Ein Haus in den Voralpen. Tief im Wald, in der Nähe ein Fluss, Idylle pur. Marian lebt allein in diesem Haus. Im Garten baut sie Gemüse an. Davon und von dem, was sie sonst noch so findet, ernährt sie sich.
Ab und an angelt sie ein Festmahl, dazu gibt es selbstgebackenes Brot, zum Dessert einen selbstgebackenen Apfelkuchen. Wärme spendet ein Holzofen, befeuert aus dem sorgsam gestapelten Holz hinter dem Haus. Ihr Tagesablauf wird nur durch die Grundbedürfnisse vorgegeben: Essen, schlafen, es warm haben. Keine Termine drängen sie, Telefonate führt sie nur äußerst selten, einen Email-Account besitzt sie nicht mehr. Ihre Kleidung näht sie aus alten Stoffresten, das kann sie besonders gut, das hat sie gelernt.
Denn – das ist die Kehrseite der Medaille: Kleider entwerfen, das war ihr Beruf, ihre Berufung. Marian ist nicht freiwillig dort in diesem Haus im Wald. Ihre primitive Autarkie ist unfreiwillig, sie hat alles verloren. Noch vor wenigen Monaten lebte sie als gefeierte Designerin in der Großstadt und schneiderte den Damen der Gesellschaft edle Roben auf den Leib. Sie residierte in einer hochherrschaftlichen Wohnung, ernährte sich biologisch wertvoll und hätte niemals diesen schnöden Filterkaffee getrunken, der sie heute so beglückt.
Doch dann kam die Finanzkrise und fatalerweise ignorierte sie die ersten warnenden Anzeichen. Die Vorstellung, irgendwelche Lehman-Brüder, von denen sie nie gehört hatte, könnten sie und ihr Geschäft bedrohen, empfand sie einfach nur als absurd. In einer fatalen Mischung aus Größenwahn und hormonvernebeltem Tun ob des neuen attraktiven Lovers eröffnete sie einen Flagship-Store, dessen Miete sie bald nicht mehr bezahlen konnte und segelte unaufhaltsam in einen spektakulären Bankrott.
Ihre Schulden sind so hoch, dass ein Leben alleine niemals reichen würde, um sie abzuzahlen, auch wenn sie sich zunächst als Näherin am Stadtrand die Finger blutig näht. Dann lieber der totale Rückzug in den Wald, in ein Haus, das ihr niemand nehmen kann, weil es ihr gar nicht mehr gehört. Es ist das Erbe einer Tante und in einem Moment der Klarsicht hat sie es auf ihre Tochter überschrieben. Die Tochter, die sie kaum kennt, weil sie das Kind der Karriere wegen beim Vater gelassen hat.
Geschickt spielt die österreichische Autorin Doris Knecht in ihrem neuen Roman „Wald“ mit zwei großen Themen, die derzeit die Mittelschicht umtreiben: die Sehnsucht nach dem sogenannten einfachen, selbstbestimmten Leben auf dem Lande und die Angst vor dem Absturz aus der bürgerlichen Welt, der angesichts immer neuer Unsicherheiten stets nur einen Schritt entfernt zu sein scheint.
Man nähert sich dieser Erzählung mit schon fast voyeuristischer Neugier. Nicht, dass man sich am Unglück von Marian (die eigentlich Marianne heisst, die vermeintlich schicke Abkürzung bewahrt sie als letzte Reminiszenz an ihr altes Leben) weidet. Nein, es ist jedem klar, dass es passieren kann, jederzeit und überall. Auch Marian hat keine gravierenden Fehler gemacht, „manchmal übernehmen eben die Umstände das Leben“. Als Leser will man wissen, wie es sein wird, wie es sein kann, wenn die Existenz zerbricht und man auf sich selbst zurückgeworfen wird. Gibt es dann wirklich eine Chance für das Aussteigerleben, von dem so mancher heimlich träumt?
Doris Knecht, deren erster hochgelobter Roman „Gruber geht“ bereits verfilmt wurde, ist für ihre messerscharfen Analysen von Lebenssituationen bekannt. Eindeutige Antworten gibt sie hingegen nie, auch in „Wald“ nicht, Schlußfolgerungen überläßt sie dem Leser. Bei ihr gibt es kein „richtig“ oder “ falsch“, weder verherrlicht sie das Aussteigerleben, noch verdammt sie das snobistische Dasein in der Stadt. Auch ihre Figuren haben Brüche und Widersprüche. Ihre Marian zeichnet sie distanziert, geradezu kühl. Dass man sich ihr als Leser trotzdem nahe fühlt, liegt an der Projektion, die man unwillkürlich vornimmt. Ein Stückchen Marian steckt in jedem von uns und wenn nicht, kennt doch jeder eine Marian in seinem Umfeld.
Doris Knechts Marian bleibt allen Widrigkeiten und gelegentlichen Anfällen von Resignation zum Trotz eine Kämpferin. Sie entdeckt unbekannte Fertigkeiten und Talente an sich. Dinge, die sie früher unbekümmert „outsourcte“, gehen ihr nun leicht von der Hand. Ein Opfer ist sie nicht, war sie nicht und will sie auch jetzt nicht sein, wo sie zu allem Überfluss auch noch von der alteingessenen eingeschworenen Dorfgemeinschaft angefeindet wird.
Allerdings gibt es da noch Franz, den heimlichen Herrscher über das Land, auf dem sie lebt. Franz, der Großgrundbesitzer, der sich um sie und ihre Holzvorräte kümmert, ihr kleine dringend benötigte Geschenke macht und sich seine vorgeblich nächstenliebende christliche Fürsorge in der einzigen Währung bezahlen lässt, die Marian noch geblieben ist. Diese Beziehung läßt sich nicht so einfach in ihr neugezimmertes Weltbild einordnen. Wird sie dadurch wirklich zur „Hur“, wie ihr ein Unbekannter auf die Haustür geschmiert hat? Oder hat nicht jede Beziehung letzten Endes ihre eigene Ökonomie?
Doris Knecht erzählt klar, uneitel und ohne jede Sentimentalität. Obwohl man der Autorin eine gewisse Affinität zu Schachtelsätzen nicht absprechen kann, erzählt sie den Roman in hohem, forderndem Tempo, die Härte vieler Sätze lediglich durch österreichische Klangfärbung abgemildert. Und ihr Roman endet mit einem Lichtblick.
Erstveröffentlichung dieser Rezension in den Revierpassagen am 13.07.2015