Die Krake im Nacken

Die Krake im Nacken. Zerocalcare ist einer der bestverkauften zeitgenössischen Comiczeichner Italiens. Sein neuestes Werk ist wieder autobiografisch und autofiktional zugleich. Nach seinem autobiografischen Reisebericht im syrisch-türkischen Grenzgebiet, “Kobane Calling” (2017) und der Fortsetzung “No sleep Till Shingal” (2022), thematisiert er in “Vergiss meinen Namen” und “Die Krake im Nacken” wieder seine Familiengeschichte.

Die Krake (der Reue) im Nacken

Drei Freunde, ein Schulhof, ein dunkles Geheimnis. In “Die Krake im Nacken” führt uns Zerocalcare, bürgerlich Michele Rech aus Arezzo, zurück in seine Schulzeit, in der Mutproben, langweilige Unterrichtsstunden und die erste Liebe den Alltag prägten. Zerocalcare und seine Freunde machen außerhalb des Schulgeländes einen mysteriösen Fund. Dieser sorgt alsbald nicht nur in der Schule für Durcheinander, sondern bringt auch Zero selbst in Schwierigkeiten. Aber: “Die Zughörigkeit zu einer Gemeinschaft basiert u.a. auf geteilten Grunderfahrungen”, da gehören Taufe, Kommunion und andere Rituale eben eindeutig dazu. Und dazu kommt noch der Gruppendruck, die seltsame Dynamik die sich zwischen Jugendlichen in der Pubertät entwickelt. Nicht nur eine Menge Progesteron wird hier von den Halbwüchsigen im Putzmittel vermutet, sondern auch eine Menge Testosteron wabert in einer Holzhütte herum, wo sich ziemlich “stereotype Frauenbilder” an den Wänden befinden. Natürlich spielt dies auf die weit verbreitete Selbstbefriedigung an, die nicht nur in den 80er als “wichsen” bezeichnet wurde. Im Leben jedes Jugendlichen gibt es diesen “Sliding Doors Moment”, in dem man sich entscheiden muss.

Die Krake der Gewissensbisse

Die “Krake im Nacken” steht – so viel darf verraten werden – sinnbildlich für die Reue. Nicht unbedingt für die Reue über die Selbstbefriedigung, vielmehr über die Reue an sich. “Calcare nicht rennen, wer rennt zeigt Begeisterung”, maßregelt ihn ein Kumpel und bremst seine Begeisterung gleich ein. Denn wer will in dem Alter nicht cool rüberkommen? Eine Notlüge später sind sie dann da, die Gewissensbisse, die Zerocalcare von nun an für den Rest seines Lebens begleiten werden. Seine Jugendlichen hat Zerocalcare mit spitzem Stift sehr gut getroffen, er porträtiert aber auch vermenschlichte Tiere und die Helden seiner Kindheit wie etwa Kurt Cobain, Che Guevara u.a. Zerocalcare macht die emotionalen Turbulenzen und Beklemmungen der Adoleszenz fühl- und greifbar. In drei Episoden erzählt Zerocalcare ehrlich und humorvoll vom Erwachsenwerden, von der Grundschulzeit, den turbulenten Jahren der Mittelstufe und seinen Anfängen als Blogger und von den Herausforderungen, die jede dieser Lebensphasen mit sich bringt. Die im Titel angesprochene Krake im Nacken wird zum Symbol für Schuldgefühle, die einem den Hals zuschnüren, wenn man am wenigsten damit rechnet.

Auf Netflix sind zwei von Zerocalcare gezeichnete Serien erschienen, die zu den meistgesehenen italienischen Serien überhaupt aufstiegen. Eine Entdeckungsreise in die eigene Adoleszenz und ein Moment der Rückschau, der uns allen vielleicht wieder einmal gut tut, besonders natürlich in so unterhaltsamer Form wie in einem Comic.

