Philosophia oder Philo Sophia: Die Handlung des vorliegenden Romans spielt in Konstantinopel in den Jahren 1920/21 als der Verfasser selbst dort lebte. Vom russischen Bürgerkrieg vertriebene Flüchtlinge überschwemmten die Stadt und es wurde sogar ein weiteres Vordringen der Roten Armee befürchtet. Aber auch Vertreter Aserbaidschans, Georgiens und die armenische Regierung tagten in jenen Tagen in Konstaninopel, ganz zu schweigen von den Griechen. Iliazd ist im Roman nicht nur der außenstehende, allwissende Erzähler, der mehr weiß als die Person Iliazd selbst, sondern auch der Protagonist Iliazd, der in die Wirren dieser Zeit eingebettet wird. Die „Verdoppelung gebrochener Persönlichkeiten“ ist ein Stilmittel der Erzählung, denn auch Alemdar wird plötzlich zu Sinejchina, dem Blauerblauen und man weiß bis zuletzt nicht, ob er ein reaktionärer Würdenträger des Istanbuler Islams oder ein Agent des Leninismus ist, wie auch Régis Gayraud im Nachwort schreibt. Den jahrhundertalten Traum, Großrussland wieder aufleben zu lassen, gab es übrigens tatsächlich, die Stadt sollte sogar in „Zargrad“ umbenannt werden, sobald der neue Kaiser wieder das Kreuz auf der Hagia Sophia errichtet und das christliche Byzanz wieder aufgebaut hätte.
Konstantinopel 1921: Kak s rusju oder kak srusju?
Tatsächlich hatte nämlich nicht nur England als Schutzmacht Interesse an Konstantinopel, sondern auch die Sowjetunion und in der Person Suwarows des Romans auch die USA: „Das Bild von Suwarow entsprach so genau den orthodoxen, einstudierten Formeln über die Persönlichkeit von am Krieg verdiendenen und deshalb in den Krieg treibenden Geschäftsleuten, dass man sich keine Gedanken über einen etwaigen Denkfehler machen musste.“ Aber Suwarow war Iliazd von Anfang an suspekt, weil er ihn mit Almosen kaufen wollte. Dabei wollte er ihn sich nur für seine schmutzigen Pläne nützlich und gefügsam machen. Doch Iliazd durchschaut bald, dass das angezettelte Komplott zur Eroberung der Hagia Sophia allein dazu dient, die russischen Flüchtlinge noch mehr in ihr unverschuldetes Elend zu stoßen. Auch wenn Iliazd seine Heimat eigentlich genauso hasst wie die Weisheit, will er doch helfen und man darf gespannt sein, was dem spitzfindigen Philosophen einfällt, um die Verschwörung der Kriegstreiber zu verhindern. „Philosophia“ ist nämlich nicht nur ein Roman, der die Philosophie und das damit verbundene Philosophieren liebt, sondern drückt auch seine Liebe zur Sophia aus, also zur Hagia Sophie, der größten christlichen Kirche nach dem Petersdom in Rom. Iliazd bedient sich dabei einer oft deftigen Sprache, etwa wenn er den Zuammenhang zwischen Onanie und Orthodoxie oder semantische Unterschiede zwischen geschriebenem und gesprochenem Russisch zum Besten gibt.
Iliazd, der futuristische Georgier bei Chanel
Ilja Sdanetwisch alias Iliazd alias Eli Eganbjuri lebte zwischen Oktober 1920 und November 1921 in Konstantinopel. In seiner Geburtsstadt Tbilisi/Georgien hatte er 1917 die Gruppe „41°“ gegründet, die sich lose mit den Dadaisten in Zürich oder den Futuristen vergleichen lässt. Sein Bruder Kirill war kubistisch-futuristischer Maler, der in Paris auch mit Picasso verkehrte, was auch für Iliazd Bedeutung hatte. Iliazd organisert ausschweifende Bälle inm Bohème-Viertel Montparnasse und entwirft Stoffdesigns für Chanel, die nicht unähnlich dem Grundriss der Hagia Sophia sind, denn diese hatte er selbst bei seinem Aufenthalt in Konstatninopel öfter gezeichnet. Gemeinsam mit Picasso gestaltete er aber auch bibliophile Bände, die von Matisse, Chagall, Max Ernst, Giacometti oder Miro gestaltet wurden. Von den 341 Seiten des Manuskripts fehlen etwa zwanzig Seiten aus dem Mittelteil und auch das 15. Kapitel, das aber auch einfach auf eine falsche Durchnummerierung durch den Autor selbst zurückzuführen sein könnte. Der Roman wurde nämlich auf die Rückseiten der großen grauen Kartons mit Schnittmustern für Chanelkleider geschrieben.
Iliazd aka Ilja Sdanetwisch
Philosophia
Aus dem Russischen von Regine Kühn
Mit einem Nachwort von Régis Gayraud und Anmerkungen von Sergej Kudracev, Régis Gayraud und Regine Kühn
Matthes & Seitz Berlin
ISBN: 978-3-95757-475-6