Und Federn überall

Sechs Moment-Aufnahmen

Vor wenigen Tagen erschien der dritte Roman der Schriftstellerin Nava Ibrahimi, der für den Deutschen Buchpreis nominiert ist. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist die deutsch-iranische Autorin durch die Verleihung des Ingeborg Bachmann Preises. Der kryptische Titel dieses neuen Romans weist auf den Ort der Handlung hin, die fiktive kleine Stadt Lasseren im Emsland, die beherrscht wird von einem gigantischen Geflügel-Schlachthof am Stadtrand, mit weitem Abstand wichtigster Arbeitgeber und das Zentrum dieser Erzählung bildend, die sich an einem einzigen Tag abspielt, einem Montag. Für die sechs Protagonisten des Romans steht an diesem Tag viel auf dem Spiel. In kurzen, manchmal nur eine Seite umfassenden und mit ihrem Namen betitelten Kapiteln wird auktorial über jeweils eine der Romanfiguren berichtet. Ausnahme dabei ist eine aus der Ich-Perspektive erzählende und in die Handlung eingebundene deutsch-iranische Schriftstellerin (sic)!

Es beginnt mit «Roshi», ebendieser Schriftstellerin, die wegen der Übersetzung von Gedichten eines Afghanen aus Köln kommend morgens in Lasseren eintrifft. Gleich im nächsten Kapitel über «Sonia», die in äußerst prekären Verhältnissen lebt und im Schlachthof am Fließband arbeitet, wird es dramatisch. Die allein erziehende Mutter zweier Kinder bekommt nämlich mit ihrer extrem aufmüpfigen Tochter einen heftigen Streit. Der eskaliert darin, dass Sonia ihr das Smartphon abnimmt, – quasi die Höchststrafe -, und sie in ihrem Zimmer einschließt, so dass sie nicht zur Schule gehen kann und eine Mathearbeit versäumen wird. Der für die Prozess-Optimierung im Schlachthof verantwortliche, fünfzigjährige «Merkhausen» wurde von seiner Frau verlassen und träumt nur noch von Polinnen, deren Akzent ihn regelrecht anmacht. Er wird am Abend eine Frau erstmals treffen, mit der er über ein Dating-Portal in Kontakt gekommen ist.

Seit einer Woche ist «Anna» bereits im Schlachthof, um als verantwortliche Ingenieurin für ihre Firma dort eine neue Software zu implementieren, wodurch bei der Qualitätskontrolle die mühsame manuelle Arbeit ersetzen werden soll. Dass dabei letztendlich dann natürlich sehr viele Arbeitsplätze wegrationalisiert werden, ist ein von den Arbeiterinnen gefürchteter, unheilvoller, aber wohl nicht vermeidbarer «Nebeneffekt». Der von Abschiebung bedrohte, sehbehinderte Afghane «Nassim» wiederum hofft, durch eine Übersetzung seiner Gedichte ins Deutsche die Einwanderungs-Behörde dazu bringen zu können, seinen Asylantrag zu genehmigen. Er hat ein Verhältnis mit «Justyna», seiner zwanzig Jahre älteren Nachbarin, die in Schwarzarbeit Sonias ehemalige Schwiegermutter betreut und das Geld nach Polen schickt, damit ihre Tochter dort studieren kann. Sie hat an diesem Abend erstmals ein Date mit dem Abteilungsleiter Merkhausen aus dem Schlachthof, mit dem sie bisher nur per Dating-Portal Kontakt hatte. Sie erhofft sich, endlich einen akzeptablen Mann zu finden, der sie aus ihrer finanziellen Misere befreit.

Es geht um psychischen Stress in diesem narrativ extrem verschachtelten, düsteren Roman, um Grenz-Erfahrungen, ökonomische Zwänge, schreiende Ungerechtigkeit, um Flucht, Vertreibung, und Migration, aber auch um Selbstbewusstsein, Geschlechterrollen, Karrierestrebe oder bigotte Religiosität. Und es geht um die am Ende des Zweiten Weltkriegs ausgelösten Verwerfungen, deren Nachwirkungen auch heute noch zu spüren sind in der Stadt Lasseren. Die Verknüpfungen der Figuren sind komplex und werden erst nach und nach verständlicher. Der Roman endet dann schließlich in einer ziemlich skurrilen, surrealistischen Szene, bei der alle Handlungsfäden zusammenlaufen. Alle Protagonisten treten dann noch einmal auf, aber gleichzeitig auch abertausende von Hennen, – womit denn auch der Buchtitel verständlicher wird. Dabei bleibt dann allerdings alles offen, der Plot erweist sich somit letztendlich als Sammlung aneinander gereihter Moment-Aufnahmen menschlicher Schicksale, von denen jedes solitär für sich steht.

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

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