespaar des Jahrhunderts” nun der letzte Teil der Trilogie “Biographie einer Frau“. Die beiden ersten erscheinen zeitgleich auch schon als Taschenbuch und die Autorin geht auf Lesereise durch Deutschland West und Ost.

Verwandlung im Namen der Liebe

Julia Schoch stammt aus Mecklenburg und lebt heute in Potsdam. 2022 wurde ihr die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung verliehen, 2023 der Schubart-Literaturpreis der Stadt Aalen, 2024 der Mainzer Stadtschreiber-Literaturpreis. Die ersten beiden Bände sind sowohl Leser:innen- als Kritiker:innenlieblinge und standen auf der SWR- wie der ORF-Bestenliste. Während es im ersten Band um die Ursprungsfamilie und im zweiten um die Partnerbeziehung ging wird in “Wild nach einem wilden Traum” sowohl die Literatur als auch die Liebe in’s Zentrum der Erzählung gerückt. “Die Erinnerung an eine Liebe kann intensiver sein als diese Liebe selbst“, schreibt sie etwa, als sie fern von zu Hause einen Mann kennenlernt, den sie stets schlicht als “Katalanen” bezeichnet. Namen sind ohnehin Schall und Rauch und so bleibt auch die Ortschaft A., wo die beiden eine “artists in residence”-Beziehung in einer Künstlerkolonie eingehen, im Dunkeln. Ebenso ihr Ehemann, der stets nur der Mann ist, ohne Namen, ohne Alter, auch ihre zwei Kinder.

Wild nach einem wilden Traum

Der Katalane kommt aus einem Land, das sich abspalten will, die Erzählerin aus einem Land, das sich gerade wiedervereinigt hat. Offen bleibt, ob nicht auch Deutschland bald gewissen Auflösungstendenzen anheim fallen wird, denkt sie und verwirft den Gedanken sogleich. “Vielleicht passiert die Liebe, dieses Gefühl, wenn wir uns zu jemandem hingezogen fühlen, immer nur so: stellvertretend für etwas viel Früheres, Älteres, das uns verloren gegangen ist und das wird zurückverlangen wollen. Alle Liebe ist nur ein Ersatz-Haltegriff, habe ich irgendwo gelesen“, schreibt sie und reißt damit einen Graben auf, der sich nicht mehr zuschütten lässt. “Wahrscheinlich geschieht es nur einmal, dass man sich voller Begeisterung für jemanden aufgibt. Diese Verwandlung im Namen der Liebe. Später braucht man sich nicht mehr. Später: wenn man wieder man selbst geworden ist.” Und was heißt denn schon zurückkommen? “Wer weiß denn schon, ob das, was zurückkehrt, auch das ist, was verschwunden war?

Einer das Vehikel des andern

Künstler seien keine glücklichen Menschen, sie taugen nichts fürs Leben, offenbart ihr ein älterer Freund, der Soldat, von dem sie auch den Titel ihres Romans ausgeborgt hat. “Man muss wild danach sein. Wild nach einem wilden Traum.” Das sind starke Sätze, die die Autorin da findet: “Wir bewohnen unsere Vergangenheit, wie man Träume bewohnt“. Verblassenden Erinnerungen oder nachlassendem Gedächtnis kann sie etwas positives abgewinnen. Denn auf das Vergessen sei Verlass und ohne es gebe es keine Geschichten. “Sie sind das, was übrig bleibt.” Auch in der Liebe benutzt man einander, ist “Vehikel“, wie sie schreibt, für einander und bringen fernere, frühere, dunklere Bereiche ans Licht. Oder man lebt in einem “glücklichen Irrtum“.

Maske der Ehrlichkeit

Mit einem Mal gebe es dann keinen Unterschied mehr zwischen Erinnerung und Erzählung. Schließlich sei auch nur die Ehrlichkeit eine Maske. Das sitzt tief. Schriftsteller würden die vergangene Zeit spüren, die Zukunft und das, was noch kommt. Sie hätten eine intensivere Verbindung zu den Toten und eine bessere Verbindung zum Schmerz in der Welt, sagt er, der Katalane. Und obwohl sie diese Meinung für überzogen und pathetisch hält, stimmt sie ihr insgeheim zu. “Bücher sind beinahe magische Objekte. Schon das Lesen war eine Art heilige Handlung, ganz zu schweigen vom Schreiben.

Einspruch gegen die Unmöglichkeit der Liebe

Und lesen kann tatsächlich bessere Menschen aus uns machen, davon sind wir alle überzeugt, alle die lesen natürlich nur. Am allerschönsten finde ich die Stelle in der sie über das Jung-sein schreibt. “Ich habe den Glauben, man könne den Menschen befreien ja vielleicht sogar Die Welt retten, in den Jahren danach immer wieder vermisst. Ich vermisse ihn noch immer.” Das große Seufzen verbindet uns alle, nicht nur die Mütter, die dadurch die Brücken zum Rest der Menschheit schlagen. “Man sollte Einspruch erheben gegen das Gerede von der Unmöglichkeit der Liebe.” Das ist Julia Schoch in jedem Fall gelungen.

