HR Giger: The Oeuvre Before Alien 1961–1976

HR Giger: The Oeuvre Before Alien 1961–1976. Vor zehn Jahren verstarb der Createur der Aliens-Figuren. Der Schweizer Künstler HR Giger (1940–2014) wird im vorliegenden Werk aber ob seines Frühwerkes geehrt, das zeigt, dass er schon lange vor Ridley Scotts Science-Fiction-Klassiker Alien Adaptation ein gefragter internationaler Künstler mit Tiefgang war.

HR Giger: Der “Hieronymus Bosch des 20. Jahrhunderts”

Mit seinem Phantastischen Realismus nahm er eine eigenständige Position in der Nachfolge des Surrealismus ein und etablierte sich damit in der europäischen Kunstszene der 1960er- und 1970er-Jahre. 2007 erschien vorliegende Präsentation erstmals und präsentiert HR Gigers Zeichnungen aus seinem Frühwerk, die ersten Airbrush-Bilder mit teilweise ebenso beklemmenden Environments wie später seine Aliens. Das Bündner Kunstmuseum in Chur zu dessen Anlass diese Publikation erstmals erschien zeigte damals die gleichnamige Ausstellung “The Oeuvre Before Alien 1961–1976”, mit “Schächte“, “Passagen“, “Nasszellen“, “Hautlandschaften“. Die Publikation untersucht Gigers Schaffen von den Ursprüngen her und ordnet es in eine “Kunstgeschichte des Grauens” ein. Denn natürlich gibt es selbst für einen Giger gewisse Vorläufer und Vorbilder, die ebenso beachtenswert sind: Gigers Werk tritt in den Dialog mit Arbeiten von Giovanni Battista Piranesi, Francisco de Goya, Johann Heinrich Füssli, Max Klinger oder James Ensor gezeigt. Als seine früheste Inspiration nannte der Künstler einmal die Mumie von Ta-di_isis aus Ägypten, die in seiner Kindheit im Rätschen Museum in Chur zu sehen war. Die wenigsten wissen, dass Giger bis zu seinem Tod in seinem Ruderhaus in Oerlikon und nicht in einer Villa in Los Angeles lebte und das HR seines Vornamens eigentlich für Hansruedi steht. Der “Hieronymus Bosch des 20. Jahrhunderts” erfuhr und erfährt in vorliegender Ausstellung(skatalog) endlich die Würdigung, die ihm vorschwebte, denn als er den Oskar für Visual Effekts 1980 erhielt, war er alles andere als erfreut, wünschte er sich doch vielmehr eine Anerkennung für sein Werk als Künstler denn für einen Hollywood-Film.

Vom Chur in den Kosmos des internationalen Showbiz

Giger is one of the few artists who have left the galaxy of art in order to service the needs of the twilight zone between showbiz and the underground between Gothic and Tattoo“, schrieb damals Beat Wyss, der vom Herausgeber Beat Stutzer in seiner Einleitung zitiert wird. Die interessanten Ausführungen des Herausgebers führen die fantastische Kunst u.a. auf Füssli’s Sommernachtstraum, Böcklins Krieg oder Pest und Welti’s Geizhals zurück. Im Prolog werden Reproduktionen einflussreicher Künstler und Vorläufer Gigers abgebildet. Carlos Arenas definiert “fantastischen Realismus” als vom Künstler akzeptierte Flucht und metaphorischen Ausdruck des modernen Lebens einerseits, aber andererseits als unbegrenzte Möglichkeit: “whether as puzzle, utopia, fairy tale or …nightmare“. Die Monster werden aus der Vernunft geboren (Goya) schreibt er, aber die Hölle wird in unserer Seelen lokalisiert und nicht im Afterlife. Gigers Arbeitsweise sei in Anlehnung an die Surrealisten eine “écriture automatique” mit dem Malerpinsel, denn er malte z.B. mit Airbrush oft ohne konkrete Vorstellungen, sondern ließ sein Unterbewusstsein schalten und walten. Abgebildet wird auch die Serie Atomkinder, 1963, Gigers wohl politischstes Werk. Aber auch die Skulpturen seiner Biomechanoiden, etwa das “Kofferbaby” oder “Bettler” und “Blutuhr mit Wachskopf” sind zu sehen. Fritz Billeter weist auf das Defizit der Menschheit hin, ihren Instinkt verloren zu haben und beschreibt das mit Kafkas Satz, Schreiben (oder jeder andere künstlerischer Akt) sei “das Zögern vor der Geburt“. Ein weiteres beeindruckendes Essay stammt von Kathleen Bühler. Sie schreibt über die unsterbliche Liebe zu dem Gemälde Li II (1973-74) resp. wohl Li Tobler, die Lebensgefährtin Gigers, die viel zu früh den Freitod wählte (ein Ausschnitt des Bildes befindet sich am Cover). Zwischen 1966 und 1975 hatte Giger sie immer wieder porträtiert. Dass Giger sie als ägyptische Pharaonin Nefertiti porträtierte war wohl kein Zufall, wenn wir an den Ursprung dieses Textes zurückgehen und uns an die Ausstellung im Rätischen Museum erinnern. Aber auch die Medusa blickt aus dem Gemälde, wie Bühler aufarbeitet und anhand von Beispielen erklärt.