Zerocalcare
Die Krake im Nacken
Text & Zeichnungen: Zerocalcare
Übersetzung aus dem Italienischen von Myriam Alfano
2024, 192 Seiten, Hardcover, 17 x 24,5 cm, schwarzweiß
ISBN: 978-3-96445-125-5
avant-verlag
25,00 €

 


Genre: Autobiographie, Comic
Illustrated by Avant Verlag

Der Götzendiener

Der Götzendiener. “Ich werde von nichts anderem reden als von mir“, kündigt eines der Alter Egos großspurig an. Der Texter und Zeichner des Bestsellers “Die Katze des Rabbiners“, Joann Sfar, legt mit der “Götzendiener” sein bisher persönlichstes Werk vor. Denn es geht um nichts weniger als Idolatrie, den Götzendienst, eigentlich eine Sünde in vielen Glaubensgemeinschaften.

Lust an der Teilhabe

Auch im Judentum, dem seine Familie angehört, ist es eigentlich verboten, ein Bild anzubeten oder sich Bilder zu machen. “Die Götzenanbetung! Wenn du ein Bild mehr liebst als die Wirklichkeit, dann bist du verloren”, gibt ihm eine seiner Freundinnen zu bedenken und wie der Protagonist aus eigener leidvoller Erfahrung weiß, kriegt man auch keinen hoch, wenn man beim Sex Bilder im Kopf hat. Zumindest als Zeichner. Der junge Alter Ego von Joann Sfar lebt in Nizza und liebt die Pizzeria der Cresci-Brüder, weil sie Cantal-Käse statt Mozzarella verwenden. Als er das erste Mal Bilder von Chagall im Museum hängen sieht, wird er inspiriert, denn gerade die Einfachheit der Bilder ermuntere auch Kinder, den Zeichenstift zur Hand zu nehmen: “Das kann ich auch!” Chagall lade eben zur Teilhabe ein, anders als etwa Asterix: “Die Lust an der Teilhabe. An der Imitation: Meine Kinder-Kritzeleien zerbröselten angesichts der Perfektion von Asterix. Vor Asterix blieb mir der Zugang zur Kunst verschlossen. Einige Jahre später hat sie sich dank Chagall geöffnet.”

Zeichnen als Überlebenselixier

“Genau deswegen sind Fotos auf jüdischen Gräbern verboten. Man soll die Erinnerung an einen Verstorbenen nicht erstarren lassen”, erklärt ihm ein Rabbi. Götzenanbetung sei, wenn man sich lieber einem Bild anvertraut als der Welt. “Sieh nicht mehr das Bild an”, rät er ihm beim Betrauten eines Fotos seiner Mutter, “Sag ihren Namen und sprich mit ihr! Ein Bild verwehrt den Dialog. Es ist wie eine verschlossene Tür. Ein Foto, das ist der Grabstein.” Lustig wird es, wenn sich der kleine Joann Fragen zur Regel stellt, denn im Französischen ist es dasselbe Wort wir für Lineal. “Nichts existiert außerhalb des Bildes“, meinte schon Fritz Lang. Sein Vater unterstützt die Zeichenversuche seines Sohnes halbherzig, denn er weiß, dass es nie ein ökonomisches Modell um vom Zeichnen zu leben existiert hat. Joann schickt nichtsdestotrotz alle seine Zeichnungen an die unterschiedlichsten Verlage, bis er endlich bei Castermann arbeitet, allerdings in einer anderen Abteilung als gewünscht. Dennoch reicht der Hinweis auf den Verlag schon, um das Selbstbewusstsein zu steigern: “Es ist sehr wichtig zu lügen! Zunächst animiert es dazu, sich auf die Höhe unserer Märchen zu schwingen.”

Kindheitserinnerungen einer Halbwaise

Der Götzendiener” beschäftigt sich mit der Abwesenheit der Mutter des Autors, denn diese starb, als er noch ein Kleinkind war. Vielleicht hat dieser (zu) frühe Verlust seinen Werdegang als Künstler beeinflusst. Joann Sfar blickt zurück auf seine Kindheit und die prägendsten Momente und Begegnungen auf seinem Weg zum gefeierten Comicautor. Joann Sfar wurde mit dem Max und Moritz-Preis für sein herausragendes Lebenswerk beim Comic-Salon Erlangen 2024 geehrt.