Mehr zu den drei Bänden hier

Julia Schoch
Wild nach einem wilden Traum
Roman.
2025, Hardcover, 160 Seiten
ISBN: 978-3-423-28425-7
dtv
23,00 €


Genre: Frauen, Liebe, Literatur, Roman
Illustrated by dtv

Umlaufbahnen

Umlaufbahnen. Orbital. Ausgezeichnet mit dem Booker Prize 2024 und Hawthornden Prize for Literature 2024, nominiert für den Orwell Prize for Political Fiction 2024 sowie den Ursula K. Le Guin Prize 2024: Orbital von Samantha Harvey, ihr fünftes Werk.

Weltraumdrifter lassen grüßen

In 90 Minuten umkreisen die sechs Astronauten aus Orbital den Planeten, sechzehnmal in 24 Stunden. Dass einem dabei alles andere plötzlich nebensächlich erscheint ist nur eine von vielen Reaktionen des menschlichen Gemüts auf die unvorstellbare Tatsache im Weltraum zu sein, dem absoluten Nichts, und auf seinen Heimatplaneten zu blicken. Die subtile Macht ihres Raumschiffs mach sie alle gleich: Anton, das Herz des Raumschiffs, Pietro, der Verstand, Roman, der Kapitän, die Hände, Shaun, die Seele, Chie, das Bewusstsein und Nell, der Atem. Sie kommen alle aus anderen Nationen, Astronauten und Kosmonauten, wie man sie in Russland nennt, wohl weil diese gleich weiter hinaus wollten, in den /Kosmos/, als bloß zu den Sternen, /ad astra/. Sie atmen alle dieselbe recyclierte Luft, trinken Wasser aus ihrem wiederaufbereiteten Urin und schlafen in derselben Fledrmausmäßigen Position. Eine Art kommunistische herrscht zwischen den sechs Raumfahrern, deren Mission es ist, einen Taifun zu erforschen, um bessere Prognosen für die betroffenen Erdbewohner:innen treffen zu können. Um das Leben anderer retten zu können, opfern sie ihr eigenes. Denn das Raumfahren fordert seinen Tribut. Nicht nur was die Unannehmlichkeiten der Schwerelosigkeit betrifft, sondern auch die Spätfolgen. Ein Gemälde von Diego Velázquez, Las Meninas (1656) ist die Steilvorlage dieses außergewöhnlichen Romans, der mehr einer Meditation gleichkommt als einer bloßen Erzählung. Die Erleuchtung, welche Perspektive der Maler bei seinem Gemälde einnahm, erscheint dem Leser dann wie ein Glockenläuten.

Gedanken im Angesicht des Planeten

Was passiert, wenn man seine Heimat nur aus weiter Ferne durch ein kleines Fenster sieht? Wie verändern sich Denken und Fühlen?
sind nur zwei Fragen, die die Autorin in diesem lesenswerten Roman aufwirft und auf Möglichkeiten der Beantwortung prüft. “Sugoi”, das japanische Wort für die Interjektion “Wow” ist nur ein Ausdruck den man in vorliegendem aufrüttelnden Roman lernt und spürt, denn die Beschreibungen der Erdumrundungen sind in einer äußerst beeindruckenden Sprache formuliert und ringen einem schon während des Lesens Bewunderung ab. Sie erzählt von Sergei Krikaljew, dem sowjetischen Kosmonauten, der aufgrund der politischen Umwälzungen in seinem Heimatland sechs Monate länger als geplant auf der Mir verbringen musste. Aber auch Michael Collins, der die beiden Astronauten Neil Armstrong und Buzz Aldrin vor dem blauen Planeten fotografierte und als einziger Abkömmling der Menschheit nicht auf dem Foto war. Eine Spekulation, die Diskussionen auslöste, was das wohl für ihn bedeutete. Aber bei all dem, darf man nie den Preis vergessen, den die Menschheit für diese Momente des Ruhms zahlt, schreibt Harvey und wir alle wissen, was das bedeutet. Die Antriebsrakete ihres Raumschiffs benötigt allein beim Start so viel Benzin wie Millionen Autos. “Wir denken wir wären der Wind, aber wir sind nur die Blätter”, schreibt sie. Die Such nach der Last Frontier ist es, was die Raumfahrt antreibt, das Territorium vergrößern, der Weltraum die letzte Wildnis, die uns noch bleibt, das Revier markieren.

Samantha Harvey
Umlaufbahnen. Roman
(Originaltitel: Orbital)
Aus dem Englischen von Julia Wolf
2024, 1. Auflage, Hardcover im Schutzumschlag, 224 Seiten, 11,8 x 19,5 cm
ISBN : 978-3-423-28423-3
dtv
EUR 22,00 [DE] – EUR 22,70 [AT]

 


Genre: Roman
Illustrated by dtv, dtv München