Kindheit und Jugend eines Schweizer Künstlers von internationalem Format

Im Anhang befinden sich eine Bio- und Bibliographie sowie eine Liste der ausgestellten Werke der Ausstellung zu der dieser Katalog erschienen ist. Ein faszinierendes Werk, das auch heute noch viele andere Künstler:innen inspiriert, nicht wegen den Aliens…Wer sich noch mehr für die frühen Jahre des Hansruedi interessiert, dem sei auch die im selben Verlag erschienene Publikation “Die frühen Jahre” (gebunden,192 Seiten, 82 farbige und 153 s/w-Abbildungen, 21 x 27 cm, ISBN 978-3-03942-196-1) ans Herz gelegt, die sich Gigers Kindheit und Jugend bis 1962 widmet. Ein Familienalbum von Charly Bieler, das 2024 in einer mehrsprachigen Ausgabe (Deutsch, Englisch, Französisch) erschienen ist.

HR Giger
The Oeuvre Before Alien 1961–1976
Herausgegeben von Beat Stutzer
2024, Broschiert, 168 Seiten, 117 farbige und 17 s/w-Abbildungen, 20 x 26.5 cm, Sprache: Englisch
ISBN 978-3-03942-136-7
Scheidegger & Spiess
CHF 49.00


Genre: Kunst, Malerei, Musik und Literatur, Science-fiction, Zukunftsvision
Illustrated by Scheidegger & Spiess

Content

Content. “Ich schaue aus dem Fenster. Menschen schwimmen auf Schlauchbooten vorbei.” Der sechste Roman des Jungautors, Poetry Slammers und Musikers Elias Hirschl und sein zweiter beim Zsolnay Verlag. Der Vorgänger, “Salonfähig”, machte ihn über Nacht “weltberühmt in Wien“, da er so ca. haargenau das Leben und Milieu eines österreichischen Spitzenpolitikers beschrieb noch bevor dieser wirklich öffentlich bekannt war. Ob Hirschl mit Content eine ebenso prophetische Gabe an den Tag legt, wird wohl die Zukunft weisen, denn bei Content handelt es sich um eine Dystopie: “Kein Gas mehr, kein Strom mehr. Kein Internet mehr. Kein Leben mehr. Das ist niemand mehr. Keine Menschen. Kein Boden. Keine Luft.” Zumindest eine Dystopie für die ChatGPT-Generation…

Content-Farm Smile Smile Inc.

In dieser Zukunft, der Zukunft des Romans, geht nichts weniger als die Welt unter. Aber es ist nicht weiter tragisch, weil die handelnden Personen ohnehin ihr Second Life als Avatare im WWW haben. So auch die namenlose Protagonistin des Romans, die für die Content-Farm Smile Smile Inc. arbeitet und sinn­befreite Listen-Artikel, die Clicks generieren sollen (“Nummer 7 wird Sie zum Weinen bringen!”), schreibt. Vielleicht hat Hirschl sogar schon seine Prophetengabe auch mit diesem Roman bewiesen, denn tatsächlich geht es schon um die Generation ChatGPT noch bevor sich diese wirklich generiert hat oder existiert oder formiert. “Politisch, prophetisch und zumindest so lange lustig, bis einem das Lachen im Hals stecken bleibt“, ist wohl die treffendste Beschreibung eines Verlagstextes zur Bewerbung eines Buches, die ich je las.