Joann Sfar
Der Götzendiener
Text & Zeichnungen: Joann Sfar
Übersetzung aus dem Französischen von Marcel Le Comte
2024, Hardcover, 208 Seiten, 21 x 28 cm, vierfarbig
ISBN: 978-3-96445-107-1
avant-verlag
30,00 €


Genre: Autobiographie, Comic
Illustrated by Avant Verlag

Man kann auch in die Höhe fallen (Alle Toten fliegen hoch Band 6)

Man kann auch in die Höhe fallen. “Danke, Mama, ich glaube es wird besser.” Joachim Meyerhoff aus Schleswig hat als Schauspieler unter anderem am Burgtheater in Wien, am Schauspielhaus in Hamburg, an der Berliner Schaubühne und den Münchner Kammerspielen gespielt. 2011 begann er mit der Veröffentlichung seines mehrteiligen Zyklus “Alle Toten fliegen hoch” von der er mit “Man kann auch in die Höhe fallen” den sechsten Teil vorlegt.

Auszeit von Beruf und Familie

Seine 86-jährige Mutter bildet die erzählerische Klammer für diesen autofiktionalen/autobiografischen Roman, der sich der Literaturkategorie “grotesker Humor” zuordnen lässt. Oder wie es Meyerhoff selbst schreibt, der Anekdote, die “von allen literarischen Spielarten am meisten missachtete“, so Meyerhoff. Die wichtigste Eigenschaft der Anekdote sei, dass sie treffend ist, schreibt er, denn ob lang oder kurz, witzig oder scharfsinnig, es sei nicht so ganz klar, was sie außerdem noch alles auszeichnet. Meyerhoff bezeichnet die Anekdote auch als “eine winzige Quelle, aus der ununterbrochen, seit Anbeginn der Zeit, das klarste Wasser sprudelt. Müde und ausgelaugt vom Besteigen literarischer Achttausender kann man sich hier erfrischen und kurz verweilen“.

Landflucht aus Berlin

Dass für ihn als Schauspieler das Theater eine unerschöpfliche und vor allem verlässlicher Anekdotenlieferant ist, braucht nicht extra hinzugefügt werden. Amüsant sind seine Geschichten allemal und anfangs jagt wirklich eine Pointe die andere, bis der Autor zwischendurch auch mal nachdenklich wird. Nach einem Schlaganfall hat er sich auf das “Anwesen” seiner Mutter in Schleswig zurückgezogen. Einerseits, weil er sie viel zu wenig sieht und noch etwa genießen möchte, andererseits auch weil er seiner eigenen Familie entfliehen möchte. Bei der Geburtstagsfeier seines Sohnes ist er ausgerastet und schämt sich dafür so sehr, dass er einfach flüchtet. Natürlich möchte er seine Auszeit auch dafür nützen einen neuen Roman zu schreiben, doch erst muss er für seine Mutter im Garten einspringen. Denkt er.

Von der Idylle zur Tristesse

Tatsächlich ist die 86-jährige Susanne, seine Mutter, teilweise noch rüstiger als er und vor allem resilienter. Für sie beginnt jeder Tag von neuem, weil jeder der letzte sein könnte. So vermutet Meyerhoff, dass dies auch ihr Erfolgsgeheimnis sein dürfte: “Alles immer von vorne, jeden Tag aufs Neue von vorne zu beginnen, war für sie zu einer unantastbaren Selbstverständlichkeit geworden. Ich begriff, dass das neben der nie versiegenden Emsigkeit der Schlüssel ihrer Widerstandskraft war. Auch war ihre völlige Unfähigkeit zu jammern ein wahrer Lebensquell.” Der 30 Jahre jüngere Sohn lernte nicht nur die Gartenarbeit von seiner Mutter, sondern auch, was das Leben wirklich lebenswert macht: von den Menschen umgeben zu sein, die einen lieben. Als seine Mutter mit einem Mann nach Marokko auf Urlaub fliegt, wird dem Erzähler die Einsicht bewusst, dass ohne sie alles nichts ist und selbst der Garten vom Kummer ob der Abwesenheit der Mutter erfüllt schien.

