Wenn es eine Autorin mit zwei ihrer vier Romane auf die Short List des Internationalen Booker Price schafft, lässt das aufhorchen. Vielleicht geschah diese Huldigung auch ein Stück weit deshalb, weil Fernanda Melchor Mut hat. Obwohl sie an manchen Schauplätzen ihrer Romanhandlungen aus Angst um ihr Leben nicht recherchieren konnte, schreibt sie dennoch über all die brutalen Drogenkriege, die allgegenwärtigen Misshandlungen von Frauen und die deprimierende Ohnmacht gegenüber den endlosen Missständen in ihrer Heimat Mexiko. So tut sie es auch in „Paradais“.
Der Titel ist bereits die pure Ironie. Das Leben in dem kleinen mexikanischen Städtchen ist alles andere als paradiesisch. Jeder kämpft in einer Atmosphäre der Angst um seine nackte Existenz. Ganz anders auf der anderen Seite des Flusses in der Paradais-Wohnanlage. Dort haben sich geschützt von Mauern und Wachpersonal die Schönen und Reichen in ihren Villas verschanzt. Die Protagonisten des Romans sind gleichzeitig die Repräsentanten dieser gesellschaftlichen Ambivalenz. Da ist der sechszehnjährige Polo, der aus armen Verhältnissen stammt, nachts auf einer Bastmatte in der Küche seines Elternhauses schläft und tagsüber als Gärtner für die Reichen arbeitet. Sein Traum ist es, Bandenmitglied zu werden, sein Trost ist der Alkohol. Sein gleich junger Kumpane wider Willen ist Franco, der mit seinen reichen Großeltern im Paradais-Resort lebt, jedoch wegen seiner überdimensionalen Fettsucht und einer verunstaltenden Akne völlig isoliert ist. Sein Trost sind der Konsum von Porno-Filmen zu jeder Tages- und Nachtzeit und die Beobachtung seiner schönen Nachbarin, mit der er in seiner von der Pornowelt geprägten Vorstellung seinen Phantasien nachgeht.
Zufällig finden die beiden Jungen am Fluss zusammen. Der mittellose Polo bedient sich an den von Franco finanzierten Alkoholika, muss sich aber im Gegenzug Abend für Abend dessen Verbal-Pornographie anhören. Eine auf den ersten Blick vielleicht nicht ganz untypische und tendenziell eher gutartige Koexistenz, bis eines Tages…
In der glaubhaft realen Geschichte ist es nicht der erhobene Zeigefinger, der die Autorin ausmacht, sie ist nie arrogant oder besserwisserisch, was die sozialen Bedingungen und ihre Kausalitäten betrifft. Ihr Roman ist eher ein literarischer Hilfeschrei, mit dem Fernanda Melchor sehr eindrücklich auf die alltägliche Realität ihres Landes aufmerksam macht. Und es ist ihr atmosphärisch genau dazu passender Schreibstil. Träge wie der die Welten trennende, breite, dunkle Fluss strömt auch die Handlung über weite Strecken dahin. Trostlos, perspektivenlos, aber zu keinem Zeitpunkt langatmig oder gar langweilig. Durch schier endlose Bandwurmsätze aggraviert Melchor diese Stimmung, jedoch nie im hypotaktischen Stil eines Thomas Mann hochkompliziert verschachtelt, sondern durchaus verständlich, zielführend, deskriptiv dahinschwebend, Bilder erzeugend, den Leser mitnehmend. Ihre Sprache ist schmutzig, schonungslos vulgär, aber dann auch wieder romantisch-ästhetisch und immer voller situationsadäquater Empathie.
Es erfüllt mich immer mit Genugtuung, wenn ein Buch nicht wirklich kategorisiert werden kann, da dies meines Erachtens für die Vielseitigkeit, den Facettenreichtum und die innovative Qualität einer Autorin oder eines Autors spricht. In welches Genre also presst man Paradais, wenn es denn unbedingt sein muss? Zeitgenössischer, gesellschaftskritischer Roman? Sicher. Kriminalroman? Sicher auch, aber eher mit dem Blick auf die Evolution einer Straftat. Also eine wunderbare Mischung, phasenweise mit einem Schuss ins Lyrische. Und ein Finale furioso, das jedem Hollywood-Thriller Ehre machen würde.
Messages to take home? Sich zurückzulehnen und zu denken, dass „so etwas“ nur in Mittelamerika passieren kann, wäre ein Trugschluss. Unregulierter Zugriff Jugendlicher und Kinder auf Pornografie und Gewalt als einzige Lösung in auswegslosen Situationen, kombiniert mit Trost- und Perspektivenlosigkeit, sind globale Phänomene. Auch neben uns. Polo meint gegen Ende des Romans, dass sein einziges Ziel sei, endlich frei zu sein, auf welche Art auch immer. Aber wie schon Janis Joplin einer ganzen Generation auf den Weg gab: „Freedom is just another word, for nothing left to loose“.