Form follows function

Denn die Listicles, YouTube-Videos, ChatGPTs, die Hirschl verfasst, entbehren – natürlich absichtlich – genau jenen Contents, nach dem der Roman benannt ist. Wer allerdings nach einer klassischen Handlung in diesem Roman sucht, sucht vergeblich, denn Hirschl springt in seinen Beschreibungen beinahe so auf dem Bildschirm herum, wie wir user, wenn wir durch das WWW surfen. Insofern kann man hier schon sagen: form follows function. Dass die namenlose Protagonistin den ganzen Text hindurch nur eine Zeile aus Robert Musils “Mann ohne Eigenschaften” zu lesen bekommt, ist vielleicht ein Synonym. Denn ebenso unverständlich wie diese Zeile für sie ist, wäre für Musil wohl ein Text von ChatGPT gewesen. Ihm hätte wohl einfach die Seele gefehlt.

Bot ohne Eigenschaften

Hirschl ist aber so eine Seele, denn er hat einen Roman für seine Generation geschrieben ohne ein Teil dieser Generation sein zu wollen. Das hat auch schon mal ein gewisser Bob Dylan abgelehnt. Aber unweigerlich wird Hirschl zum Sprachrohr seiner Generation, die mit gerade mal dreißig Jahren schon mehr in der Welt rumgekommen ist, als andere in der Pension. Mit dem Finger auf der Landkarte: das World Wide Web ist weit und die Geduld endenwollend. Der Cursor springt weiter, die Maus wird geknautscht (RSI-Syndrom). Das Lokalkolorit für seinen Roman fand der Autor übrigens in der Kohle- und Bergbauregion NRWs, er war dort Dortmund-Stadtschreiber. Bei einem Erdbeben (!) fährt die Protagonistin mit einem Lift so tief in die Grubenschächte, dass man es tatsächlich als Tiefgang bezeichnen kann: den Dingen auf den Grund gehen. Dazwischen zitiert Hirschl natürlich immer wieder die Listen seiner Protagonistin und kommt mit ihr am Ende zu einer buddhistischen Fazit-Liste (Nummer 7 wird Sie zum Weinen bringen!).

Kurzum: Hirschl hat sich einen Spaß gemacht und nimmt uns alle auf den Arm oder ist es vielmehr der Alias seiner Protagonistin im Internet, die sogar heiratet und schließlich stirbt? Ein Gastauftritt Ryan Goslings und die langerwartete Erklärung, was ein(e) IKM- Schreiber(in) so macht, sollte man schließlich ebensowenig verpassen, wie die Einträge seines eigenen Bot auf insta. Aber Achtung: das Captcha-Lösen dürfte ziemlich knifflig werden. “Die Aufgabe, ob sie ein Bot war oder nicht, wurde selbst von einem Bot angefertigt.

Elias Hirschl
Content. Roman
2024, Hardcover, 224 Seiten
ISBN 978-3-552-07386-9
Zsolnay
D: 23,00 € Ö: 23,70 €


Genre: Generation, Roman, Science-fiction, Zukunftsvision
Illustrated by Zsolnay Wien

Fahrenheit 451

Ray Bradbury: Fahrenheit 451

Ray Bradbury: Fahrenheit 451. 1953 entstanden zählt auch der hier vorliegende Roman zu den radikalsten dystopischen Zukunftsvisionen, gleich neben „1984“ von George Orwell oder „Brave New World“ von Aldous Huxley. In nur neun Tagen soll ihn der damals 33-jährige frischgebackene Vater, Ray Bradbury, geschrieben haben, wie Peter Torberg in seinen Anmerkungen am Ende des Romans schreibt.