Mutter statt Scham und Bühne

Sie hatte das Haus, den Garten und selbst das Mähfahrzeug mit Leben erfüll, was ihm, ihrem Sohn nicht gelang. Die Bewusstwerdung der Endlichkeit seines und ihres Lebens schüttelt den Erzähler so richtig durch, bis er bemerkt, dass selbst die Nacktschnecken sich in der Abwesenheit seiner Mutter bedrohlich näher ans Haus heranarbeiteten. Vielleicht liegt darin die Seligkeit des Lebens: im Handeln und Tun und nicht im Grübeln. Aus dem geplanten Roman mit dem Titel “Scham und Bühne” wird eine Geschichte über Leben und Tod, vor allem aber über die Dinge, die am Leben Spaß machen. Dazu gehört sicherlich auch der teilweise groteske Humor des Autors, der einen leichtfüßig wie eine Hummel durch diesen Roman voller Kindheitserinnerungen, Theaterschrullen und eben Anekdoten torkeln lässt. Witzig, unterhaltsam und voller spritziger Pointen, die wenn nicht wahr, doch sehr gut erfunden sind!

Joachim Meyerhoff
Man kann auch in die Höhe fallen
Roman
Alle Toten fliegen hoch, Band 6#
2024, gebundene Ausgabe, 368 Seiten
ISBN: 978-3-462-00699-5
Kiepenheuer&Witsch
26,00 €

 


Genre: Anekdoten, Autobiographie, Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Thomas Bernhard: Autobiographie als Graphic Novel

Seit 2018 erscheint die Autobiographie Thomas Bernhards als Graphic Novel in Einzelbänden beim Salzburger Residenz Verlag. Dieses Jahr erstmals sind die ersten fünf Bände der Graphic Novel im Schuber als ideales Geschenk für alle Thomas-Bernhard-Fans erschienen.

Eine Kindheit zwischen NS und Katholizismus

Lukas Kummer, der die Bände illustrierte, arbeitet seit 2009 als Illustrator, Autor, Storyboard Artist und Gestalter. Seine erste Thomas Bernhard-Graphic Novel „Die Ursache“ kam auf die Comic-Bestenliste. Gelobt wurden u.a. seine eindrücklichen Bilder und die kongeniale grafische Verbindung seiner Zeichnungen mit den Stilmitteln des Autors Thomas Bernhard. Denn dieser arbeitete gerne mit Wiederholungen und Übertreibungen, um seinen Aussagen mehr Gewicht zu verleihen. In seinen fünf Bänden zwischen Dichtung und Wahrheit, die im Residenz Verlag auch schon als normale Bücher erschienen sind, zeigt er etwa die Monotonie des Internatsalltags oder die Ähnlichkeit der nationalsozialistischen mit den späteren katholischen Erziehern so lebensnah, dass sie zum Greifen echt werden. Wenn der junge Bernhard sich etwa in der Schuhkammer des Internats zurückzieht, um an der Geige zu üben, werden die Schuhe zu einer erdrückenden Pyramide gestapelt vor deren Wiederholung die Selbstmordgedanken des Zöglings allzu nachvollziehbar werden.

Selbstmord oder Resilienz

Diese eindrückliche Szenerie wiederholt sich auch im Schlafsaal, wo das Schicksal und die Bedürfnisse des Einzelnen der Masse untergeordnet werden und nur durch die tägliche Gute Morgen Ohrfeige des Aufsehers Grünkranz unterbrochen wird. Thomas Bernhard spricht von einer Gemütsverdüsterung und Gemütsverfinsterung die zu seiner Gemütszerstörung geführt habe, in eben diesem Internat in Salzburg, dem Joanneum. Als “die Farbe der Mächtigen wieder von braun auf schwarz wechselt“, wie Bernhard süffisant schreibt, ändert sich vorerst nichts: Der Geistliche hatte “das Erbe nationalsozialistischen Grünkranz angetreten, er war genauso gefürchtet und gehaßt wie Grünkranz und er war wahrscheinlich ein ebensolcher uns alle abstoßender Charakter“. “Der NS hatte die gleiche verheerende Wirkung auf alle diese jungen Menschen gehabt, wie jetzt der Katholizismus.” Beides sind für Bernhard ansteckenden Krankheiten, Geisteskrankheiten, sonst nichts.

