In seinem autobiographischen Werk »Gutgeschriebene Verluste« thematisiert Bernd Cailloux Einsamkeit als Gruppenerlebnis. Er beginnt und endet seine als Roman gewandeten Memoiren in einem Schöneberger Szene-Café, das er als »Treffpunkt der Übriggebliebenen« charakterisiert. Dort trifft der Erzähler auf ein werweißwie zusammengewürfeltes kontaktscheu-cooles Publikum, allesamt Virtuosen der Distanz. Wie einer anderen Rezension entnommen werden kann, handelt es sich dabei konkret um »Literatur-Professoren, die in der FAZ schreiben, Herausgeber von intellektuellen Zeitschriften, Maler, Suhrkamp-AutorInnen, taz-Redakteure, sonstige Künstler und eine Frau mit 2/5 Stelle bei einem Rundfunksender«.
Cailloux kommt in den gern als »wild« apostrophierten 68ern aus Hamburg ins damalige Westberlin. Der Hippie-Businessmann hält sich mit Beiträgen fürs Radio über Wasser und schreibt derweil an »freien« Texten; er fürchtet, die bezahlte Schreiberei zerstöre den literarischen Stil. Das in den Nachkriegswirren kompliziert aufgewachsene Scheidungskind, ein vom Zeitgeist geleiteter Twen(tysomething), kann sich »unter Einfluss des rebellischen Achtundsechzigergezerres an der Institution Famlie zur biologisch pünktlichen Gründung einer eigenen Familie nicht durchringen.«
Er bleibt – vielleicht unterstützt von einer kurzen Karriere als Drogenabhängiger – »ein Schwellenwesen, weder hier noch da wirklich drin und obendrein zu schwach, zu ängstlich …« Entsprechend farblos bleibt sein Auftritt bei einer Diskussionsveranstaltung, bei der er gemeinsam mit ehemaligen RAF-Mitgliedern und einstigen SDS-Führer zum Thema »68« sprechen soll und die einen zentralen Platz im Buch einnimmt. Letztlich landet er doch wieder in dem Schöneberger Café, um seine Wunden zu lecken und sein vermeintliches Leidkapital in einen weiteren Roman zu verwandeln.
Es wundert kaum, dass im Ergebnis ein melancholisch trübsinniges Lebensbild gezeichnet wird, das sich weitgehend negativ liest. Handelt das Buch also von jenen Verlusten, die dem Autor in menschlicher, charakterlicher und auch partnerschaftlicher Hinsicht widerfahren (es mäandert eine farblose »Ella« durch das Werk, die ihn wohl aus Gründen wieder verlässt), dann können sie am Ende kaum auf der Habenseite der Lebensbilanz auftauchen. Diese Verluste müssten, anders als der Titel behauptet, nicht »gutgeschrieben«, sie müssten abgeschrieben werden.
Ist dieser »Roman mémoire« gut geschrieben? Immerhin ist das Werk bei Suhrkamp erschienen; die Veröffentlichung wurde vom Deutschen Literaturfonds sowie dem Land Berlin finanziell gefördert, und das weckt hohe Erwartungen. Der Leser kämpft sich deshalb tapfer durch einen Dschungel von Phrasen »… ein durchaus verachtungswürdiges Geschäft, ein Anschlussgeschäft sozusagen, in dem die feinsten Formulierungen des einst rauhesten Geschehens, seine im nachhinein hartethische Verkunstung so wie der medienschnittige Zitatenprunk gehandelt wurden …«
Im Ergebnis kommt fast Mitleid mit dem Autor auf, der mit sich und den Zeitläufen hadert. Dabei hat der Rezensent die besten Voraussetzungen, dieses Buch anzunehmen: Er ist nur wenige Jahre jünger als der Autor, er ist ebenso wie er in den 68ern nach West-Berlin gezogen, er kennt das Milieu, über das Cailloux schreibt, er hat ähnliche Künstlerkandidaten, Lebenshungrige, Zauderer und Zweifler erlebt. Beide haben ähnliche berufliche Hintergründe. Mehr noch: Ein- und dieselbe Krankheit bedrohte beider Leben, sie haben sogar den gleichen Genom-Typ, durchliefen die gleichen grässlichen Therapien und Medikamentationen. Bessere Voraussetzungen kann ein Rezensent nicht haben!
Dennoch …
… hat all das nur gereicht, sich durch die 271 Buchseiten der Veteranen-Lebenssicht von Bernd Cailloux zu schleppen. Für eine Empfehlung aus vollem Herzen reicht es leider nicht.