Bradury’s feuerlegende Feuer(-wehr-)männer

In seiner editorischen Notiz erklärt er auch manche Widersprüche, Unklarheiten oder nicht ganz aufgelöste Stellen im Text durch die Übersetzung. Als Beispiel nennt er etwa auch das englische „fireman“, dem die Doppeldeutigkeit der deutschen Übersetzung mit „Feuerwehrmann“ gänzlich abgeht. Deswegen wählte Peter Torberg für Guy Montag, den Protagonisten des Romans auch „Feuermann“: „In der Welt die Ray Bradbury für seine Leserinnen erschaffen hat, in der Lesen geächtet und Wissen nicht erwünscht ist, in der auf Buchbesitz Strafe steht und die Menschen mit Entertainment und Dauerberieselung unmündig gehalten werden, dort ist die Bedeutung einer Feuerwehr durch das Umschreiben der Menschheitsgeschichte schlicht unbekannt.“ Die Feuermänner in „Fahrenheit 451“ löschen nämlich kein Brände, sondern sie legen sie, sie sind gleichsam dazu da, zu vernichten und zu strafen, Bücher zu verbrennen oder manchmal auch ganze Häuser, notfalls auch zusammen mit den Bewohnern.

Fahrenheit 451: Zeitalter des Papiertaschentuchs

Wie Parfüm wirkt das verwendete Kerosin der Feuerbrigade auf ihn, schwärmt Montag seiner Angebeteten Clarisse vor. Ebenso schwärmerisch antwortet sie ihm: „Ich rieche gerne an Dingen und schaue sie mir an, und manchmal bleibe ich die ganze Nacht auf, gehe spazieren und schaue zu, wie die Sonne aufgeht“. Die beiden leben nicht umsonst im „Zeitalter des Papiertaschentuchs“: „Man schneuzt sich mit einer Person, zerknüllt sie, spült sie hinunter, greift nach der nächsten, schneuzt sich, zerknüllt, spült hinunter“. Aber Clarisse ist jedenfalls anders als seine Frau Mildred. Diese bevorzugt es zu Fernsehen und das Bücherlesen ist ihr ein Grauen. Sie steht auch für die Mehrheit der Bevölkerung in Bradburys Roman die Bücherlesen per se ablehnen, da es sie in eine schlechte Stimmung bringe und zu nachdenklich mache. Ray Bradbury hat in späteren Interviews betont, dass der Roman in einer Zeit entstanden sei (50er Jahre) in der das Fernsehen die Schrift ablöste, als Bücher und Zeitungen immer weniger konsumiert wurden. Genau davor sollte sein Roman warnen.

Fahrenheit 451 und die korrekten Zahlen

Bei der Titelwahl hatte er allerdings schlicht Celsius mit Fahrenheit verwechselt, denn Papier entzündet sich erst bei 451 Grad Celsius, nicht Fahrenheit (451 Grad Fahrenheit wären nur 232,7 Grad Celsius), so Gary Dexter, der in seinem Blog  den alternativen Titel „Fahrenheit 843“ vorschlägt, der tatsächliche Temperatur Celsius also bei der sich Papier selbst entflammt. Dass das Internet-Zeitalter Ray Bradburys Schreckensvision von 1953 längst überflügelt hat, mag den Autor vielleicht noch erreicht haben. Er starb am 5. Juni 2012 in Los Angeles und meinte über Michael Moore, der einen seiner Filme Fahrenheit 9/11 (2004) nannte, einen „dämlichen Drecksack“, weiter zitiert ihn die deutsche FAZ: „So denke ich über ihn. Er hat meinen Titel geklaut und die Zahlen ausgewechselt, ohne mich jemals um Erlaubnis zu fragen.“ Gary Dexter hätte hier wohl das letzte Wort, wenn er Ray Bradbury einen „dämlichen Drecksack“ nennen würde. Tut er aber nicht.

Ray Bradbury

Fahrenheit 451

Aus dem Amerikanischen von Peter Torberg

2020, Hardcover Leinen

272 Seiten

ISBN: 978-3-257-07140-5

€ (D) 24.00 / sFr 32.00* / € (A) 24.70

Diogenes Verlag


Genre: Dystopie, Roman, Science-fiction, Zukunftsvision
Illustrated by Diogenes, Diogenes Zürich