Das “Straflager Leben”: Internat, Schule, Gymnasium

Damit nicht genug, litt der junge Bernhard zudem noch an einer Lungenkrankheit, die ihn beinahe schon in jungen Jahren dahingerafft hätte. Als dann seine wichtigste Bezugsperson, sein Großvater, stirbt und ein halbes Jahr später seine Mutter, gibt es für Thomas Bernhard nur mehr einen Weg zu überleben: er muss der Schriftsteller werden, der sein Großvater immer werden wollte. Das schaffte er nur durch die Überwindung der Scham, denn “nur der Schamlose schreibt. Nur der Schamloseste ist authentisch.” Das Schreiben nennt er auch “das sich preisgeben vor sich selbst“. Von seinem Vater, er seien Mutter im stich ließ findet er nur die eine Spur: er hatte sein Elternhaus mit einer solchen Präzison abgebrannt, dass es gerade aufloderte als er mit dem Zug daran vorbeifuhr.

Heimat im Schreiben

Mit diesem Blick auf das brennende Elternhaus hatten er nicht nur die Heimat, sondern überhaupt den Heimatbegriff (für sich) ausgelöscht.” Vor der “Finsternis des Vergessens” wollte er seine Erinnerungen retten und fing wohl auch deswegen an zu schreiben. Aber vorerst musste er noch die Jahre in der Lungenheilanstalt und die medizinischen Prozeduren hinter sich bringen. Sie werden von Lukas Kummer realistisch gezeichnet und in ihrer ganzen Dimension spürbar. Etwa wenn das Sputum in Flaschen produziert werden muss oder das Pneumoperitoneum eingesetzt wird. Der “Strafvollzug Leben” wie Bernhard es nannte, wird augenscheinlich. In “Atem” beschreibt er, dass nur die Nähe seiner Lieben – sein Großvater war im selben KH Patient – ihm das Überleben sicherte. In “Der Keller” erzählt er von seiner Kehrtwendung, denn er wollte in die “entgegengesetzte Richtung“, nicht ins Gymnasium, sondern in den Handel, die Lehre.

Fluchtpunkt Scherzhausersiedlung: die entgegengesetzte Richtung

In der Scherzhausersiedlung, dem schlechtesten Viertel Salzburgs, wollte er das Leben lernen wie es ist, mit einfach Leuten, die vom Schicksal nicht gerade begünstigt waren. “Hier konnte ich sein wie ich war. Und alle anderen konnten sein wie sie waren.” Im (wohl nur vorläufig) letzten Band vorliegender Sammlung, “Das Kind“, lobt Bernhard wieder den Großvater und stellt ihn seiner prügelnden Mutter gegenüber. Sie schlug ihn mit dem Ochsenziemer, weil sie seinen Vater, der sie verlassen hatte, in ihm sah. “Wir haben von Aufrichtigkeit und von Klarheit geträumt, aber es ist beim Träumen geblieben. Aber es ist alles egal. Manchmal erheben wir alle unseren Kopf und glauben die Wahrheit oder die scheinbar Wahrheit sagen zu müssen und ziehen ihn wieder ein. Das ist alles.“, heißt es in “Der Keller” aber wir alle wissen, das dies noch lange nicht alles ist.

Lukas Kummer verschafft dem Sprachduktus Bernhards klare Linien, er zeichnet scharfe Konturen und eindringliche Winkel, in die sich die Gedanken flüchten, wo sie aber auch gestellt werden und die Worte eine klarere Nachhaltigkeit bekommen. Im Residenzverlag sind neben den Originaltexten zu vorliegenden Graphic Novels auch andere Bücher von Thomas Bernhard erschienen.

Thomas Bernhard
Lukas Kummer (Illustrationen)
DIE AUTOBIOGRAPHIE ALS GRAPHIC NOVEL
5 Bände im Schuber
2024, Hardcover, 560 Seiten, 170 x 240cm
ISBN: 9783701717965
Residenz Verlag
€ 99,00


Genre: Autobiographie, Comic, Gegenwartsliteratur, Graphic Novel
Illustrated by Residenz

Devil in a Coma

“Devil in a Coma. A memoir” von Mark Lanegan

Devil in a Coma. A Memoir. “It’s hard to know where you are when you’re trying to read a map by the light of a falling star.” Kurz vor Mark Lanegans Tod erschien seine Autobiographie “Sing backwards and Weep” (deutsch bei KIWI) und vorliegendes “memoir”, so der Untertitel. “Devil in a Coma” beschreibt Lanegans Covid-Erkrankung  und die (vorläufige) Genesung. Der Text ist einerseits Prosa, andererseits Poesie, denn einige seiner letzten Gedanken schreibt er in Gedichtform. Bei Erscheinen des Buches 2021 war noch nicht klar, dass er (so schnell) an den Folgen der Pandemie sterben würde.

Abschied von einer Legende

A memoir” ist insofern ein gut gewählter Untertitel, weil er noch einmal daran erinnert, welchen großen Künstler die Welt in Mark Lanegan versorgen hat. Als Sänger der Seattle-Band “Screaming Trees” wurde er bekannt, durchgesetzt hat sich sein Talent aber vor allem in seinen Soloalben und unzähligen Kollaborationen mit den besten Künstlern der Rock- und Undergroundszene des 20. und 21. Jahrhunderts: Kurt Cobain, Pearl Jam, Marianne Faithfull, Moby,  Queens of the Stone Age, UNKLE, Greg Dulli, PJ Harvey oder Isobell Campbell, to name only a few. Legende sind aber auch nicht nur seine Alben und seine Reibeisenstimme, sondern auch sein Drogenkonsum, den er in “Alles Dunkel dieser Welt” (KiWi 2021/22) ebenso lakonisch wie lässig ausgiebig beschrieb.

Devil in a Coma. A memoir.

Aber beim Verfassen seiner Autobiographie und von “Devil in a Coma” war dies alles lange her, 15 Jahre schreibt er an einer Stelle und fügt gleich hinzu, dass ihm das sowieso niemand glauben würde. Seit Saint Paddy’s Day 2021 war Lanegan in der Kerry Klinik in Irland interniert. Neben der schwachen Lungenfunktion und Nierendysfunktion von nur mehr 30% litt er unter Gehunfähigkeit, Verlust des Geschmacksinns, was ihn 25 Pfund verlieren ließ, sowie Taubheit. Als lebensrettende Maßnahme hätte ein Luftröhrenschnitt (Tracheotomie) durchgeführt werden soll, wozu seine Frau Shelley aber die Zustimmung verweigerte. “Whatever was in this shitwagon I’d caught a ride on, it was no fucking joke“, kommentiert Lanegan seinen körperlichen und bald auch seelischen Zustand. Denn instinktiv begreift er, dass “this is clearly the fall I won’t get up from“. Erschwerend hinzu kam, dass all die niedrigen Dosen der Schmerzmittel, die ihm verordnet wurden, nichts mehr bewirkten, da sein Körper schon von seinem Vorleben Elefantendosen davon gewohnt war.

Devil in a coma: “I finally made it home

“Devil in a coma” wird zu einem erschütternden Bericht eines Menschen, der sich vom Leben lossagen muss, obwohl er gerade erst seine Heimat in Irland gefunden hatten. Obwohl er das kalifornische Klima vermissen würde, war sein erster Gedanke bei der Ankunft in Irland: “I felt like I hat finally made it home“. Absurderweise stammte auch seine Ursprungsfamilie väterlicherseits aus dieser Gegend Irlands, aber sie wanderten nach Amerika aus. Eigentlich wollte Mark mit Shelley noch weiter nach Portugal, um sich dort endlich niederzulassen, aber das Schicksal hielt ihn am Ort seiner Wurzeln fest. “Music was no longer my friend“, so schlecht ging es ihm und er macht sich Gedanken über seine Beziehungen in denen er immer verlassen wurde, aber stets war er sofort wieder in einer anderen Geschichte: “as one thing ended I was already into something else. I was natural at losing (…).”

The Darkest Part. A memoir.

Mark Lanegan spricht offen über seine schlechte Beziehung zu seiner Mutter, aber auch zur Welt an und für sich. “I’ve always had a bad habit (…) the tendency to mirror my surroundings with my mood“. “Lanegan is the Titanic, you’d better get off before he goes down”, warnte sein Manager schon vor Jahren eine Freundin von ihm. “The truth is I could turn brilliant sunlight dark as the grave with my deadly Powers of Perzeption. I guess it’s all in how you choose to Look at things.” Letzteres mag vielleicht auch ein Rat gewesen sein, es nicht so wie er zu machen. In einem Gedicht, The Darkest Part, bringt er es noch pointierter: “(…)I’ve struggled to love life/ (…) and though I have often failed /and will again/God knows the Better Part of me.

Pete Townshend School of Thought

This is the price I have paid for stubbornness and recalcitrance“, schreibt er, in his “endless search what I was never going to find“. Aber er bedankt sich noch bei jenen, die immer für ihn da waren, egal wie dumm er sich benommen hatte. In einer Erinnerung beschreibt er eine Begegnung als Kind mit seiner Mutter. Als sie ihre Großmutter in einem Heim besuchte, erkannte ihn eine Bridgepartnerin seiner Mutter, die im Rollstuhl saß und sich Hilfesuchend an seinem Arm festhielt. Sie hatte ihn erkannt und wollte raus dort, sie wollte nicht dort sterben oder verschwinden oder untergehen. Mark Lanegan hatte ebenso die Pete Townshend school of thought, wie er es nennt, bevorzugt: “I hope I die before I get old“.

Mark Lanegan starb am 2.2.22 im Alter von 57 Jahren in seinem Heim in Irland. RIP. May his soul rest in peace.

Mark Lanegan
Devil in a Coma
2021, Hardcover, 160 Seiten, Format 200 x 132mm
ISBN 9781399601849
£12.00
White Rabbit Books

 


Genre: Autobiographie
Illustrated by White Rabbit Books

Alles Dunkel dieser Welt

Alles Dunkel dieser Welt. “Sing backwards and weep” (so der amerikanische Originaltitel) ist ein beklemmendes Geständnis eines Musikers, der die Neunziger mit seiner Band “Screaming Trees” ebenso prägte wie als Solist die heutige Zeit. Seine Kollaborationen mit Kurt Cobain, Pearl Jam, Marianne Faithfull, Moby, Queens of the Stone Age, UNKLE, Greg Dulli, PJ Harvey oder Isobell Campbell sind legendär. Der aus Ellensburg, Washington stammende Musiker lebt heute in Los Angeles.

Autorisierte authentische Autobiographie

“Gott, mach einen anderen Menschen aus mir!” Die Screaming Trees war eine 1985 in Seattle gegründete Band die den sog. Grunge-Sound ebenso mitgestaltete wie prägte. Allerdings blieb die Band um Mark Lanegen und die beiden Conner-Brüder (später kam noch Josh Homme dazu) kommerziell stets unter den Erwartungen zurück. Einzig das in einem mediokren Film über die Seattle-Grunge-Szneen (“Singles“) verwendete “Nearly Lost you” wurde zu ihrem Hit. Aber auch der wurde zum zweischneidigen Schwert: zwar brachte er ihnen Bekanntheit, aber statt ihrem zur selben Zeit erscheinenden AlbumA verkaufte er den Soundtrack des Films. Aber das ist nur eine von vielen Niederlagen, die Mark Lanegan in seinem Leben einstecken musste, wie er selbst entwaffnend und ehrlich wie seine Autobiografie geschrieben ist, zugibt. Als Sohn einer Alkoholikerin, die ihm stets nur Vorhaltungen machte, statt ihn zu lieben, schlitterte er selbst bald in die Drogenszene von Ellensburg. “Mit zwölf war ich ein notorischer Zucker, Jungalkoholiker, Dieb und Pornofan.” Vorerst blieb es zwar bei Gras und Alkohol, aber alsbald landete er bei Heroin und Crack. Ersteres konsumierte er laut eigenen Aussagen aber vor allem, um vom Alkohol loszukommen, denn sein Konsum machte einem gewissen Jim Morrison alle Ehre.

Mit dem Segen von Cash

Aber anders als letzterer, hatte Lanegan stets Geldsorgen und musste sich als Kleinkrimineller betätigen, um seine Süchte finanzieren zu können. Sein Repertoire reichte von einfachem Diebstahl bis hin zu Versicherungsbetrug und Einbruch. Und das alles schon als Minderjähriger. Als Erwachsener betätigte er sich dann lieber als Dealer, damit etwas von dem Stoff auch für ihn abfiel. Nebenbei belieferte er übrigens auch seinen Grunge-Kumpan Kurt Cobain oder sein großes musikalisches Vorbild Jeffrey Lee Pierce von Gunclub, aber auch mal Nick Cave und andere Musikgrößen. Die Erzählungen seiner Drogenkarriere sind schier unglaublich und oft frägt man sich, wie so ein Wrack überhaupt noch auftreten und singen konnte. Aber anders als viele seiner Kollegen der damaligen Ära überlebte Mark Lanegan wider Erwarten und steht heute als einer der gefragtesten Musiker ganz oben auf der Liste internationaler Booking-Agenturen. Denn seine Stimme hat einen Bass und ein Timbre, was selbst einem Johnny Cash Respekt abrollte: “Tut mir leid, dass ich deinen Namen nicht mehr weiß, mein Junge“, sagte Cash einige Zeit nach ihrer ersten Begegnung zu ihm, “aber an deine Stimme erinnere ich mich. Du hast mich fast in den Schatten gestellt bei unseren paar Auftritten“.

Vom Saulus zum Paulus

“Whitey Ford”, “Lucky”, “Old Scratch”, “Red” waren noch einige seiner schmeichelhaftesten Spitznamen mit denen der Rothaarige mit der rauen Stimme von seinen Mit-Junkies bezeichnet wurde. Denn neben seiner Suchtmentalität hatte Mark auch zeitlebens ein Gewaltproblem, das häufig dann auftrat, wenn er keinen Stoff auftreiben konnte. Eine Episode seiner Drogenbeschaffungskriminalität, die in Amsterdam stattfindet, liest sich wie ein Noir aus den Vierzigern, der einem die Gänsehaut aufsteigen lässt. Aber auch sein Verhältnis zum schwachen Geschlecht wird natürlich ausführlich thematisiert. Denn abgesehen davon, dass Lanegen nichts anbrennen ließ, handelte er sich auch allerhand Geschlechtskrankheiten ein. Aber es gab natürlich auch die Liebe in seinem Leben. Abgesehen von Deborah oder Shadow und Maria gab es auch eine gewissen Pattstellung zwischen Selene und Anna, seiner Langzeitbeziehung. Aber auch seine problematische Beziehung zu seiner Mutter, die ausgerechnet eine Dozentin für Elementarpädagogik war, und seiner Schwester wird von Lanegan aufgearbeitet. In seiner Erzählung zum Showdown bei Weihnachtsfest, erinnert Lanegan fast etwas an Raskolnikow, den Protagonisten aus Dostojewskijs “Schuld und Sühne“. Auch Rodion Romanowitsch Raskolnikow wollte die Heirat seiner Schwester verhindern. Wahrscheinlich ist es nur der Musik zu verdanken, dass Lanegan nicht zu einem amerikanischen Raskolnikow wurde. Aber vielleicht trifft das auch auf viele andere Künstler zu.

Ein beeindruckendes Werk, das einem gerade trotz und wegen des ganzen Macho-Shits einen selten empfundenen Eindruck von Authentizität vermittelt. Und vielleicht ist ihm sein in einer Nervenheilanstalt in größter Verzweiflung geäußerte Wunsch in Erfüllung gegangen. “Gott, mach einen anderen Menschen aus mir!” Sein umfangreiches Repertoire seit dem Ende der Screaming Trees im Jahre 2000 und seine vielseitigen Kollaborationen legen ein beeindruckendes Zeugnis davon ab, dass die Wandlung vom Saulus zum Paulus durchaus gelingen kann.

 

Mark Lanegan
Alles Dunkel dieser Welt. Eine Autobiografie
Aus dem Amerikanischen von Nicolai von Schweder-Schreiner
Originaltitel: Sing backwards and weep
Originalverlag: Orion
Hardcover, Pappband, 448 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-453-27344-3
€ 24,00 [D] € 24,70 [A]

Heyne Hardcore


Genre: Autobiographie, Grunge, Heroin, Neunziger, Seattle
Illustrated by Heyne Hardcore